ARCHIV FOR LITTERATUR.. DR. FRANZ SCHNORR VON CAROLSFELD ARCHIV FÜR LITERATURGESCHICHTE HKRAUSGEGKBKN VON Da. FRANZ SCHNORR von CAROLSFELD, K. BIBMOTHXCAB IM DHBtDKK. XIII. Band. LEIPZIG, DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER. 1885. Digitized by Google I I t I I I Digitized by Google Inhaltsverzeichnis*. Seite Die Vertreibung deB Johannes Rhagins Aesticampianus aus Leipzig. Nach actenmasBigcn Quellen. Von Gustav Bauch. 1 — 33 Archivalisehe Nachrichten über die Theaterzu3tande der schwä- bischen Reichsstädte im UV. Jahrhundert. I Von Kahi, Tratttmakn 34 — 71 Zur Zeitbestimmung Goethischer Schriften. Von G. von Lokpkk 72—81 Die Zukunft. Ein bisher ungedrocktes Gedicht des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg aus den Jahren 1779—1782. Nach der einzigen bisher bekannt gewordenen Handschrift herausgegeben von Otto Habtwio. 1 82 — 115 „Spengler, Wolfgang Schmeltzl". Angezeigt von Hugo Holstein 1 16— 120 „Hai lere Gedichte hggb. von L. Hinsel" und „Halters Tage- bücher hggb. von demselben". Augezeigt, von Daniki, ■lunHY 120—141 lieber ein neugefundenea mittelhochdeutsches Handschriften- bruchstuck der Freiberger GyinnaHialbibliothek und über das Gedicht von der vrouwen turnei. Von Ediah» Hky- IlK.NRKIt.'H Hans Kolb, ein unbekannter Dichter des 16. Jahrhunderts. Von 1 Ii) 176- 187 Ungedruckte Briefe Wielands an Isaak Iselin. Mitgetheilt von Jakuh Kei.i.kk 188 210 Zwei Wieland -Briefe. Von Jon. Cbügbr 220— -228 Wielands, Eschenburgs und Schlegels Shakespeare- Ueber- setzungen. Von Ükknh.uu» Sk.ifkf.kt 229- -232 Faust- Studien. Von Fkikdrkii Mkykh vox Wai.uk« k. ... 233— 2.r)0 Die Zukunft. Ein bisher ungedrucktes Gedicht d>-a Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg aus den Jahren 1779—1782. Nach der einzigen bisher bekannt gewordenen Handschrift herausgegeben von Otto IIakiwh;. II 201-272 „Franklin s Rules for a Club eatablished in Philadelphia, über- tragen von Herder. Veröffentlicht von B. Suphan". An- gezeigt von Daniki. Jacohv 273 277 IV Inhaltsverzeichnis;.. Anzeigen aus der Goethe - Litteratur. Von Wqldemab Freiherrn Von Bn riniMAvv 278— — iä. L iJ 290 Minor, die Schicksals -Tragödie in ihren Hauptvertretern Antrpy.Pitft von Rnrn.1» t HnvuPMfjtw • 290 — 294 „Hettner, Kleine Schriften ik. Angezeigt von Ukrnhard Skukkert 294— -z96 Melchior Acontius. Von b&Asz Schnorh vom Cahoi.skki.d . . . r% r\ rt 297— -314 hnghsche komoedianten in Ulm (1594 — 1657). Von Kakl Ikaut- 315— -324 52 fcpruche von Lavatcr. Mitgetheilt von Aicjist Sauer . . 325— -328 329 336 lieber Goethes Klaggesang von der edlen Frauen des Asan n n ii 33b— -3;>0 hin Brief von Mutter Voss" an Walburga von liolzing. Mit- 357 Ungedruckte Dichtungen Holderlins. Mitgetheilt von August OAULK 358- 387 „Alex. v. Weilen, Shakespeares Vorspiel zu der Widerspen- stigen Zähmung". Angezeigt von Minor 388- 389 Anzeigen aus der Goethe-Litteratur. Von Woldemab Freiherrn 390- 401 „H. Laube, Grill parzors Lebensgeachichte". Angezeigt von 401- 402 MiRPftllftn 1. Die Schrödersche Gesellschaft deutscher Schauspieler in ihren ersten Anfängen. Von Fritz Wimtbb. 2. Zn A. Sauers Ausgabe von Ewald von Kleists Werken. Von Hermann Ahthur Likb. 3. Ein Stflck des Messias in erster Fassung. Von Johannis Crüokb. 4. Wieland und der Licentiat Albrecht Wittenberg in Hamburg. Von Fbitz Winteb. 5. Zur Biographie des englischen Komoedianten Thomas Sackville. Von Kaki. Thai tmans. (>. Italienisc he Juden als Schauspieler am Hofe zu Mantua (1579 — 1687), Auf- führungen derüelosi in Venedig (1579). Von demselben. 7. Drei unbekannte Zeilen Leasings. Von Hekmawn Abthub Likb. 8. Ein Fragment zu Schillers „Demetrius ". Von demselben. 9. SehilW in PanlinKfille. Von Bkhmiaku Anemüt.leb. 10. Wilhelm von Humboldt in Schwarzburg. Von demselben. 11. Das Lied vom Igel, als Spott auf die Leinweber (1513). Von Theodok Distal. 12. Zu Matthiaa Claudius 403—428 Die dramatischen Dichtungen des Nördlinger Schulmeisters Johann Zihler. Von Kaki. Tkautmanx 429 — 433 Aus dem Kreise des Schelmufsky. Von Whiuxm (,'kkizksaih 434 — 443 Inhalteverzeichnies. Y » Der Einfluss des Tartuffe auf die Pietisterey der Frau Gott- sched und deren Vorbild. Von (it;.m<; Ki,un<;kh .... 444 447 Briefe Johann Joachim Ewald«. Mitgetbeilt von H. A. Lieb nnd R. M. Webker. 1 44emar Freiherrn vox Bieuehmax* 517- 527 „De la Litterature allemande von Friedrich dem Grossen herausgeg. von L. deiger". Angez. von Pn. Kqiii.man.n . 528 -531 Anzeigen aus der Goethe- Li tteratur. Von Woldkhah Freiherrn VON BlKDEKMANN 532" 544 Schriften betr. J. M. K. Lenz. Angezeigt von Minok .... 544 -562 Ad. iStern, Hermann Hettner4'. Angez. von B. Ski kkkhi . . 552— 553 Zu Längin, Ans J. P. Hebels ungedruckten Papieren. Von Ernst Kki.i.eb 563—563 M i sc eilen. 1. Zn Schillers „Demetrius". Von Heinrich Dintzeb. 2. Eine unbekannte Kritik Kr. Schlegels. Von Leonhard Likh. 3. Zu Kleists Friedrich von Homburg. Von M. Baltzeh 563—666 Verbesserungen nnd Nachträge. . . • 567- -56H Register 509 — 572 I Digitized by Google Die Vertreibung des Johannes Rhagius Aesticampianus ans Leipzig. Nach actenmässigen Quellen. Von Gustav Bauch. Man hat sich daran gewöhnt, wenn man der Kämpfe des Humanismus gegen die Scholastik gedenkt, als Bollwerk der Traditionen des Mittelalters Cöln hinzustellen, und diese Vor- stellung hat sich dermassen festgesetzt, dass selbst einzelne Züge des Kampfes zwischen der alten und neuen Lehre trotz localer Färbung und deutlicher Datierung von anderen Ge- bieten auf Cöln übertragen werden. So hat Mohnike1) den Schauplatz der Ereignisse, welche in den Dunkelmännerbriefen Magister Hipp dem Ürtvinus Gratius berichtet2), die Vertrei- bung des Johannes Rhagius Aesticampianus aus Leipzig, nach Cöln verlegt, ohne die handgreiflichen Beziehungen auf Leipzig zu bemerken, ein Versehen, das nur darin seine Erklärung hat, dass Rhagius auch aus Cöln durch die Machinationen der Anhänger des alten verdrangt worden ist. Die Vertreibung dieses Mannes aus Leipzig, welche in der ganzen humanistischen Welt Aufsehen und Theilnahme erregte, hat, obgleich wir für sie immer noch Material genug besitzen, um wenigstens einige Hauptfäden des Gewebes klarlegen zu können, noch niemals eine sachgemässe Darstellung gefunden. Wir wollen daher im folgenden versuchen den Vorgang, welcher für die Geschichte des deutschen Humanismus nicht ohne Be- deutung ist, etwas näher zu beleuchten. 1) Ulrich Huttens Klagen, Greitswald 1816, 448. 2) E. Boecking, Ulrichi Hutteni equ. germ. opp. supplem. I, 20. Archiv r. Litt.-Gisoit. XIII. 1 2 Bauch, die Vertreibung des Aesticampianua aus Leipzig. Johannes Rbagius war, nachdem er von Krakau aus eine Studienreise nach Italien unternommen, 1501 wieder nach Deutschland zurückgekehrt und hatte vier Jahre an der Mainzer Akademie gelehrt, als sein Landesherr Joachim I. von Bran- denburg 1506 die Universität zu Frankfurt a. d. Oder ins Leben rief.1) Rhagius wurde, vermuthlich auf sein betreiben, in den Lehrkörper der neuen Hochschule aufgenommen, und seine Lehrthätigkeit in Frankfurt ist in mancher Beziehung ein Vor- spiel für seine Wirksamkeit und seine Schicksale in Leipzig gewesen, sodass wir an ihr nicht vorübergehen dürfen, ohne einen kurzen Blick auf sie zu verwenden. . Am 25. April 1506 begab sich Joachim T. nach Frank- furt zur Einweihung der neuen Gründung2); ihn begleitete sein Bruder Albrecht und der gelehrte Abt von Spanheim Johann Trithemius3), dessen Hand wol an dem Werke mitgeschaffen hatte. Die Vorfeier des Festes bildete am nächsten Tage, einem Sonntage, ein Gottesdienst in der Marienkirche, der für das kurfürstliche Haus dadurch von Bedeutung wurde, dass der Kanzler der Universität Dietrich von Bülow, Bischof von Lebus, als ersten Festact während der heiligen Handlung die Priesterweihe Albrechts vollzog. Der Gustos der Lebuser Kirche und Neffe Dietrichs Joachim von Bülow beglück- wünschte den erst fünfzehnjährigen Albrecht in einer Prunk- rede. Dann erst eilte man zu Pferde aus der Stadt, um in einem feierlichen Einzüge die Universität in die Stadt einzu- 1) Vergl. über diesen Abschnitt auB dem Leben des Bhagius meinen Aufsatz in diesem Archiv. XII, 321 ff. 2) Publij. Vigilantij. Bacillarij. Axungie poete et oratoris. ad Illustrissimum prineipem Joachimura. Sacri Komani imperij Archicamera- rium et Electorem Marchionem Brandemburgensem. Stettinensem. Pome- ranie. Cassubie Schlauornmque ducem. Burggrauiutn Nurembergensem ac Rugie principein. Franckphordiane vrbis ad Oderam. et Gymnasij litterarij introduetionis. Ceremoniarumquc obaeruatarum descriptio. Exa- ratum in officina honorandi viri Conradi Baumgardt Rottenburgij iu vrbe Francpbordiana ad Oderam. Anno ab Incarnatiooe Saluatoris nostri. M. D. vij. Idibus Februarijs. 4°. Das einzige Exemplar im Besitz der Kgl. u. Univ.-Bibl. in Breslau. 3) Chronicon Trithemii Sponheimense ad annum 1506. J. Trithemii opp. bist., Frankfurt 1601, fol. 1, 426. Digitized by Google ■ Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 3 führen. Den Zug eröffneten die Franciscaner mit ihren Fahnen, ihnen folgten, an ihren Insignien erkennbar, die sieben freien Künste, wie Marcianus Capella sie geschildert, zwischen den- selben wie die Herrscherin mit ernstem Gesichte die Theo- logie. Vor den Fürsten giengen die beiden poetae et rhetores publici, der Beschreiber des Festes und erste ordentliche Pro- fessor der Universität Publius Vigilantius Bacillarius Axungia und Johannes Rhagius Aesticampianus, beide das Haupt mit einem Epheukranze geschmückt; zwischen Joachim und Albrecht schritt unter Vortritt der Pedelle mit silbernen und vergoldeten Sceptern der erste Rector Conrad Wimpina einher. Wir wollen den Festzug, welcher sich nach der Marienkirche bewegte, verlassen, um uns das heut so überaus seltene Buch, die Descriptio gymnasii Htterarii intro- ductionis caeremoniarumque observatarum, für unsere Zwecke etwas näher anzusehen. Aus ihr allein wissen wir, dass Rhagius damals schon in Frankfurt war; die Matrikel der Universität erwähnt seiner überhaupt nicht. Die beiden Poeten waren nicht nur Collegen, sondern sie waren auch mit einander be- freundet, das sagt Vigilantius ausdrücklich, und es geht auch aus den Beigaben der Descriptio hervor. Rhagius hat dem Buche ein empfehlendes Epigramm vorausgeschickt, und zwei junge Männer, die sich als des Rhagius Schüler bezeichnen, haben dem Werke poetische Beisteuern angefügt, Ulrich von Hutten und Heinrich Brumann aus Mainz. Auch der dritte angehende Poet, der mit jenen zugleich Verse gespendet hat, der schon genannte Joachim von Bülow, gehörte zur Pieri- schen Herde des Rhagius. Ueber die Lehrthätigkeit Aesticampians in Frankfurt fliessen unsere Nachrichten sehr sparsam, soweit wir nicht aus seinen Publicationen darüber unterrichtet werden. Er selbst erzählt, dass er im Jahre 1506 mit seinen Schülern die Oeco- nomica1) des Aristoteles behandelt habe. Dies berichtet er in der Vorrede der von ihm 1507 herausgegebenen Cebes -Tafel, 1) In der Vorrede zu der Tacitus- Aufgabe von 1509 erwähnt Rha- gius, dase er (vermuthlich 1607/8) die Oeconomica herausgegeben habe. Trotz aller Mühe ist es mir nicht möglich gewesen, dieses Druckes hab- haft zu werden. 1* Digitized by Google I 4 Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aua Leipzig. die er zu Vorlesungszwecken drucken Hess.1) Dies im 15. und 16. Jahrhunderte sehr beliebte und vielfach gedruckte Buch hat Rhagius einem seiner Privatschüler, dem meissnischen Edelmanne Christoph Ziegler,8) zugeeignet. Der Ton der Vorrede ist der eines väterlichen freundlichernsten Lehrers, wie ein solcher Rhagius auch war. Dem jungen adelichen hält er, ohne dass er zum Schmeichler wird, seinen Urgross- vater Michael und seinen Grossvater Balthasar, den Rath der Herzöge Ernst und Albert von Sachsen, und seinen Oheim Caspar (welcher den Neffen nach Frankfurt, zu Rhagius ge- schickt hatte), der sich im Kampfe gegen die aufständischen Friesen3) und als Rath des Herzogs Georg bewährt, als Muster vor und erkennt aufmunternd seine Zuneigung zu dem Lehrer, seinen unverdrossenen Fleiss und seine Leistungen in der Rede, trotzdem er ein wenig mit der Zunge anstosse, und im Brief- stile, seine stattliche und doch liebenswürdig bescheidene Er- scheinung an. Wenn man die väterliche Stellung zu seinen Schülern beachtet, so wird man verstehen, wie er gerade Ein- fluss auf das gewiss nicht leicht zu behandelnde Naturell eines Ulrich von Hutten gewinnen konnte. Da Rhagius davon spricht, dass er mit Ziegler Tag und Nacht die Werke Sallusts, Ver- gils, Ciceros und anderer Classiker studiere, so hat dieser jedes- falls in seinem Hause gelebt, und wirklich hören wir in der Dedication der Grammatik des Marcianus Capella4) an seine Neffen Georg und Johannes, dass sie bei ihm mit edlen und beredten Jünglingen in einem Hause, an demselben Tische und in gemeinsamem Schlafgemache leben. Wer aber Von seinen Schülern ausser Ziegler zu diesen Kostgängern gehörte, 1) Tabula Cebetis philosophi socratici cum Johannis Aesticampiani epistola. Impressa Francpbordio per honestos viros Nicolaum Lamperter et Balthasar Murrer. Anno. M. D. Vij. 4". Breslau, Kgl. u. Univ.-Bibl. 2) Immatriculiert 1606 als Cristofferus Zcigler de gawernitz. Gauer- nitz, Kr. Dresden. 3) Böttiger-Flathe, Geschichte des Kurstaates und Königreiches Sachsen, Gotha 1867, I, 503. 4) Grammatica Martiani foelicis Capelle cum Johannis Rhngij Aesti- campiani Rhetoris et poete prefatione. Impressa Fraocphordio per ho- nestos viros Nicolaum Lamperter et Balthasar Murrer. Anno dni. M 1». Vij. -r. Breslau, Kgl. u. Univ.-Bibl. Digitized by Google Hauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 5 ist nicht leicht anzugeben. Am wahrscheinlichsten ist dies von Heinrich Bruinann, der schon in Mainz des Rhagius Fa- mulus war, und von Johann Huttich, dem später berühmten Antiquarius, denn diesen nennt Rhagius seinen Amanuensis. Von Ulrich von Hutten lässt sich hierfür nichts bestimmtes nachweisen, doch ist es naheliegend schon dadurch, dass Hutten, der sich „sectator" des Rhagius nennt, so oft für diesen, seinen Hauptlehrer, den Pegasus bestieg. Er hat zu der Cebes-Tafel eine elegiaca exhortatio beigesteuert und eine gleiche ') zu dem sofort zu nennenden Buche. Für den Gebrauch seiner beiden Neffen und auch für andere seiner Schüler gab Rhagius 1507 die Grammatik des Marcianus Mineus Felix Capeila heraus. Man könnte sich billig wundern, dass er als Humanist diesen Autor berücksichtigte, der durchaus nicht dem humanistischen Ideal entsprach und mit Recht von den fortgeschritteneren zurückgewiesen wurde2), wir treffen aber in der litterarischen Wiedergeburt wie in der architektonischen solche Missgriffe, die erst eine spätere Kritik ganz klar erkannt hat. Als An- hang hierzu Hess Rhagius Aelius Donatus de figuris folgen.8) Capeila und Donat sollten die Bücher sein, nach denen Johann Huttich die Neffen unterwiese. Für beide Bücher erschien 1508 ein Commentar, der die Texte in grammatischen Beispielen und Erklärungen, in litterarischen und historischen Notizen ergänzte.4) Ob dieses Buch noch vor Aesticampians Abschied von Frankfurt gedruckt worden ist, erscheint zweifelhaft, es 1) Von mir abgedruckt, Archiv X, 430 f. 2) Paedologia Petri Mosellani, Moguntiae, 1520, 8°, Biij. BreaL Stadtbibl. 3) Das Buch „AeliuB Donatus de figuris cum Johannis Khagij Aesti- 0 campiani Epistola" ist undatiert. Dass es dicht hinter der Grammatik des Marcianus Capeila folgte, beweist das Schlussgedicht an die Neffen und Joh. Hutticb. Ein Schlussdistichou an den Leser verspricht den Commentar zu Marcianus. Diese kleine Donat- Ausgabe enthält die ersten griechischen Lettern für Frankfurt, wo man also noch vor Leipzig grie- chisch druckte. 4) Commentarij Johannis Rhagij Aesticiunpiani Khetoris et poetae laureati in Grammaticam Martiani Capellae et Donati tiguras. Impre^a Francphordio per honestos viros Nicolaum Lamperter et Balthasar Murrer. . Anno dni M. D. viij. 4". Bresl. Kgl. Bibl. Digitized by Google 6 Bauch, die Ve« treibung des Aesticampianus aus Leipzig. gewährt uns aber in einem beigegebenen Gedichte Einblick in die Gründe des Wegzuges. In dem Gedichte, das „pierius grex" an die Neffen richtet, ist von „faciles et innocentes despectos miseris modis poetas von „ palaestra in se prae- cipiti cadens ruina" die Rede, und es schliesst: No8 sectabimur Aesticampianum Quo vel fata vocent deus vel autor Vel sors hac melior schola vel urbe. Wir finden also hier dieselben Anschauungen und Er- fahrungen wieder, welche Eitel wolf vom Stein zu den Worten veranlassten, er bereue, dass er jemals den Mark- grafen Joachim durch seine Rathschläge bewogen habe die Frankfurter Hochschule einzurichten, da er sähe, dass sie von ungelehrten Gelehrten in Besitz genommen sei und der Unter- richt nicht, wie er vorgeschlagen habe, von des Lateinischen und Griechischen kundigen Männern ertheilt werde.1) Die Uni- versität schloss sich, unähnlich ihrer wenig älteren Schwester in Wittenberg, mehr der alten Richtung an, da war freilich wenig Platz für einen Mann wie Rhagius, der in der wieder- erweckteu Classicität seinen Leitstern sah; statt der Hoch- schätzung, die er vorher in Mainz gefunden, begegnete ihm Iiier Zurücksetzung. Er räumte daher seinen unliebsamen Collegen das Feld und wich nach Leipzig; er ahnte nicht, dass ihm an dieser Universität, die eine ältere, fester gefügte Tra- dition als Frankfurt verkörperte, noch schlimmere Erfahrungen vorbehalten waren. In Leipzig hatte Aesticampian schon Verbindungen von seiner Durchreise von Mainz nach Frankfurt; durch Heinrich Schmidburg, den er schon in der Mainzer Zeit seinen Freund nennt, vermuthlich war er dem Leipziger Rathsherren und Arzt Simon Pistoris zugeführt worden und war von diesem gastlich aufgenommen worden.8) Auch dass er seine Mainzer Epigramme3) nicht in Frankfurt, sondern 1507 in Leipzig drucken Hess, weist auf frühere Beziehungen. 1) Boecking, Ulr. Hutteni opp. I, 43. 2) Vorrede zu dem bald zu nennenden Briefe des Plinius. 3) Vgl. Archiv XII, 337. Digitized by Google Baach, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 7 Dort wurde er nun im Wintersemester 1507/8 als professor rhetoricae artis als erster der meissnischen Nation immatri- culiert. Da die Eintragungen in die Matrikel aber gewöhnlich erst am Ende eines Rectorates in einem Zuge erfolgten1), so ist es möglich, dass er erst im Jahre 1508 von Frankfurt übersiedelte. Diese Vermuthung erhalt eine starke Stütze da- durch, dass er in der noch zu berührenden Rede im Sommer 1511 sagt, er habe „fere per triennium" gelehrt. Die Bezeich- nung als Professor zeigt ihn mit dem Universitätskörper in Verbindung, Herzog Georg hat ihm auch ein Gehalt zugewiesen.2) In Leipzig debütierte er mit der Ausgabe von sieben aus- gewählten Briefen des heiligen Hieronymus3), er wollte damit, wie er sagt, die profanen Wissenschaften mit den heiligen verknüpfen. Schon in Krakau hatte er sich mit Hieronymus beschäftigt4), er griff hier wieder auf ihn zurück, um an seinen Briefen einen christlich- moralischen, erziehlichen Inhalt mit der philologischen Discussion der Form zu vereinigen. Die Schreibweise des Hieronymus, welcher in seinen Briefen clas- sische Beispiele und Citate im Ueberflusse verwendet — auch in diesem Puncte der Urahn der Humanisten, wie Ebert5) ihn nennt — , erscheint für diesen Zweck besonders geeignet. Die Neigung zur Behandlung von Stoffen, welche diese beiden Ge- biete berühren, hat sich bei Rhagius später noch weiter ent- wickelt, sodass Krafft ihn wol mit Recht in der späteren Lebenszeit als theologischen Humanisten bezeichnet/) 1) F. Zarncke, Die urkundl. Quellen zur Gesch. der l'niv. Leipzig in den Abhandlungen der phil.-hist. Classe der kgl. sächs. Ges. d. W. II. Bd. (Leipzig 1857), 565. 2) Vorrede zu dem Briefe des Pliniua. 3) Septem diui Hieronymi epistole. ad vitam mortalium instituen- dam accomodatissime. cum Johannis Aesticampiani Rbetori« ac poete Laureati et Epistola et Sapphico carmine. aliorumqne cruditissimorum virorum Epigrammatibus. Hoc libello continentur. Impressum Lypczk , per Melohioretn Lotter Anno dni M. ccccc viij. 4°. Dresdener KgL Bibl. 4) 0. Celtis, codex epistolaris. Sommerfeld an C. Celtis, Krakau 15. Mai 1498- 5) A. Kbert, Gehch. der christl. latein. Literatur, I, 176 (Leipzig 1874). 6) Briefe und Dokumente aus der Zeit der Reformation im 16. Jabrh., Elberfeld 1875, 137 Note 1. Digitized by Google 8 Bauch, die Vertreibung des Aesticanipianus aus Leipzig. Die Argumente der sieben Briefe betreffen den Briefwechsel, das Leben der Cleriker, das Mönchsleben, die vierte Epistel ist die vielberufene, worin der heilige vom heiraten abräth, die fünfte beschäftigt sich mit der Jugenderziehung, an sechster und siebenter Stelle stehen zwei Invectiven gegen einen ge- schwätzigen Mönch und gegen Verleumder. Diese Leipziger Primitien sind von zahlreichen poetischen Applausen begleitet. Unter den Namen der Dichter begegnen wir zuerst einem Breslauer, Nicolaus Wey deman, der Hie- ronymus über die Historiker und Redner stellt und den Er- klärer Ae8ticampian erhebt; ich möchte vermuthen, dass dies Nicolaus Weidener ist, der im Sommersemester 1505 in der Leipziger Matrikel1) und später in Breslau als Kanonicus und eifriger Vertheidiger der katholischen Kirche erscheint. Hie- ronymus Emser hat ein Lobgedicht auf den heil. Hierony- mus, auf Leipzig und Rhagius beigefügt, auf Rhagius, der durch drei Lehrstühle der Musen schon berühmt (Bologna, Mainz, Frankfurt) nun den vierten und berühmtesten in Leipzig er- richtet habe, in Leipzig dem dreiinessigen : Lips est artiuin et est Lips dea pauperum. Auf Emser folgt Ulrich von Hutten mit einem Epigramm auf den christlichen Cicero. Dasselbe Thema behandeln Vitus Werl er aus Sulzfeld und sein Landsmann Valerian Seyfrid. Am Schlüsse lesen wir noch ein Epigramm des Sebastian Miritius i. e. von der Heide aus Königsberg. Rhagius hat dieses Buch seinem Bruderssohn FabianJu- dicis [?] gewidmet, der in Leipzig studiert und das Magisteriutn erworben hatte und nach längerer Lehrthätigkeit Geistlicher in Guben geworden war. Er entschuldigt sich in der Vorrede, dass er sieh als Lehrer der Rhetorik auf die Domäne der Theologen wage, er thue dies aber gestützt auf das Wol wollen und die Hilfe der hochgeehrten und hochgelehrten. Leipziger Interpreten der heiligen Schriften und er werde überall, wo der heilige sich der Zeugnisse oder des Schmuckes der Heiden, bediene, diese Gebiete aus eigener Kraft zu erläutern versuchen, dort aber, wo dieser seine Lehren durch göttliche Aussprüche 1) Fälschlich als Meissner, daher am Rande: Polonus est. Digitized by Google Bauch, die Vertreibung de» Aesticampianus aus Leipzig. 9 und geheimnissvolle Begriffe stütze, werde er die Lehrer der heiligen Wissenschaften freundschaftlich zu Rathe ziehen und werde, durch sie sicher unterwiesen, in ihrem Sinne auch das schwierigste erklären. Hierauf wendet er sich gegen die Ein- seitigkeit derjenigen (der Humanisten), welche sich mit der Spreu der Dichter und den Trabern der Philosophen täglich bis zur Sättigung anfüllten, das himmlische Manna aber, d. h. die ausgesuchte und herrliche Speise der heiligen Autoren, selten oder niemals in deren Büchern, ausser recht wenigen, denen seine Studien verächtlich seien, anrührten, oder, wenn sie hin und wider einen von den neueren (was er ohne Beziehung auf die Theologen seiner Zeit gesagt wissen wolle) angerührt hätten, von diesen wegen der Dunkelheit der Dinge oder ihrer Erhabenheit und wegen der Hülle der Worte oder Beschwerniss (fastidia) nicht genügend kosteten, oder, wenn sie davon ko- steten, um nichts satter oder besser, sondern bloss beredter und leerer würden. Denn diese discutieren, fahrt er fort, Fragen (welche meist Streitigkeiten erzeugen) fein und scharfsinnig, die Vorschriften aber für das Leben geben sie ziemlich dunkel oder allzu wortreich, während jene harten Ketzerhämmer und dauerhaften Säulen der christlichen Kirche Hieronymus, Am- brosius, Augustinus und Gregorius nicht in dem Blattwerk der Worte, sondern in den Früchten des Sinnes, nicht in den Strophen der Heiden, sondern in den Aussagen der Evange- listen, nicht in Spitzfindigkeiten und Sophistereien, sondern in der Einfachheit und Wahrheit, als welche keine Speise süsser ist, ihre Zähne sowol auf das fleissigste als auf das nützlichste abgebraucht haben. Die scharfsinnig erfundenen, zierlich disponierten, treu verbreiteten und vom Himmel be- kräftigten Denkmäler des Hieronymus, Augustinus und Am- brosius, welche wie von Gott für die Constituierung des Glau- bens erwählte Triumvirn erschienen, könnten jedoch von wenigen Menschen des Jahrhunderts, ausser etwa von denen, welche ent- weder die nöthige Kenntniss der dreifachen (hebr., griech., lat.) Sprache hätten oder welche die verfeinerten Studien vollauf ver- stünden, schon als wirksamere und heilkräftigere Arzenei für die Krankheiten der Seelen gebraucht werden, als die, welche aus den Balsambüchsen jeuer für den Gebrauch des Lebens als Heilmittel Digitized by Google 10 Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. und für das Glück der Seele entnommen werden. Er leugne jedoch nicht, wenn er jene so sehr billige, dass in anderen Büchern von neuen Autoren, welche die Rücksicht auf die Zeit und das Bedürfniss der Religion hervorgerufen habe, vieles gefunden werde, was zu jeder Art der Tugend anleiten und den Glauben mit den stärksten Gründen beweisen könne, er vernachlässige sie aber, weil die Verfasser selbst gestünden, dass sie weder schmuckreich noch elegant schrieben. Wir haben absichtlich diesen langen Auszug aus der wort- reichen und ziemlich abstrusen Vorrede hieher gestellt, weil uns in ihr der erste Schlüssel zur Stellung des Rhagius in Leipzig zu liegen scheint. Wenn er auch die Einseitigkeit vieler Humanisten mit Recht tadelnd erwähnt, so wird ihm das bei dieser seiner Partei nicht eben viel verschlagen haben, bedenklicher aber sind seine sehr deutlichen Anspielungen auf die Scholastiker und deren Methode. Zwar hat er mehrere Leipziger Magister neben sich und sucht sich sorglich beson- ders gegen die Theologen zu decken, doch ist auch gegen sie der Vorwurf der Vernachlässigung der politiora studia, tieferer Kenntnisse und besserer Schreibweise nicht bloss zwischen den Zeilen zu lesen; es wäre zu verwundern gewesen, wenn man den Hecht im Karpfenteiche auf die Länge ruhig hätte ge- währen lassen. Und so hat er denjenigen, welche er nach seineu Frankfurter Erfahrungen und nach den Erfahrungen seiner Vorläufer in Leipzig als seine natürlichen Gegner schon hätte ansehen müssen, von vornherein den Fehdehandschuh hingeworfen. Vorerst aber scheint es noch nicht zu ernsthaften Reibungen gekommen zu sein, und Rhagius gab sich mit dem ihm eigenen Eifer und ganzer Kraft seinem Fache hin. Die Rede, welche 1511 zur Katastrophe führte, gibt ausführlich über seine Thätigkeit Auskunft.1) Vier Stunden hat er, wie er sagt, bisweilen auf seine Vorlesungen verwendet, einen an- deren Theil seiner Zeit auf Wiederholungen und Einprägungen, einen anderen auf Commentierungen und auf Verse-machen, sodass ihm kaum etwas Zeit für die Mahlzeiten und den Schlaf oder die Pflege der Beziehungen zu den Freunden übrig blieb, 1) Die Hede hat D. Fidler hinter der Disputation Do Joanne Rhagio Aesticampiano (Leipzig 1703) abgedruckt Digitized by Google Hauch , die Vertreibung des Aeaticampianus aus Leipzig. 1 1 und er hat in den drei Jahren seiner Leipziger Wirksamkeit sehr achtungswerthes geleistet. Da Rhagius seine Hauptaufgabe in der Thätigkeit eines Lehrers, weniger in eigenen liervorbringungen suchte, so ist es billig, dass wir uns nach Schülern umsehen, welche in Leipzig von ihm gebildet wurden oder wenigstens Anregungen empfiengen. Ulrich von Hutten, der hier Freundschaft mit Veit W erler schloss, war ihm als wirklicher „sectator" nach der neuen Lehrstätte gefolgt, trat aber hier schon nicht mehr nur als Schüler auf, sondern versuchte sich selbst trotz seiner Jugend nicht ohne Glück auch als Lehrer.1) Doch verweilte er nicht allzulange hier, sein unruhiger Wandertrieb führte ihn bald nach dem Norden von Deutschland. Von talentvollen Jünglingen, später wolbekannten Männern, sassen hier zu Aesticampians Füssen Johann Hess aus Nürnberg, der Re- formator von Breslau2), und Caspar Ursinus Velius, der berühmte lateinische Dichter, Historiograph Ferdinands I. und Erzieher Maximilians IL3) Johann Hess verdankte ihm wol seine Neigung zu historischen Studien, Ursinus wagte es, fast noch ein Knabe, in Leipzig öffentlich als Lehrer des Griechi- schen aufzutreten, wie uns sein Freuud Heinrich Stromer aus Auerbach bezeugt.*) Auch Caspar Borner, der sich nachmals hohe Verdienste um Leipzigs Universität erwarb, schloss sich unserem Humanisten eng an.5) Als Schüler Aesticampians tritt uns auch Johann Kuchel entgegen, welcher nach Vollendung seiner juristischen Studien in Italien Rath und Kanzler Herzog Georgs wurde.6) Die Ausgabe der Marcianischen Rhetorik macht 1) Boecking, U. Hutteni opp. II, 150. 2) Immatriculiert 1505 im W.-S. Vgl. auch Köstlin, Johann Hess, in derZcitschr. des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens VI, 101. 8) Ich vermuthe, das« Ursinus unter dem 1508 im S.-S. intitulierten Caspar bernhardj de sveidniez verborgen ist. Die Schülerschaft des Hess und Ursinus geht hervor aus: Monumenta pietatis et litcraria etc., Frankfurt a. M. 1701, II, 7. 4) Vorrede zu: Aeneae Sylvii libellus aulicorum miserias copiose explicans, Mainz, Joannes Schoeffer, 1517, 4°. München, Hof- u. Staatsbibl . 5) Siehe unten. 6) Vorrede zu: M. H. Croci, Londoniensis, tabulae, graecas literas coinpendio discere cupientibus, sane quam vtiles, Leipzig, Schumann 1621, 4°. ßresl. Kgl. Bibl. Digitized by Google 12 Baach, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. uns dann noch mit zwei jungen böhmischen Edelleuten, Johann und Wolfgaug von Vitzthum, bekannt und mit Christoph Jan aus Leipzig, der zur Rhetorik und auch zur Germania des Tacitus von 15091), dort mit Valerian Seyfried aus Sulzfeld, Veit Werl er und Johannes Wildenauer (Egranus), Applause beigesteuert hat. Auch J ohann Huttich finden wir in Leipzig wieder.2) Namenlos sind uns endlich noch die Söhne Pistoris' als Glieder des Schülerkreises überliefert. 8) Der wolunterrichtete Verfasser des Briefes des Magisters Hipp erwähnt neben den „auditores" auch „domicelli", demnach hat Rhagius auch hier junge Leute im Hause gehabt wie in Frankfurt. Soweit nur reichen unsere Kenntnisse über die Schüler Aesticanipians, vollständiger können wir seine Lehrpensa auf- führen. In der berührten Rede sagt er selbst, er habe seine Vorlesungen mit der Erklärung der Dedicationsepistel des Pli- nius Secundus an Titus Vespasianus begonnen. Er hat für diesen Zweck den Brief durch den Druck vervielfältigen lassen und damit ein für die Geschichte der Typographie in Leipzig wichtiges Denkmal geschaffen, denn in seinen griechischen Citaten enthält der Brief die ersten in Leipzig gedruckten griechischen Lettern.4) Der Widerspruch, dass wir oben die Briefe des h. Hieronymus als Leipziger Erstlingspublication bezeichnet haben, löst sich damit, dass Rhagius die theologischen Autoren bei der Aufzählung aus der Reihenfolge seiner Vorlesungen ausschliesst, und dass die Beigaben zu den Briefen ausdrück- lich deren Behandlung als Antrittsvorlesung bezeugen. Der Brief des Plinius, merkwürdiger Weise bis auf acht Distichen ad lectorem ohne alle Beistücke, ist Simon Pistoris als Dank für seine Gastfreundschaft gewidmet. 1) Siehe unten. Hinter der Rhetorik ist Jan durch einen Druck- fehler zu einem Christopherus jam Lipsicus geworden. 2) Vgl. meinen oben citierten Aufsatz. 3) Vorrede des folgenden Buches. Vielleicht sind es die in Witten- berg S.-S. 1607 immatriculierten: Üymo et Christoferus fratres filij doctoris pistoris Liptzen. Foerstemann, Album Viteberg., 23. 4) C. Plinij Secundi Veronenais ad Tituin Vespasianum in libros naturalis hystorie Epistola. Cum Johannis Aesticampiani Rhetoris et Poet« laureati Epistolio. Impressum Liptzk per Hacc.ilauroutn Vuolfgangum nionacensew Anno nostre salutiB. 1508. 4". München, Hof- und Staatsbibl. Digitized by Google Baach, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 13 Diese Einleitungsvorlesung Uber Plinius ist epochemachend für die Kenntniss des Naturforschers in Deutschland; Rhagius hat Plinius zuerst an einer deutschen Hochschule behandelt, und er blieb nicht bei dem Briefe stehen, sondern trug auch über die Bücher de nomine, de coelo, de animalibus insectis, de peregrinis, de patriis arboribus vor.1) Ehe er aber an die Naturgeschichte des Plinius herangieng, erklärte er seinen Hörern drei Dekaden des Livius und wiederholte diese Vorlesung privatim nochmals von Anfang bis zu Ende. Auch dies Gebiet scheint in Leipzig zum ersten Male in solchem Umfange bebaut worden zu sein. Von Cicero tractierte er die für den prak- tischen Gebrauch damals so wichtigen Briefe, die drei Bücher der Officien, die drei Bücher de oratore, von welchen er später eine neue Ausgabe veranstaltete, und drei Reden. Auch des Tacitus Germania zog er in den Kreis seiner Lectionen, hierin wie Celtis von dem patriotischen Gesichtspuncte geleitet. Eine Ausgabe der Germania2) erschien am letzten December 1509 als Neujahrsgeschenk für Herzog Johann, den Sohn Georgs von Sachsen. Neben diesen Prosaikern trug er, und das war den Humanisten, die Verse-machen erst als Kennzeichen ihrer Richtung ansahen, vor allem wichtig, auch über Dichter vor. In erster Linie erwähnt er die Komoedien des Plautus; er kann nicht genug Worte machen, um ihre Vorzüge nach allen Seiten hin zu würdigen; auch des Horaz Dichtungen, der in seinem Strophenreichthum besonders für die humanistischen Poeten lehrhaft war, und von Rhagius auch für die christli- chen Kirchenhymnen als von Bedeutung gerühmt wird, wurden von ihm zum Vortrag gebracht. Endlich erläuterte er noch die Aeneis Vergils, doch scheint er hierin nicht philologisch 1) Dies und das folgende nach der Rede Aesticampians. 2) Cornelij Taciti Illustrissimi hystorici de situ, moribus. et po- pulis Germanie. Aureus libellus. Impressum est hoc Cor. Taciti aureum opusculum Lips in edibus Melchior Lotters. Anno domini M. D. Nono. Vltimo die Decembris. 4°. Hamb. Stadtbibl. Das Prototyp konnte ich nicht feststellen. Die Celtissche Ausgabe (Bresl. Stadtbibl.) hat Aesti- campianus nicht benätzt. Sein Text zeichnet sich unvortheilhaft durch eine Menge schlechter Lesarten, zumal in den Eigennamen, aus. Nach- druck davon: Leipz. 1611 bei Wolfg. Monac. ohne die Beistücke. Bresl. Kgl. Bibl. Digitized by Google 14 Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. commentierend , sondern philosophisch allegorisierend vorge- gangen zu sein, da er von dem Epos sagt: „in qua vita et activa et contemplativa poetico sub figmento penitus demersa et tandem per me est in lucem extracta". Ein grammatisches Werk, das seine Frankfurter Studien fortsetzte, die Rhetorik des Marcianus Capella , hatte er gleichfalls für den Unterricht durch die Presse zurechtgelegt, aber er scheint nicht darüber gelesen zu haben, da, wie er sagt, der Druck kein glücklicher war, und er die Exemplare daher nicht hatte ausgeben wollen.1) Zuletzt beabsichtigte er, die Attischen Nächte des Gellius, das grosse grammatische Werk Priscians und die vier Bücher des h. Augustinus de doctrina christiana zu behandeln, da versagte man ihm das Local für die Vorlesungen, und das führte ihn zum Bruche mit der Universität. Ob Aesticampian die Rhetorik des Marcianus Capella nur, weil sie „infeliciter impressa", d. h. voller Druckfehler war, bei sich zurückgehalten hat, ob nicht auch doch noch andere Gründe vorlagen, mag der Leser beurtheilen. Nach einer langen, spielend gehaltenen Einleitung an die Pathen des Buches, die Jünglinge Johann und Wolfgang von Vitzthum, worin er ihnen „amabilissimain et dignissimam puellam millies exosculan- damu empfiehlt, preist er die Böhmen wegen ihrer Vorliebe für die Beredsamkeit. Auch barbarische Völker, die Polen und die Un- garn, die Britten und Sarmaten, pflegten die lateinische Sprache, nur die Deutschen schreckten vor den Mühen, welche die Bered- samkeit verlange, zurück. Denn die einen begäben sich sogleich zum Studium der Gesetze und zögen es vor, unberedte Advo- caten und Gesetzkrämer zu sein, als ob sie das als das nütz- lichere erwählten, dessen Leichtigkeit sie allein verfolgten, andere aber von einer anspruchsvolleren Trägheit, welche jäh- 1) F M C Scientissimi et clarissimi Authoris. Rethorica. cuiua forma: ars et vsus, non ruultum In Germania est vel cognitus, vel re- ceptus: Nunc autem formam eius, et pictor effigiauit, et Impressor ex- cussit: et artem Rhetor Johannes Aesticampianus edocebit, vsum vero Lector tibi comparabis amplectere itaque eam, vt formosam addisce. vt artificiosam, vtere postremo. vt valde necessaria. et bene, et diu vioe. Impressum Liptzick per Baccalaureum Martinum Herbipolensem. Anno diii Millesimo quingentesimonono. folio. Üresl. Stadtbibl. Digitized by Google Bauch, die Vertreibung des Aeslicarapianus aas Leipzig. 15 lings mit gerunzelter Stirne und bedecktem Haupte, als ob sie die rednerischen Vorschriften geringschätzten, ein wenig in der Schule der Philosophen sässen, wie bald in der Oeffentlichkeit finster, zu Hause schlaff, erschnappten ein Ansehen durch das verachten anderer, denn Weisheit könnte, wie Fabius Quinti- iianus sage, geheuchelt werden, Beredsamkeit nicht. Einige aber, zudem von ehrwürdigerer Körpererscheinung, „dilatant enim (fährt er mit Anspielung auf die Pharisäer fort)1), ut de quibusdam similibus memoriae proditum est, fimbrias et phileteria complicant", und auf den Schein eines heiligeren Le- bens (denn wer würde sie einer Sünde zeihen) allzukühn ver- trauend, leugneten, dass es recht sei, die vorzüglichen Aus- legungen der Doctoren (Kirchenväter), die heilsamen Decrete der Päpste und die heiligen Orakel Gottes durch den Glanz der Worte zu verherrlichen, und erachteten es für Frevel, sie mit Schmuckwerk zu vermengen. Sie klagten die Kunst der Wolredenheit vor allen Kanzeln und Tribunalen an und ver- urteilten sie wie eine Buhlerin und hielten sie von den Kreisen und Disputationen ihres Coetus und den Zusammenkünften ihrer Freunde schändlich fern.. Und, was am unwürdigsten sei, sie vertrieben sie grausam aus den Gerichten, Versammlungen und dem Senat, damit entweder ihr Geist nicht verwirrt, oder sie ihrer Augen schmählich beraubt würden, oder, was er für der Wahrheit am nächsten kommend halte, dass nicht die Studien der Bildung der Sprache und der Pflege der Sitte, welche zwar von der Natur verbunden, aber schon vor Zeiten durch Uuthätigkeit und Trägheit auseinandergerissen und fast bis zur Gegenwart durch Hartnäckigkeit und Hochmuth im Besitz gewisser zurückgehalten würden, wiederum zusammengeknüpft würden, und sie zugleich für weise und beredt gehalten würden, was, wie es mehr Arbeit erfordere, so auch gewiss den So- phisten mehr Gewinn brächte, oder dass sie von den Gesetzen ihrer Vorfahren, denen, wie ihnen die Kraft des Geistes und Verstand gegeben, so fürwahr die Kunst und Uebung der Rede verweigert gewesen wäre, nicht um Nagelsbreite abzuwei- chen schienen. Jenen habe aber wie diesen nicht der Wille 1) Matthaeus 23, r>. Digitized by Google IG Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. schön zu reden, sondern die Gelegenheit gefehlt, da jene weder wolredende Autoren wegen Mangels an Büchern lesen, noch beredte Lehrer wegen der unglücklichen Zeit hätten hören können, diesen aber fehlten weder Bücher noch Lehrmeister, sondern der gemeine, wie man sage, Irrthum, ei Arbeit, Ver- stand hätte er sagen wollen, stünde ihnen schroff im Wege. Sie erinnerten sich nicht daran, dass der Fürst ihrer Secte, Sokrates, der hochweise, unschuldige und heilige Mann, wegen keiner anderen Schuld von den beredten athenischen Richtern zum -Tode verurtheilt worden sei, als weil er nicht zu reden verstanden habe. Auch dächten sie nicht an die alten, welche in mannigfacher Art der Studien der Wolredenheit nicht ent- behrt hätten. Zum mindesten seien für heilig und beredt ge- halten worden Cyprianus, Ambrosius und Hieronymus, deren eifrigste und gewissenhafteste Nachahmer zu sein sie sich rühmten, während sie doch, die der Menge als die weisesten und heiligsten erscheinen wollten, nicht einmal einen Schatten von Gelehrsamkeit oder Heiligkeit, auch wenn sie bersten soll- ten (licet se rumpant), erlangen könnten. Aber, so schliesst er, damit wir nicht ins Wespennest stachen, wollen wir Jassen jene in ihrer Religion oder vielmehr in ihrem Aberglauben hartnäckigen, zu welchem sie durch die Ueberzeugung schon geführt oder woran sie wie durch einen Eid gebunden und gefesselt sind, dass sie da« Licht der Beredsamkeit nicht mit unverwandten Augen ansehen oder einen, der anderes als sie selbst lehrt, nicht vertragen können, damit sie wie die Ameisen mit jenen ihren Künsten den Lebensunterhalt mühsam erwer- ben, geizig verbergen, sparsam brauchen, und wir wollen ihre Kinder oder Schüler, wenn sie etwa welche zu uns schicken werden, wolwollend und nutzbringend unterrichten etc. Die scharfen Ausfälle gegen die Scholastiker, besonders gegen die Theologen, würden wol schon genügend erklären, dass Rhagius zögerte, dieses Buch in aller Leute Hände zu geben, wir erkennen aber auch aus ihnen schon 1509 gegen- über der Vorrede zu den sieben Briefen des h. Hieronymus die wachsende Erbitterung, und in den allgemein gehaltenen Vorwürfen gegen die Verächter der Eloquenz sehen wir direct das Verhalten der „Sophisten" gegen den Professor der Rhe- Digitized by G Hauch, die Vertreibung den AesticnmpiamiB ans Leipzig. 17 torik, wenn wir die Ausführungen der vielgenannten Rede damit vergleichen. Wir müssen auch hier hervorheben, wie genau der Brief des Magisters Hipp mit der Wirklichkeit zusammen- stimmt, und werden, was darin gesagt ist, dass die Scholastiker nur auf eine Gelegenheit warteten, dem verhassten Poeten zu Leibe zu gehen, um ihn unschädlich zu machen, gern glauben, ein Grund mehr, dass Rhagius sich etwas zurückhielt. Wir werden dem Johannes Hipp auch glauben, dass Rhagius in seinen Vorlesungen die Gegner verächtlich behandelte, und das sagt er selbst, dass er Feinde hatte, die ihn mit ihrem Hass und Neid ruchlos verfolgten und nicht ihrer Stellung, gemein- samen Mahles und ihrer Rede werth hielten, ihm die öffent- lichen Lehrzimmer verschlossen und ihre Schüler nichtswürdiger Weise abhielten ihn zu hören. Wenn er nun aber hinzufügt, das hätten sie nicht durch sein Verschulden (denn er habe niemanden gereizt, noch jemandem geschadet), sondern nach ihrer Natur und nach ihrer alten und verhärteten, um nicht zu sagen bösen, Gewohnheit und nach ihrem lieblosen Willen gegen ihn begangen, so werden wir ihn wenigstens davon nicht ganz freisprechen können, dass er die Gegner gereizt hat, wie er denn auch in der Widmung seiner Tacitus-Ausgabe sich die Gelegenheit nicht entgehen lässt, einen Hieb gegen die Be- schranktheit und den Materialismus der Scholastiker zu führen. Wir dürfen nur erwägen, dass er selbst erwähnt, sie hätten ihm öfter Anlass gegeben „fortiter dicendi". Es ist nur zu bedauern, dass wir so wenig Nachrichten über die Entwick- lung des Zwistes besitzen ; nur gelegentlich erfahren wir in den Verhandlungen des Universitätsconcils, dass mehrfache Reibun- gen vorgefallen sind, sodass die Rede, die den Endpunct davon bezeichnet, uns die einzige Aufklärung darüber bringt1). 1) Fidler kannte eine handschriftliche „Passio Aesticampiani se- cundum Joaunem", jedesfalls ein für unsere Zwecke hochwichtiges Do- cutnent, das er aber nicht abgedruckt hat, weil seine Ausführungen mit dem Briefe des M. Hipp übereinstimmten. Fidler zählt als Gegner Aesti- caropians auf: Magnus Hund, Hieronymus Dungersheim de Ochsenfurt, Andreas Hund, Johann Sperber und Andreas Probst Delitianu». Sollt«' diese „Passio" etwa eine Satire gewesen sein? Eine satirische „Passio domini papae secundum marcam auri et argeuti" ans früherer Zeit in KIosoh Neuen litterarischen Unterhaltungen, Breslau 1744, I, 177. Akt luv r. I.itt. -Unsen. XIII. "2 Digitized by Google 18 Bauch, die Vertreibung des Aeaticampianus aus Leipzig. Wer- ihm persönlich entgegentrat* ist uns , da leider auch die eigentlichen Acten, die uns einigen Aufschluss hätten bieten können, verloren gegangen sind, nicht mehr möglich anzugeben, es wird eben bei weitem die Majorität der Universitätslehrer gewesen sein. Nur einer von seinen Feinden ist uns nament- lich überliefert durch den Brief des Magisters Hipp, es ist der Magister Andre as Propst aus Delitsch oder, wie er, der Pseudo- humanist, sich nannte, Andreas Epistates Delicianus, dem die bezeichnende Aeusserung in den Mund gelegt wird, Aesti- campianus sei in der Universität wie das fünfte Rad am Wagen. Dass gerade dieser hervorgehoben wird, zeigt uns wol, dass er einer der Hauptgegner Aesticampians war. Gründe dafür lagen genug vor, denn da Delicianus praetendierte, selbst Hu- manist und Rhetor zu sein, musste er in dem vielgereisten, höher gebildeten und schon berühmten Aesticampian seinen übermächtigen Nebenbuhler erblicken. Auf der anderen Seite besass Aesticampian auch Freunde. Er selbst erwähnt, dass der Herzog Georg ihm günstig sei und die Optimaten in der Stadt, und dass ihm gerade die gelehrtesten und ausgezeichnetsten Männer mit Wink und Wort zu Hilfe kämen. Aber auch hier entbehren wir der Namen. Emser, Myricius, Werler erscheinen nicht mehr in Aesticam- pianischen Büchern, aber Werler dediciert er freundschaftlich noch 1515 ein Buch1), und Hutten erwähnt in seinen Querelen51) Emser ehrenvoll neben seinem Lehrer, auch des Myricius wird später anerkennend von einem Gegner der Leipziger gedacht3), sodass wir die beiden letzten wol nicht unter den Gegnern zu suchen haben. Hipp und die Verhandlungen des Universitäts- concils geben an, dass Rhagius eine ganze Schar von Freunden hatte, die ihn auch bei dem ernsten Zusammenstosse mit seinen starken Feinden nicht verliessen. 1) M. Tul. Ciceroim Pulcherrimi. elegantisaimique De oratore libri tre« etc. Leipzig, Lotter, 1516, folio. Leipz. Univ.-Bibl. 2) Boecking III, 68. 3) Literarii sodalitii Apud Marpurgum aliquot cacbinni super quo- dam duorum Lipsensiura Poetarum in Luthenun scripto Libello eft'uai. Exeu su m Marpurgi, Anno M, D, XXVIII. septimo Calendaa Octobres, 8°, A* („Autore Hermaono Buschio" hat Johann Hesß auf das vor- liegende Exemplar der Bresl. Stadtbibl. geschrieben). Digitized by Google Baach, die Vertreibung des Aesticanipianus aus Leipzig. 10 Die mannigfachen Kränkungen und besonders die Weige-~ rung, ihm ein Local für seine öffentlichen Vorlesungen zu uberlassen, veranlassten den sonst geduldigen Mann endlich zu einer öffentlichen Rede, die er selbst in seiner Einladung als Ab- schiedsrede bezeichnete, in welcher er jede Rücksicht fallen Hess, um seinem Unmuthe einmal vollständig Luft zu machen und dann den Staub von seinen Füssen zu schütteln1). Zum Verständnisse des weiteren müssen wir nun die Stellen der Rede ansehen, auf welche hin seine Feinde ihrer- seits zum Angriffe gegen ihn vorgiengen. Er nimmt darin alle vier Facultäten durch und sagt von der ersten: Die Theologen sind gelehrte wie brave Männer, welche die Gedichte der Poeten niqht mehr hassen als die Pharisäer die Sünde. Wer leugnet dies? Aber ich frage dich (wendet er sich an einen Hörer), sage mir, warum sie andere Sünder und Zöllner zu ihren Gastmahlen rufen, die Dichter aber zu ihren priester- lichen Frühstücken niemals einladen? Fürchten sie, dass ihnen diese etwa zu viel von dem besseren essen oder trinken? Was sollen sie essen? Die Poeten mögen von Hülsenfrüchten und Schwarzbrot leben. Aber wir wollen auch jene ohne Schmach entlassen, dass sie euch nicht zürnen und uns schlecht behan- deln, denn sie haben die Macht loszulassen und ans Kreuz zu heften, welche sie wollen. Dann sind die Juristen, welche, obgleich sie recht zu handeln wissen, es doch, einen oder den anderen ausgenommen, selten thun und den Poeten, welcher ihren Schülern keine Altweibermärchen, wie sie das aufs schlimmste auslegen, lehrt, sondern zum verstehen der Gesetze geschickt macht, weder in ihr Auditorium zulassen, noch zu ihrem Festmahle einführen. Aber auch jene mögen gehen, denn sie können lossprechen und verdammen. Es folgen die Mediciner, welche zwar den Poeten eingeladen haben, aber nicht sowol aus irgend welcher Zuneigung, als vielmehr aus reiner Prahlsucht, um sich ihm wie höherstehende vorzusetzen, gleich 1) Die Ankündigung ist uns noch bei Fidler erhalten: Joannes Aesticampianus hinc emigraturus pro niore buo univerais huius gymnasii magistratibus et snbiectis supreraum vale dicet. Dignentur itaque huc adesse cuncti, qui non taui homiuem (poeta enim est) quam veritatem, quae Deus est, et amant et venerautur. 2* Digitized by Google 20 Bauch, die Vertreibung des AeaticampiauuB aua Leipzig. als wenn der geineinen (sordidae) in die Küche gehörenden Medicin unsere göttliche und heilige Poesie weit nachzustellen sei, da doch die Stadt Rom die Dichtkunst immer, jene grie- chische (graeculam) Kunst niemals übte. Aber wir wollen auch sie sein lassen, da sie den Poeten mit ihren Tränkchen entweder schützen oder zum Orcus senden können. Noch bleiben die Philosophen übrig, die mich zum Theil wol wollend hörten, zum Theil tief verachteten, der erste Theil jedoch war selir klein, der zweite sehr gross. Ich sage aber ihnen allen Dank, ent- weder weil sie mich einmal zum Frühstück eingeladen haben, oder weil sie mich durch ihren Neid und ihre Schelsucht zu rechtlichem Leben und öfter zu grader Rede (fortiter di- cendi) angetrieben haben. — Und weiter unten sagt er: Denn ich werde gezwungen von hier wegzugehen, weil die Schrift sagt, wenn sie euch aber in dieser Stadt verfolgen, so fliehet in eine andere. Und ich werde nicht wegen angeborener Gei- stesstumpfheit oder wegen Schlechtigkeit der Denkart (deren jene Heuchler alle Poeten verdächtigen) gezwungen wegzugehen, denn ich habe von beidem eine nicht gemeine Probe gegeben, sondern allein durch das Uebelwollen und die Schlechtigkeit gewisser, welche euch, o edelste Studenten, hochmüthig be- herrschen und habgierig eure Gelder ausplündern und euch von dem Wege des richtigen Sprechens und der Richtschnur eines bescheidenen Lebens durch ihre ungesalzenen Reden und üppigen Schmausereien !) abrufen und verführen. Zu diesen, wenn sie anwesend wären, könnten die Worte des göttlichen Spruches (denn diese würden sie besser verstehen als die nns- rigen) mit geringer Voränderung auf das zutreffendste gesagt werden2): Euch inusste zuerst das Wort der Latinität gesagt werden, nun ihr es aber von euch stosset und achtet euch (selbst) nicht werth der römischen Beredsamkeit, siehe, so wende ich mich zu den benachbarten und barbarischen Völkern. Denn wen von den beredten Poeten haben eure Väter nicht verfolgt und wen habt ihr nicht zum Narren gehabt, welche euch zu bilden wie vom Himmel gesendet worden sind? Denn, 1) Zarncke, Die Statutenbfttber der Universität Leipzig, Leipzig 1861, 30, Zeile 88. 2) Apostelgeschichte 13, 46. Bauch, die Vertreibung des Aesticainpianus aus Leipzig. 21 dass ich aus vielen nur wenige hervorhebe, Konrad Celtis habt ihr fast feindlich vertrieben, Hermann Busch habt ihr lange und viel gequält hinausgeworfen, auch Johann Aesticampianus, nachdem er mit mannigfachen Maschinen bestürmt worden, werft ihr endlich über den Haufen. Wer von den Poeten wird da noch zu euch kommen? Niemand wahrhaftig, niemand, dem nur der Ruf eurer Tapferkeit zu Ohren gelangen wird. Un- gebildet also und nichtssagend (ieiuni) werdet ihr leben, hiisslich au Geist und ruhmlos, und wenn ihr nicht Busse thuet, werdet ihr alle als verdammte sterben. Hatte nun aber Rhagius gedacht, nach dieser Aussprache unbehelligt seinen Stab anderswohin zu setzen, so hatte er nicht mit der Rachsucht der Gegner gerechnet, die nun da- nach trachteten, ihm noch vor seinem Abgange einen schweren Streich beizubringen. Die Rede bot ihnen die beste Handhabe, und sie griffen zu. Aus dem Liber conclusorum et actorum universitatis das uns von jetzt ab als weitere Quelle dienen wird, das aber leider nur kurze Protokolle über die Verhand- •lungen des Universitätsconcils nach den Aeusserungen der vier Nationen mit Angabe der Tagesordnung, aber ohne die end- giltigen Beschlüsse enthält, ersehen wir, dass die Theologen und die Mediciner zuerst Rechenschaft von ihm verlangten, und dass Aesticainpiau für ihre Ausforderung zuerst nicht auf- zufinden war, und dann auf eine zweite Citation vor der Uni- versität nicht erschien. Der am 24. September 1511 unter dem Rectorate Johann Sperbers aus Heiligenstadt abgehalteneu Üniversitätsversauim- lung wird diese Situation vorgelegt. Da Aesticainpiau sich vor diesem Tribunal nicht eingefunden hat, so leiten die Verhand- lungen des Tages ein weiteres Vorgehen nur ein ; daraus er- klärt sich die scheinbare Mässigung in den Beschlüssen. Es war der Universität, welche den ganzen Handel, da sie Ohreu- zeugen der injuriöseu Rede genug in sich schloss, sofort als einen die Allgemeinheit berührenden auffasste und demgeinäss geschlossen gegen Aesticampian auftrat, vorläufig nur darum t) Bl. I44b — U9b Ms. Leipziger Universitätsarchiv. Herr Geh. Hof- rath Prof. Dr. Zarncke hat mir die Benützung dieser (Quelle durch Ucber- lussuug seiner Kxccrpte in liebenswürdigster Weise erleichtert. Digitized by Google 22 Bauch, die Vertreibung des Aeaticanipianus aus Leipzig. zu thun, das corpus delicti, die Rede, und Aesticampians Ge- genwart zu erlangen. Demgemäss beschlossen die Nationen. Die bairische Nation wünschte, dass der Rector am näch- sten Tage unter Zuziehung der zwei ältesten Beiräthe und der Beisitzer der Nation und anderer deputierter der Nation Aesti- campian zum Ueberflusse durch einen geschworenen Diener berufen sollte, um ihn darin zu verhören, was nach herge- brachter Weise zu verhandeln sei, vor allem aber um die Rede zu fordern, und wenn er sie herauszugeben verweigern sollte, möchte ihm der Rector die Reinigung nach den Statuten auferlegen. Wenn er nicht erschiene, sollte er am Sonntage durch Anschlag an den Thüren ermahnt werden, und wenn nöthig, solle der Rector seine Acten an die Universität bringen. Im übrigen schlösse sich die Nation den anderen an, ohne Praejudiz für die Herren Theologen und Mediciner. Die polnische Nation verlangte, dass Aesticampian, weil er, obwol er gewusst, dass der Rector und die ganze Uni- versität ihn, um Gerechtigkeit zu üben, erwarte, nicht erschie- nen sei und, wiederum gefordert, zu kommen verweigert habe, an den Thüren öffentlich ermahnt werde und, wenn er danach erschiene, sich in Betreff der ihm vorzulegenden Artikel reinige. Wenn er dies nicht thäte, solle er nach den Statuten der Uni- versität bestraft werden wie einer, der die Allgemeinheit ver- letzt und in Unruhe versetzt habe. Wenn es aber den anderen Nationen ruthlich erscheine, möge er vor der Ermahnung zum Ueberflusse citiert werden, um sich wegen seines Ungehorsams zu reinigen. Die meissnische Nation beschloss, dass Aesticampianus, weil er wiederum citiert nicht erschienen sei, am nächsten Tage nach den Statuten der Universität öffentlich citiert und dass gegen ihn procediert werden solle in Gegenwart des Rectors, der Beisitzer und der von der Nation deputierten, nämlich des Doctors Matthaeus Henning und des Magisters Ludwig Lang- schneider. Die sächsische Nation beschloss, damit die ganze Uni- versität nicht wiederum in Unruhe versetzt würde und ver- geblich zusammenkäme, dass dem Rector drei deputierte aus jeder Nation zugesellt würden. Sie deputierte denDoctor Magnus Digitized by Google Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 23 Hundt, den Doctor Johann Lindemann, den Ordinarius der juristischen Facultät, und den Magister Heinrich Greve dem Rector zum Beistande , welcher ex officio gegen Aesticampian einschreiten würde gemäss den Statuten der Universität mit Berichterstattung an die Universität, doch so, dass jener für seine Contumaz bestraft würde. Aesticampianus wurde vor den Rector und seine beige- ordneten gerufen und überlieferte ihnen eine Abschrift seiner Rede. Er liess sich auch bereit finden, am 2. October vor dem Universitätsconcil in dem Zimmer der philosophischen Fa- cultät zu erscheinen, begleitet von einer Schar seiner Anhänger. Nach Verlesung der Rede beriethen die Nationen, was weiter zu thun wäre. Drei Nationen waren darin einig, dass sie verlangten, Aesticampian solle gefragt werden, ob die von ihm vorgewiesene und eben verlesene Rede diejenige sei, welche er öffentlich gehalten habe. Die bairische Nation stellte dieselbe Frage auf, trotzdem er vor dem Rector und seinen mitdeputierteu dies ausgesagt habe und viele von den anwesenden die Rede, als er sie gehalten, selbst angehört hätten. Sie wünschte, dass er gehört werde, dass aber nicht die „cohors" derjenigen, welche er mit sich gebracht habe, zugelassen werde. Jedoch solle seiner Interpretation nicht stattgegeben werden, da die Worte klar seien und er ganz besonders im Anfange betone, dass er die Wahrheit sagen werde und seine Worte als ganz wahr- heitsgemäss angeschen wissen wolle. Die sächsische Nation verlangte noch besonders darüber eine Erklärung, wie er habe sagen können, dass alle Facultäten schändlich gehandelt hätten, und warum er jede Facultät beleidigend durchgezogen habe, zuletzt, warum er von den Philosophen und allen Magistern zum Schlüsse gesagt habe, dass sie von den Studenten Geld erplünderten und sie verführten. Aus den folgenden Verhandlungen geht hervor, dass der vorgeführte angeklagte die Rede anerkannt, abtr auch, wenn schon spöttisch lächelnd, zu entschuldigen und zu deuten ver- sucht hat. Hierauf erfolgte eine neue Berathung der einzelnen Na- tionen zur Beschlussfassung über die Strafe. Die sächsische Digitized by Google 24 Bauch, die Veitreibung des Aesticaaipianua aus Leipzig. Nation, welche diesmal zuerst stimmte, muss wol die meisten Freunde Aestieampians enthalten haben, denn sie fällte den mildesten Spruch.1) Sie Hess sich, wie folgt, vernehmen: Da Aesticampian die ganze Universität auf vielfache Weise belei- digend und schmachvoll wie uneingedenk seines Eides zu nicht geringem Eintrag und Aergerniss verletzt und verunglimpft hat und sich taliter et qualiter mit lächeln entschuldigt hat, so gefällt es der sächsischen Nation, dass er öffentlich an der- selben Stelle, an welcher er die Universität verletzt hat, die beleidigenden uud schmählichen Worte widerrufe und die Rede vorher dem Rector und den Senioren vorlege. Wenn er dies verweigern sollte, möge der Rector nach den Statuten (d. h. wol mit einer Geldstrafe)2) gegen ihn vorgehen und ihm unter Androhung der Strafe der Exclusion aufgeben, dass er sich in Zukuuft der Beleidigungen und Schmähungen enthalte. Die polnische Nation verlangte auf das Bekenntniss hiu die Relegation auf zehn Jahre unter Hiuzufügung, dass er, wenn er innerhalb der Zeit einen Doctor, Licentiaten, Magister, Bacca- laur oder irgend einen anderen angehörigen der Universität oder die ganze Universität reize, durch sich oder durch einen anderen, direct oder iudirect, durch Wort oder That beleidige, dass er dann ohne weitere Zusammenberufung der Universität für immer excludiert sei und dass dieser Beschluss so schnell wie möglich zur Ausführung gelange. Die bairischc Nation verwarf dem klaren Wortlaute der Invectiven gegenüber die Interpretationen Aestieampians als lächerlich und nichtssagend (paleatae) und gab einen Wahr- spruch ab, der fast wörtlich mit dem der polnischen überein- stimmte, woljeiu Zeichen, dass in diesen beiden Nationen die Phalanx der Gegner sass und dass man sich vorher schon über die Strafe geeinigt hatte. Nach dem Votum der Baiern sollte x\esticainpian auch gedroht werden, dass die Universität, falls er Opposition mache, an diejenigen, mit welchen sie in Verbindung stehe, d. h. wol die anderen Universitäten, aus- führlich und genügend die Ursache seiner Relegation schreiben Am Rande iat von der Hand des Protokollführers bemerkt: Esti- cunipiiiitus a nutione Suxouica nou est exchmi» neque relegatus. 2) Zunicke, Die Stutnteubücher der Uuiv. Leipzig 1861, 18, No. 1. ■ Digitized by Google Bauch, die Vertreibung dos Aeaticampianuu aus Leipzig. 25 und sieb, ihn andern wegs mit Recht als meineidig erklärend, vertheidigen werde, und dass er nicht glauben dürfe, dass ihm die Universität verantwortlich sein werde. Leider ist nicht geschehen, was die Nation auch noch wünschte, dass die In- vective in den liber conclusorum zugleich mit den anderen Acten ausführlich eingetragen werden sollte. Die meissnische Nation äusserte sich dahin, dass Aesti- campian, weil zu fürchten sei, dass er das der Universität und den Facultäten in öffentlichem Auditorium angethane Unrecht nicht widerrufen werde, auf unbestimmte Zeit unter Androhung der Exclusion ipso facto, wenn er sich nicht ruhig verhielte, zu relegieren sei. Durch die Randbemerkungen in beiden Exemplaren der Matrikel (und aus Magister Hipps Freudenbriefe) wissen wir, dass dem Beschlüsse der polnischen und der bairischen Nation gemäss die Relegation auf zehn Jahre ausgesprochen wurde. Aesticampian, der so oft der Gunst des Herzogs Georg erwähnt, er erfuhr sie auch jetzt, als es sich um Ausführung des Uuiversitätsbeschlusses handelte. Abgeordnete der Univer- sität hatten dem Herzoge von dem Schritte Anzeige gemacht, und dieser verwendete sich für Rhagius, wie vorauszusehen war, — vergeblich. Schon am 5. October versammelte die Universität sich wieder, um die Willensmeinung des Fürsten anzuhören und über eine Autwort zu berathen, und die ganze Universität zeigte sich einstimmig. Die bairische Nation wünschte, dass die ganze Universität unter Führung des Rectors „pro maiore reverentiae ostensione" sich zum Herzoge begeben solle, um ihn zu bitten, dass er es nicht übel aufnähme, wenn das nach Form und Intention der Statuten rechtmässig gefällte Urtheil der Universität fest bliebe, da es ohne Schimpf und Eintrag für die Universität nicht widerrufen werden zu können schiene und weil S. Gnaden in ähnlichen Fällen nicht leicht Intercessionen irgendwelcher, um die untergebenen der Universität besser in Disciplin zu halten und um des Ansehens der Statuten willen, annähme. Nochmals wurde Aesticampian bedroht, und die angehörigen der Universität sollten bei Strafe davon abgemahnt werden, sich seiner anzunehmen. Digitized by Google 26 Bauch, die Vertreibung des Ae&ticampianus aus Leipzig. Auch die Nation der Sachsen drückte sich ähnlich aus; sie erklärte, man müsste dem Herzoge willfahren, wenn nicht die Sache zum Schaden, zur Verwirrung und gegen den Ruf und die Ehre der Universität wäre. Der Herzog möge gebeten werden, dass er den Ruf und die Ehre der Universität höher achte als die eines einzigen Menschen. Die polnische Nation berief sich darauf, dass eine Aus- söhnung mit Aesticampian der Universität wenig Nutzen und Frieden, sondern vielmehr Gefahr und Zwist, wie man schon erfahren habe, bringen würde. Sie rieth den Fürsten zu er- suchen, dass er der Universität helfe, die Sentenz aufrecht zu erhalten und dass er die ganze Universität höher schätzen möge als einen Menschen, dass nicht bei gegebener Gelegen- heit kühnere und schlimmere gegen die Universität aufstünden, da doch die Universität nicht in Streit, sondern nur in Frieden Fortschritte machen und zunehmen könnte. Auch sie bedrohte Aesticampian nochmals mit der Exclusion und deputierte den Laurentius Zoch aus Halle zu den früheren abgesandten für die Ueberbringung der Antwort an den Fürsten. Ganz ähnlich äusserte sich die meissnische Nation. Hatte die Intercession des Herzogs nicht gefruchtet, so war es wol selbstverständlich, dass eine Appellation des verurtheil- ten an seine eigenen Kläger und Richter, bei welcher es sich nur um eine Strafenänderung handeln konnte, kein besseres Schicksal zu erwarten hatte. Zudem hatte man, um jede Al- terierung des Urtheils unmöglich zu machen, schleunigst die Relegation öffentlich bekannt gemacht. Trotzdem versuchte Aesticampian die Appellation, und am 9. October wurde darüber verhandelt. Sämmtliche Nationen verwarfen sie als frivol. Die Meissner betonten, dass sie nach schon erfolgter Ausführung der Sentenz eingelegt worden wäre, und war für Abweisung des appellierenden unter dem Zusätze „salva reverentia sumini pontificis", welcher uns schliessen lässt, dass Aesticampian mit einer Appellation an den Papst gedroht haben inuss. Daher bezeichnen wol auch noch besonders die polnische und meiss- nische Nation die Appellation als Eidbruch. Aesticampian war durchaus nicht gewillt, seiuen freiwil- ligen Weggang in einen gezwungenen umwandeln zu lassen, )igitized by Google Bauch, die Vertreibung des Aestieanipianus aus Leipzig. 27 mit der Appellation an den Papst Julius IT. war es ihm voll- kommen Ernst und, um seinem Ansuchen bei der Curie Nach- druck zu geben, entschloss er sich selbst nach Rom zu gehen. Auffällig ist hierbei, dass er die Instanz des Kanzlers der Leipziger Universität, des Bischofs von Merseburg, ganz um- gieng, und anderseits müssen doch die Intriguen seiner Gegner ihm Anknüpfungspuncte genug gegeben haben, dass er den romischen Hof zu behelligen wagte und ein günstiges Resultat hoffend gewiss grosse Kosten auf sich nahm. Auf der Reise nach Italien begleitete ihn sein Schüler Caspar Börner.1) Sein Weg führte ihn über Freiburg im Breisgau ; dort wenigstens, wissen wir, verweilte er im Ge- folge des Kaisers. UrbanusRhegius genoss dort seinen Um- gang und hat uns in einem enthusiastischen Briefe ein leben- diges Bild der anregenden Persönlichkeit des Rhagius hinter- lassen.2) Ob Aesticampian an dem Hofe seine Leipziger An- gelegenheiten verfolgte, lässt sich nicht feststellen, wie sich auch nicht belegen lässt, dass er hier seinen zweiten Dichter- lorbeer erhielt. Eins nur ist uns überliefert, dass er gegen die Gebühr von 100 Gulden ein Privilegium erhielt, vermuthlich als kaiserlicher Pfalzgraf sechs gekrönte Dichter zu creieren.3) Um jene Zeit war Aesticampians leicht erreglicher Freund Wimpfeling mit Jacob Locher Philomusus in Streit ge- rathen4) und hatte gegen diesen ein Pamphlet geschrieben: Contra turpem libellum Philomusi Defensio theologie scholastice, & neotericorum*), worin er sich in der Hitze des Gefechtes nicht nur von dem fortgeschritteneren Flügel der Humanisten los- sagte, sondern zugleich eine starke Schwenkung nach der scho- lastischen Seite vollzog. In den Ausführungen des Buches be- zeichnete er die „unfruchtbare und schauspielerhafte Erklärung 1) Furiebris oratio habita in laudero Petri Moselhini, a Joanne Mus- 0. lero Ottingenai, s. 1. e. a. 8°. Göttingen, Univ.-Bibl. 2) Ch. G. Wilischiuß, Arcaoa bibliothecae Annacbergensis, Lipsiae 1730, 8°, 110. 3) Nach einem abschriftlich erhaltenen, undatierten Briefe Wim- pfelings an Brant, den ich der Güte des üerru Professora C.Schmidt verdanke. 4) C. Schmidt, Histoire litteraire de l'Alsace, Paris 1879, I, 67. 5) S. 1. o. a. 4°. Mönchen, Hof- und Staatabibl. Digitized by Google 28 Bauch, Uio Vertreibung des Aeaticauipiaiuiti aus Leipzig der Dichter als geriug zu schützen" und behauptete, die Kenntniss der Dichter sei weder für einen Theologen oder Ju- risten noch Mediciner von Bedeutung, kurz, tauge zu nichts für das praktische Leben. Nieraals hätten die Dichter Praerogative besessen, daher köune er sich nicht genug verwundern, dass der poetische Lorbeer für eine so grosse Würde und Auszeich- nung geachtet werde, dass derjenige, welcher ihn erlangt, wenn auch ein Verächter alier anderen Wisseuschaften, ja ihrer gänzlich unkundig, vor allen anderen, und zwar den gelehrte- sten Männern, den Primat unter allen Magistern der Philo- sophie usurpierend, die erste Stelle an der Tafel, bei den Pro- cessionen und in den Schulen beanspruche, ja gegen alles Recht Aufnahme in die Universitätsconcile verlange, während er doch gar keinen Grad besitze, ausser dass man ihn als Poeten begrüsse, wenn überhaupt in der Poesie ein Grad genannt zu werden verdiene, da sie nur m ein kleines Theilchen der einzigen Grammatik sei, die doch von allen freien Künsten als die unterste dastehe, in der Poesie, die kaum den Namen einer Wissenschaft oder freien Kunst verdiene, da sie sich weder auf irgendwelche Principien stütze, noch in ihr Beweise geschmiedet, noch Schlussfolgerungen, welche allein des Wis- sens werth seien, hervorgelockt werden könnten. Daher könne er jene nicht loben, welche es erzwungen hätten, dass die blossen Poeten, die Lehrer keiner Wissenschaften, in die Con- cile der gelehrtesten Männer aufgenommen würden, diejenigen Poeten besonders, welche die ganze scholastische Theologie mit Esolsunrath verglichen. Im sechsten Capitel nimmt Wimpfeling allerdings von seinen Vorwürfen eine ganze Reihe christlicher Dichter aus, darunter neben Rcuchlin, Braut, Busch, Bebel, Eobauus Hessus, Gresemund, Ortviuus Gratias (!) u. a. auch Johannes Aesti- campianus, aber man kann sich leicht vorstellen, wie die viel- fach über das Ziel hinausschiessenden Angriffe Wimpfelings auf den aus Leipzig durch die Scholastiker vertriebenen Aesti- canipian wirken mussten. Seine Rede in Leipzig ist in vielen Stellen gerade das Gegentheil der Wimpfelingischeu Elueubra- tionen, die einer Glorificierung seiuer Gegner gleichkommen. Das war wol Grund genug, um seiner Freundschaft mit )igitized by Google Bauch, die Vertreibung des Aesticampionus aus Leipzig. 20 Wimpfeling einen argen Stoss zu geben. Hierzu kam noch, dass er sich durch die Herabsetzung des Dichterlorbeers in seinem Privilegium geschädigt sah. Endlich fürchtete er von dem Buche Eintrag für die humanistischen Studien überhaupt Als er daher Wimpfeling besuchte, überschüttete er ihn mit Vorwürfen und drohte sogar, dass er gegen das Buch schreiben würde, und nur halb besänftigt verliess er ihn, um mit seinen Reise- gefährten weiter zu wandern. In Rom erwarb Aesticampian die theologische Doctor- wttrde1) und setzte es auch durch, daas das Verfahren gegen die Leipziger Universität aufgenommen wurde. Der Papst er- nannte für die Entscheidung des Falles den Doctor artium et utriusque iuris Henning Goede in Wittenberg zu seinem iudex delegatus.8) Die Leipziger Universität wurde nun aufgefordert, vor diesem zu erscheinen, und zwar erhielten persönliche Vor- ladung der Rector des Sommersemesters von 1511 Johann Sperber und der Syndicus der Artistenfacultät Johann Kol, Die Universität fasste die Angelegenheit, wie sie es mit Recht konnte, nicht als persönliche, sondern als die Gesammtheit betreffende auf und trat daher am 17. September 1512, unter dem Rectorate des Konrad Tockler aus Nürnberg, zu einer Berathung zusammen, um Procuratoren von Universitäts wegen zu erwählen. Die sächsische Nation ernannte zum Advocateu den Doctor iuris Petrus Freytag und den Collegiaten des Fürstencollegs Magister Wolfgang Blick zum Syndicus der Uni- versität; diese sollten sich mit einem legalen Notare zu Goede begeben. Auf Doctor Frey tag fielen auch die Stimmen der bairi- schen und meissnischen Nation, die polnische deputierte Wolf- gang Blick. Der Endbeschluss und das Ergebniss der Ver- handlungen mit Goede fehlen uns leider. Eine andere Universitätsversammlung unter dem Rectorate des Sebastianus von der Hey de (Myricius) am 14. März 1513 beschäftigte sich mit derselben Sache. Wiederum wurde Wolf- gang Blick als Syndicus bevollmächtigt, die sächsische Nation wollte ihm die Doctoreu Freytag uud Zoch zugesellt wissen. Um diese Zeit war aber das Gerücht nach Leipzig gedrungen, 1) Funebris oratio. 2) Für das folgende: Liber conclusorura 157—158 und 161b— 162b. Digitized by Google 30 Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aue Leipzig. dass Papst Julius gestorben sei, und die polnische Nation be- merkte daher in ihrem Votum, dass der Syndicus Blick dem iudex delegatus einwerfen solle, dass durch den Tod des Papstes, falls er sich bewahrheite, sein Amt erloschen sei. In der That war Julius im Februar abgeschieden, und dieser Zwischen- fall scheint die Universität aller weiteren Verhandlungen uber- hoben zu haben, wenigstens finden wir in dem liber conclu- sorum et actorum universitatis nichts mehr davon eingetragen. Wir werden jedoch sehen, dass die Angelegenheit in einer anderen akademischen Quelle später noch Blasen wirft. Aesticampian wandte sich von Rom nicht direct nach Deutschland zurück, sondern gieug, um zu den vielen Hoch- schulen, die er schon kannte, noch einen, und zwar einen der berühmtesten Mittelpuncte der Gelehrtenwelt hinzuzufügen, von Italien aus nach Paris1), wo er auch als Lehrer auftrat. Seine deutschen Landsleute waren dort aber mit ihm eben nicht zu- frieden. Am 8. Juli 1512 schrieb gewiss nicht ganz ohne Recht Johann Hierher2) ans Paris an Michael Hummelberger, dass an Stelle des verehrten (erkrankten) Hieronymus Aleander ein gewisser Aesticampianus lehre, auch ein Deutscher, der aber ziemlich geschwätzig und im Vortrage schwülstiger als erlaubt sei , der den Deutschen statt einer Ehre eine Last sei und sich zu Aleander wie die Gans zum Schwane verhalte. Er erklärte dort die drei ersten Bücher de doctrina christiana des h. Augustinus.3) Von hier begab er sich nach Cöln, wo wir ihn im Anfange des Jahres 1513 finden.4) Aber mochten die Leip- ziger Drohungen, dass man den befreundeten die Ursachen seiner Relegation mittheilen würde, wirklich ausgeführt worden sein, oder war die Kenntuiss der Leipziger Vorgänge durch das Gerücht nach Cöln gedrungen, oder führte endlich schon die Stellung der Universität zum Humanismus bald zu Con- 1) Wiliechius, a. a. 0. 2) Horawitz, Analecten zur GeBch. des Humanismus in Schwaben (1612—1518), in: Sitzuugsber. der phil.-hist. Cl. der Wiener Ak. der W. 8G. Band, 1877, S. 230. Für hic (?) ist dort nach dem Orig. hui zu losen. Vergl. dann noch Cod. lat. Monac. 4007 Bl. 20. 3) Krafft, Briefe und Dokumente, 139. 4) Krafft, a. a. O. 138. Digitized by Google Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 31 flicten, es gelang ihm nicht, daselbst festen Fuss zu fassen. Er nahm in Cöln seine Plinianischen Vorlesungen wieder auf1) und sammelte auch hier eine Schar tüchtiger J (Inger. Petrus Mosel lan us schloss sich ihm hier an und Jacob Sobius, auch Caspar Borner erscheint hier wieder als sein Schüler.2) Als Aesticampian das vierte Buch de doctrina Christian a behandeln wollte, wurde ihm, wie in Leipzig, ein öffentliches Auditorium verweigert3), und da ihm der noch schwebende Process mit Leipzig ein weiteres ankämpfen gegen das Uebel- wollen der anderen Universitätslehrer verleidete oder unräthlich erscheinen lassen musste, so verliess er Cöln, um in der Heimat die Gründung einer eigenen Schule zu versuchen.1) Auf der Reise berührte er Erfurt und verweilte hier einen Tag hochgeehrt unter den Anhängern des Humanismus. Be- geistert singt Eobanus Hessus, dass er das einfache Mahl in Gesellschaft des Rhagius den Tafeln der Götter vorziehe5) und der Gothaer Kanonicus Mutianus Rufus, der Mittelpunct des Kreises der Erfurter Humanisten, machte seinen Freunden Heinrich Urban und Petreius Eberbach Vorwürfe, dass sie die fiir sie ehrenvolle und nutzbringende Gelegenheit, dem berühm- ten Manne ihre Aufwartung zu machen, versäumten.6) Die gerade Strasse Aesticampians führte weiter über Leipzig, und er hielt es nicht für nöthig, einen Umweg zu machen; bei Franz Lenhardt stieg er ab.7) Die Universität 1) Henr. Com. Agrippae ab Nettesheim operum pars posterior, Lagduni per Beringos fratres, 8°, Epp. VII, XXVI. 2) Funebris oratio. 3) Krafft, Aufzeichnungen des schweizerischen Reformators Heinrich Bullinger, Elberfeld 1875, 45. 4) Warum Krafft (Briefe u. Dokk. 141) eine zweimalige Vertreibung des Rhagius aus Cöln annimmt, ist mir nicht ersichtlich. 5) Operum Helii Eobani Hessi farragines duae. Halae Suevorum Anno XXXIX, 8°, Bl. 250. Bresl. Stadtbibl. 6) Conradi Mutiani Ruß epistolae (Ms. der Stadtbibl. in Frankfurt a. M.) Bl. 217 und 218b, drei Briefe Mutians an Heinrich Urban, abge- druckt Ton Krafft, Briefe u. Dokk., 200. Krafft datiert den zweiten Brief, hat aber aus Versehen ein Blatt überschlagen und das Datum von No. 347 genommen. Das Datum stimmt für deu dritten Brief. 7) Liber actorum et tractatuum inter senatum et universitatem, Ms. des Leipziger Universitatsarchives, 12b. 32 Bauch, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. erhielt sofort Nachricht "von der Ankunft des relegierten und wendete sich an den Bürgermeister mit der Bitte: „mit yme zu gebaren als er woest". Der Bürgermeister antwortete, dass er sich mit „seinen Herren", dem llathe, deswegen bereden werde, und so gewann Aesticampian Zeit, seinen Weg unbe- lästigt fortzusetzen. Zu derselben Zeit befand sich auch Doctor Henning Goede in Leipzig. Die Universität sandte ihren Notar zu ihm und bat ihn, er möge als iudex causae mit Aesticam- pian reden, dass er sich schleunigst von dannen mache. Goede versprach der Uuiversitiit zu Willen zu sein, traf aber Rhagius nicht mehr au, und warnte die Universität, als er erfuhr, dass ein Theil der Professoren daran dachte, Aesticampian jetzt wegen Ungehorsams zu excludieren, vor einer Uebereilung, da durch die Appellation Aesticampians die Relegationssentenz schwebe und nicht in Kraft getreten sei. Das ist die letzte Nachricht, welche wir über den Process des Rhagius und der Universität Leipzig besitzen, das wahr- scheinlichste ist wol, dass die ganze Angelegenheit ohne eine Entscheidung eingeschlafen ist. Rhagius gehörte zu den Menschen, an denen das Schicksal, nachdem sie einmal von Missgeschick heimgesucht worden sind, auch weiter seine Tücken zu üben fortfahrt. In Cottbus, wo er sich im Anfange des Jahres 1514 einen neuen Wirkungs- kreis durch Gründung einer lateinischen und christlichen Schule (so nannte er die Schule, um, wie er sagt, den bellenden Hunden die Mauler zu stopfen) zu schaffen versuchte1), scheint er nicht zu erfreulicher Thätigkeit gekommen zu sein, denn schon im Beginne des nächsten Jahres2) eröffnete er in Frei- berg im Erzgebirge eine schola latina et christiaua.3) Der Doctor der Medicin und Rathsherr Ulrich Uuel und Magister Nicolaus Hausmann hatten seine Berufung nach Freiberg veranlasst. Aesticampian zog als Schüler und zugleich als Gehilfen bei seinem Werke Jacob Sobius, Caspar Borner 1) (Joach. Camerariu8), Libellus alter, epistolas complectcns Eo- bani etc. Lipsiae, 1667, 8°, J 8b. Bresl. Stadtbibl. Auch Krafft a. a. 0. 143. 2) Vorrede der oben citierten Cicero-Ausgabe, auch Krafft a. a. 0. 3) M. Hempel, Libellus I). Hieronymi Welleri etc. antea nunquam • editus, Lip*iae 1581, 8°, 70. Bresl. Stadtbibl. Digitized by Google Baach, die Vertreibung des Aesticampianus aus Leipzig. 33 und Petrus Mosellanus zu sich nach Freiberg. Die Wirksam- keit Aesticampians, so grossen Anklang sie bei alt und jung fand — der Theologe Hieronymus Weller, dessen talentvoller Bruder Petrus und der nachmalige kurfürstliche Rath Wolf- gang von Lüttichau ') befanden sich hier unter seinen Hörern — , erreichte aber schon 1517 ihr Ende, weil die Mehrzahl der Mitglieder des Käthes der Stadt meinte, dass die Erhaltung einer höheren Schule neben der vorhandenen Trivialschule nicht von Nöthen sei. Dem vielgeprüften öffneten sich gastlich die Pforten der Universität Wittenberg, am 20. October 1517 wurde er daselbst als erster Professor der Plinianischen Gelehrsamkeit intituliert.8) Wenige Jahre lehrte und lebte er noch hier friedlich in Freund- schaft mit Philipp Melanchthon und Martin Luther; er starb am 31. Mai 1520. s) Nachtrag. Zu S. 31 ist berichtigend anzumerken, dass Eobanus Hessus und Aesticampianus in Frankfurt an der Oder zusammentrafen, wohin Aesticampianus bei seiner Heimreise einen Abstecher machte (nach der Nachschrift des oben be- nützten Briefes des Aestic. an Mutianus Rufus, Libellus alter 18b). 1) Vorrede zu Hempel, Libellus. 2) Foersteraann, Albnm Vitebergeose, 69. 3) Hempel a. a. 0. Archiv r. Litt.-ümch. XIII Digitized by Google Arehivaüschc Nachrichten über die Theaterznstände der schwäbischen Reichsstädte im 16. Jahrhundert. L Von Karl Trai'tmann. Die nachfolgenden Mittheilungen fassen die Resultate einer systematischen und eingehenden Durchforschung der von den Literarhistorikern bisher wenig beachteten Archive der ehe- maligen schwäbischen Reichsstädte zusammen. Aus dem massenhaften und für die Kenntniss der Culturverhältnisse so wichtigen Material, welches uns in den Rathsprotokollen und Stadtkammerrechnungen vorliegt, wurde sorgfaltig alles aus- geschieden, was für die Geschichte des Schauspiels und der damit zusammenhängenden Factoren von Interesse oder Be- deutung sein konnte. Diese allerdings ziemlich spärlichen Nachrichten fanden eine willkommene Ergänzung in den mit- unter sogar schon für das 16. Jahrhundert in überraschender Reichhaltigkeit vorhandenen Theateracten. Gleichzeitig wurden auch die handschriftlichen Schätze der städtischen Bibliotheken und was sich hier und dort noch im Besitze einzelner Familien erhalten hat, in den Kreis der Forschungen hereingezogen. Den Originaldocumenten soll in erster Linie das Wort ge- lassen werden; die wichtigsten derselben gelangen entweder in ihrem ganzen Umfange oder doch in ihren interessantesten Theilen zum Abdrucke. Was deren Wiedergabe betrifft, so ist zu erwähnen, dass der orthographische Charakter des Schriftstückes soweit als möglich gewahrt wurde. Eine Ab- weichung von der Vorlage erlaubte ich mir in dem Gebrauche der grossen Anfangsbuchstaben, welche nur bei Eigennamen und in Titulaturen zur Verwendung kamen, ferner in Auf- hebung der willkürlichen Trennung zusammengesetzter Worte )igitized by Google Trautmann, die Theaterzuetände der schwäb. Reichsstädte im 16 Jahrb. 1. 35 und in der Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen s und f. Abkürzungen wurden zwischen runden Klammern ergänzt; die Interpunction folgt den modernen Principien. Schliesslich sei bemerkt, dass unsere Untersuchungen vor- erst die Städte Nördlingen, Augsburg, Ulm, Kempten, Kaufbeuren und Lindau umfassen werden. Nördlingen.') Nördlingen nimmt im 10. Jahrhundert unter den schwä- bischen Reichsstädten eine ehrenvolle Stellung ein. Gelegen an dem Kreuzungspuncte der grossen llandelswege, die von Venedig nach Nürnberg, vom Rhein zur Donau führten2), entwickelte die Stadt — zur Zeit ihres höchsten Aufschwunges kaum über 10000 Einwohner zählend3) — eine rege Thätig- keit auf dem Gebiete der Künste und Gewerbe, ohne gleich- wol mit Schwabens Culturmittelpuncten Ulm und Augsburg wetteifern zu können. Es ist also ein immerhin bescheidenes Gemeinwesen, das sich unserer Betrachtung darbietet. Umso- mehr muss man überrascht sein, hier auf eine verhültniss- mässig reiche Entfaltung des dramatischen Lebens zu stossen. Das Material, auf Grund dessen wir ein Bild von Nörd- lingens Theaterzuständen im 10. Jahrhundert zu entwerfen versuchen, ist dem wolgeordueten städtischen Archive ent- nommen und wurde uns vom Vorstande desselben, Rector Oh. Mayer, in liebenswürdigster Weise zur Verfügung ge- stellt. Die reichste Ausbeute gewährten die mit dem Jahre 1546 beginnenden Acten über Theater und Meistersünger; be- merkenswerthe Ergänzungen boten ausserdem die leider für das 16. Jahrhundert nur lückenhaft erhaltenen Rathsprotokolle, einige Urkunden über Schulwesen und die schöne Sammlung der in seltener Vollständigkeit vorhandenen Stadtkammer- 1) Das beste Bild von Nördlingen« Geschichte bietet das leider noch nicht, vollendete Werk des Stadtarchivars Cb. Mayer „Die Stadt Nördlingen, ihr Leben und ihre Kunst im Lichte der Vorzeit. Nörd- lingen 1877", wo auch zahlreiche Nachweise über die einschlägige Literatur zu finden sind. 2) L. Müller, „Die Reichsstadt Nördlingen im schmal kaldischen Kriege. Nördlingeu 1877" S. 21. 3) Mayer a. a. 0. S. 28. 3* Digitized by Google 36 Trautmann,dieTheaterzuatande der achwab. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. rechnungen. Hervorgehoben inuss jedoch werden, dass die eben angefahrten Quellen trotz ihrer Reichhaltigkeit eine lücken- lose Darstellung nicht zulassen. Hauptsächlich sei in dieser Beziehung auf die Unzuverlässigkeit der Rathsprotokolle hin- gewiesen. Die Beschlüsse des Käthes in weniger wichtigen Angelegenheiten, und als solche betrachtete man ja meistens dramatische Aufführungen, zumal wenn sie von den gegen Ende des Iß. Jahrhunderts zahlreich auftretenden Wander- truppen ausgiengen, scheinen nicht in die Protokolle eingetra- gen worden zu sein. Entweder wurde die Entscheidung auf mündliche Anfrage mündlich ertheilt oder nur auf der Rück- seite der vom Bittsteller eingereichten Eingabe in kurzen Worten vermerkt. Gieng nun die Eingabe, wie es leider nur zu oft vorkam, verloren, so hinterliess das Gesuch in beiden Fällen keine Spuren. Es wäre daher unrichtig, aus dem oft jahre- langen schweigen der Rathsprotokolle auf ein ermatten des dramatischen Lebens schliessen zu wollen. Die Gliederung unseres Stoffes ergibt sich von selbst. Wir unterscheiden 1) das Volksschauspiel in den Händen der Mei- stersänger und Handwerker; 2) die lateinische und deutsche Schulkomoedie; 3) die Aufführungen der Wandertruppen. Was die zeitliche Begrenzung betrifft, so muss erwähnt werden, dass wir unsere Untersuchungen bis 1634, dem Schreckensjahre der Belagerung Nördlingens, ausgedehnt haben. Die theatralischen Gepflogenheiten des 16. Jahrhunderts leben unverändert bis zum Beginne des Dreissigjährigen Krieges fort; dieser selbst aber bezeichnet auch für Nördlingen einen Wendepunct: das Ende des auf einheimische Kräfte sich stützenden Theaterlebens. In Nördlingen bilden die Meistersänger1) den Kern, um welchen sich die theaterfreudigen Elemente der Bürgerschaft gruppieren. Ueber auftreten und Verbreitung der „holdseligen Kunst" in der alten Reichsstadt, über die Thätigkeit der ein- heimischen Meistersänger haben wir nur dürftige Nachrichten. Die Liedersammlungen, Privilegien, Tabulaturen und sonstigen 1) Ueber die Meistersanger in Nördlingen vergl. eine Abhandlang bei Weng und Guth, „Da* Ries, wie es war und wie es ist. Nördlingen o. J. (1836)", Hea I, S. 87 -88; Heft II, S. 3—12. Enthält nur allge- meine Romerkungen ohne arcbivaliscbt* Grundlage. Digitized by G Trautmann, die Theaterzustände der scb wäb. Reichsstädte im 1 6. Jahrb. I. 37 Satzungen der Gesellschaft sind verloren gegangen; es fehlen daher genügende Anhaltspuncte, um Dichter wie den Schuster Curandi, einen Gesellen von Hans Sachs, Johann Zihler1), Hans Schreier oder Zant2) würdigen zu können. In der Localtradition ist die Erinnerung an sie, wie an das ganze Leben und Treiben des Meistergesanges überhaupt, vollständig erloschen. Zum ersten Male in den Acten erscheinen die Meistersänger „1539 ultimo januario" unter dem Rubro „Mei- stergesang" im Rathsprotokolle, wo es heisst: „Ist dem jungen Buttschbacher zugelassen ein singschul zu halten".3) Jedoch wird schon in der Donau wörther Stadtchronik4), welche der Kaisheimer Conventual Johannes Knebel in den Jahren 1528 und 1529 zusammenschrieb, die Nördlinger Schule rühmend erwähnt: „Dise schul deß maistergesangs waß nu an vil an- dern orten vnd stotten, alß Augspurg, Nurenberg, Vlm vnd Norling [Nördlingen], da vil guter maistersinger wasen, die auch dem gesang weit nachzochen". Ja, als im Jahre 1514 die Stadt Donauwörth zu Ehren Kaiser Maximilians I. ein grosses Meistersangerfest veranstaltete, hatten auch, wenn wir 1) Beide nennt als Meistersänger das Werk von Jobannes Müller, „Merkwürdigkeiten der Stadt Nördlingen, nebst einer Chronik etc. Nörd- lingen 1824". Uebrigens sei bemerkt, dass Hans Sachs einen Lobsprtich auf Nördlingen verfasst bat. Vgl. „Dichtungen des Hans Sachs. Erster Theil. Geistliche und weltlicho Lieder. Herausgegeben von Karl Goe- deke. Leipzig, F. A. Brockbaus 1870" S. XLIII. [lieber die in der Handschrift M 217 der Dresdner Bibliothek vorhandenen, vermuthlich eigenhändig niedergeschriebenen fünf Dramen Zihlers: Ruth, Vermäh- lung Isaacs, Kindheit Mose, Jael mit Sissera, Jepbta, behält sich Verf. vor, bei einer späteren Gelegenheit Bericht zu erstatten. — S. v. C] 2) Wird genannt bei Scbröer, „Meistersinger in Oesterreich", in den „Germanistischen Studien" herausgegeben von Bartsch Band II (1876) S. 231. 8) Ich entnehme diese Notiz dem Werke von D. E. Beyschlag, „Bey träge zur Kunstgeschichte der Reichsstadt Nördlingen. Zweites Stück. (Von der Formschneiderey und Buchdruckerkunst.) Nördlingen 1799" S. 15. Das Rathsprotokoll von 1639 hat sieb in Nördlingen nicht mehr vorgefunden. 4) Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg. Dritter Jahrgang. Augsburg 1876, S. 108, in einor Notiz von Dr. L. Baumann, „Die Meistersänger und ein Volksfest zu Donauwörth", wo aus eben dieser Chronik interessante Mittheilungen über den Meister- gesang in Donauwörth beigebracht werden. Digitized by Google 38 Trautmann, die Theaterzuat&nde der Schwab. Reichsstädte im 16. Jahrb. I. Königsdorfer l) Glauben schenken wollen, Nördlinger Sänger dem an die Nachbarstädte erlassenen Aufrufe Folge geleistet. Diese aus gedruckten Werken entnommenen Mittheilungen über den Nördlinger Meistergesang im allgemeinen werden durch einige Urkunden des Archives ergänzt. Wir müssen an dieser Stelle bemerken, dass schon im Jahre 1521 bei der Bürger- schaft Nördlingens die Reformation2) Aufnahme gefunden hatte, denn gerade ihre Bedeutung für Pflege und Ausbreitung des wahren göttlichen Wortes ist es, was die Meistersänger in den Eingaben an den Rath mit Vorliebe und meistens mit Erfolg geltend machen. Im August des Jahres 1554 wendet sich die Gesellschaft an den Rath mit der Bitte, ihr mehrere in städtischer Ver- wahrung befindliche Kleinodien, auf welche sie ein Anrecht hat, zu überlassen: „Fursichtige, Ersamen, Wollweisen, Günstige, Gebietent, Liebe Heren. Nachdem vnd sich bisher ein erbar gesellschafft, die mei- stersinger vnd burger alhie, die Teutsche maistergsang aus heilliger götlicher schrifft ym brauch vud vbung gehalten, Got dem Aller- höchsten zu preis, lob vnd ehr, auch zu auspreittung seines gott- lichen worts vnd einem ieden geistlichen zuherer zu nutz vnd beßerung. Dieweil aber an vill vnd mancherlei orten, von alter her vnd noch breuchlich ist, das man bei solchem meistergsang in schullen, ein ketten oder krön hat, damit man diejennigen singer verehret, so mit gesang das best thon, welche kleiuot nichts änderst dun die kuust ziren, vnd nachmals die singer zu nierrer vbung reitzeu, ist einer gsell.>chafft derohalben anzeligt word(en), wie die alten m eiste rsiuger alhie ein ketten vnd krön, desgleichen Maria bilt vnd einen adler vor iaren gehabt, diesclbigen letzlich E. F. E. W. vberantwort, vnd villeicht noch möcht vorhanden sein; weill aber ein geselschafft sich inert vnd teglich zunirapt, ist sie willens vnd vermeint E. F. E. W. sollten ietz gemelte kleinot, die ketten vnd adler vnd sunst nichts mer, widerum mittheillen, doch in der meiuuug ein gselschafft will solche gnugsam veicaution- uiren oder E. F. E. W. mag 3 oder 4 aus vnser geselschafft selbs uemen vnd in solches vberantworten vnd so sich wurde vber lang oder kurtz zutragen, d(a)s dise vnser gselschafft wider abging, sollen 1} Geschichte de» Klosters zum Heil. Kreutz in Donauwörth. Donau- wörth 1819. Krater Band, S. 326. 2) Urber Nördlingens Reformationsgeecbichte vgl. Mayer a. a. O. S. 212-265. )igitized by Google Trautmann, die Theaterzustände der schwäb. Reichsstädte im IG. Jahrh. I. 39 doch die ehegenanten kleinott E. F. E. W. in aller stalt vnd mag wider on allen schaden zugestelt werden. Auf solches laugt Groß- guustige Heren ein gantze gselschaftt an E. F. E. W. mit vndertheuig bitten vnd begeren, E. F. E. W. wolle genanter gselschafft solchen gunstigen willen erzeigen vnd ine solche kleiuot mittheillen; will ein gantze gsellscbafft vm E. F. E. W. mit aller vnderthenigkeit gehorsamlich beschulden vnd in ander weg zuuerdiennen willens sein; hiemit E. F. E. W. vnderthenige mitburger, die ineistersinnger." Dein Gesuche wurde Folge geleistet, wie aus zwei Ein- trägen im Rathsprotokolle hervorgeht: 1554 (Sitzung vom 8. August): „Die meistersinger bitten vmb die krön, mariapildt vnd adler, wie vor alters hcro jre geselschaflt gehapt, jne wider zuzestellen vnd zuvberantworten, erpietten sich deß zuuercautiouuiien. Ist jne ains tails diser kleinot, souer sie noch vorhanden, be- willigt." 1554 (Sitzung vom 10. August): „Maistersingern, den ist aiu silbern klainot, neinlich 1 keltino, daran eiu fraweupildt, 1 krön vnd dor buchstab M hangendt (zu übergeben). Sollen aber, wie es vor allters gehalten zu den rechuern gehn vnd solchs lasßen einschreyben vnd caution zuthun, damit es nit abhanden komme." Die hier erwähnten Kleinodien haben sich bis auf den heutigen Tag als Eigenthum der St Georgskirche in Nördlingen erhalten und befinden sich gegenwärtig im städtischen Museum.1) Im Jahre 1554 war also die Gesellschaft in kräftigem Auf- schwünge begriffen; die Zahl ihrer Mitglieder mehrte sich vou Tag zu Tag. Lange jedoch hielt dieser blühende Zustand nicht au. Am 8. November 1557 reichten die Merker eiue „Supli- cation" ein, welche uns mit bedenklichen Symptomen allge- meiner Gleichgiltigkeit gegen den Meistergesang bekannt macht: „Fursichtige, Ersamen vnd Wollweise, Günstige, Gebieteut, Liebe Heren; E. F. E. W. wolle vuß gemeine mcrcker vnd meister- singer, burger alhie, vnderthenigklichcn verneinen. Nachdem bißher eine zeit, dem Almechtigen, Got vatter, son vnd heiligem geist zu lob, ehr vnd preiß, auß heillig(er) schrifft das Teutsch meistergesang 1) Eine ausführliche Beschreibung derselben, vou einer Abbildung begleitet, findet sich bei Weng u. (iuth, a. a. 0. — Zwischen Maria-Bild und M, welche beide dein 16. Jahrhundert anzugehören scheinen, wurde später ein Crucitix, zu dessen Fü.^en König David mit Harfe und Psalter dargestellt ist, eingeschoben. Das von einer Krone überragte M dürfte auf Kaiser Maximilian I. hindeuten. Digitized by Google 40 Trautmann, die Theaterzußtände der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. bei E. F. W. jm 51. jare, mit Vergünstigung vnd guttem willen erhebt, auch noch erhalten bis daher; nun aber vneer singschullen dise zeit so gar abnemen, das etwa kam [kaum] in acht oder zehen personnen darzu koraent vnd wir nichts desto wenig(er) vnser eigen gelt vnd kosten einpiesen vnd stutzte iederman an dem losen pfenig den man geben soll, damit wir die schall erhalten vnd die krentz- gwiner verehren, wie den der prauch ist; auch sein die gesellen vnlustig, wan sie singen sollen vnd niemant zuhörte; so doch vnser voreitern nicht so rein vnd klar auß heilliger schlifft gesungen, sondern nun [nur] Maria, die mutter Christi vnd die heilligen ge- preiset vnd damit etliche kleinatter vnd ander dinge mer ervbriget haben, welches wir nicht begeren, sonder wan wir nun dem Al- mechtigen zu lob dise lobliche kunst erhalten künden, vnd an feir- tagen vnser zeit damit vertriben, so doch andre etwan zu spülen, zechen vnd andern dingen mer lust haben, so were diß vnser lust; haben auch disen mangell vnserm pfarhern angezeigt, derwegen vnser buch(er) sehen laßen vnd er selbs bekennet, das dise lobliche kunst dem Almechtigen zu lob, auch gemeinen zuhörern zu guttem zu fUdern sei, dieweill sie der heilligen schrifft gemeß ist vnd dariu gegründet, das Gottes lob damit gemeret vnd vil schant vnd laster dadurch verhindert werden. Auch ist etwan an andern orten vnd ßtetten preuchlich, daß man die singschullen vmbesunst helt, doch jre obrigkeitten denselbig(en) mörker vnd singer ein jerliche Ver- ehrung tbon1), damit man gemelte singschull nach notturfft erhalten kan. Derohalben ist vnser vnderthenigs hochfleissigs pitten vnd begeren an E. F. E. W., das E. F. W. wolle hierin ein genedigklichs einsehen haben vnd vnß auch alle jar ein kleine hillf thon, damit wir dem Almechtigen zu lob, auch zu mer e tu außpreitung seines gottlichen worts dise lobliche kunst in vnser stat noch ferer künden erhalt(en); dan so wollen wir vnser singschull auch jederman vmbe- sunst hören lasen; solchs wollen wir vmb E. F. E. W. mit gehor- samkeit vnderthenigklichen mit guttem geneigtem will(en) widerum beschulden vnd zu ieder zeit geern vnd willigklichen verdiennen. E. F. E. W. vnderthenige, gehorsame mitburger, die mercker vnd singer deß Teutschen maistergesanngs." Diesmal war der Rath den Meistersängern nicht mehr so günstig gesinnt. Er verweigerte den verlangten jährlichen Beitrag mit der Bemerkung „singen zu offt". Glücklicher Weise blieb der Gesellschaft noch ein Hilfsmittel, um die er- wachsenden Kosten zu decken und so ihr Dasein zu fristen: 1) Beides war z. B. in Strassburg der Fall. Vgl. Strassburger Studien etc. herausgegeben von E. Martin und W. Wiegand. Heft I. (1882.) S. 78, 79. Digitized by Google Trautmann, die Tbeaterzustandederschwab. Reichsstädte im 16. Jahrb. I. 4 t dramatische Darstellungen, welche auf die Masse des Volkes natürlich eine ganz andere Anziehungskraft ausüben mussten als die öffentlichen Singschulen, bei denen es manchmal lang- weilig genug hergehen mochte. Auch bei diesen Aufführungen tritt das religiöse Moment in den Vordergrund. Urkundlich begegnen uns die Mitglieder der Gesellschaft als Schauspieler zuerst in einer „Supplication1) der mercker des Teutschen meistergesangs 1553": „Fursichtig, Ersam, Wollweis, Günstig, Gepietent, Liebe Herrn. Nachdem ein erbare gesellschafft, die maistersinger vnd burger alhie, eine schöne geistliche comedia haben dichten lasen, aus heilliger gottlicher ' geschrifft vnd zu lob dem Allraecbtigen, auch von der zeit wegen, so ietz vorhanden, zu halten furgenomen vnd die geschieht zeugnus gibt vnd fugurirt auf Christus ampt, 1er, leiden, sterben, begrebnus, vrstend, ofenparung, himellfart, gotbeit vnd ewigen gewalt, welches E. F. E. W. zum theill gesehen vnd gedachte geseUschaft mit einer ehrlichen geschenck verehret2) De- rohalben sich ietz gemelte gesellschafft aufs allerhöchst bedancken vnd in ander wegen vmb E. F. E. W. zuuerdiennen willens sein vnd aber ein erbar gesellschafft dise historia auf alle feirtag vnd montag pis vf ostern zehalten begerten, doch ein tag nun [nur] ein mal, nemlich die genanten montag von erbaren leutten wegen. Demnach so langt gedachter gesellschafft an E. F. E. W. vnder- thenigs hochfleisig pitten vnd begeren, E. F. E. W. woll jnnen solchen günstigem] willen erzeigen vnd beweisen vnd solche comedia an sontagen vnd montagen also halten lasen. Des begert ein erbare gesellschafft vmb E. F. E. W. in vnderthenigkeit als gehorsame purger widerum zu beschulten vnd zuuerdiennen, pitten E. F. E. W. vm Ein gnedige anttwort. E. F. E. W. vnderthenige vnd gehorsame mittpurger, die mercker des meistersgesangs.a Wir lassen die übrigen, auf dramatische Darstellungen der Meistersänger bezüglichen Actenstücke in chronologischer Ordnung folgen: 1) „Supplication der Maysterainger" (ohne Jahreszahl, etwa um 1559): „Fursichtyge, Ersame, Woll weise, Günstige, Gepietent, 1) Befindet sich jetzt im städtischen Museum. 2) Die Verehrung des Rathes war gerade nicht bedeutend, wie wir aua einem Eintrag in der Stadtkammerrecbnung des Jahres 1553 ersehen können: „Zalt denen, so die hystori von Josepho vnd seinen 11 bruedern, auch jrem vatter Israel etc. recedirt haben, jnn Hanns Straußen weinschenncken haus, wölebe ain Erbar Rhat auch selbs persönlichen angehört Ehrgellt 2 thaler, facit (fol. 87) .... 2 fl. 8 0. 8 dl." Digitized by Google 42 Trautinann, die Theaterzuatftndo der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. 1. Liebe Heren. E. F. E. W. well einer erbar gesellschafft der meister- singer begeren gnedigklich vernemen. Dieweill zu Nürnberg, Augs- purg vnd ander steten preuchlich ist, das die burger vnd nieister- singer comedi dichten vnd agiren, vou der zeit au pis auf faßnacht, welches alles Got zu lob vnd ehr geschieht, dadurch gotteslesterung, spülen, fullerei, hurrerei, zoren, zanck vnd ander schant vnd laster mytt verhindert werden, deshalbe(n) hat ein erbar gesellschafft ein schön euangelisch comedi miteinander gelernet, dieselbig dem er- wirdigen vnserm pfarhern zu ehr vnd wollgefallen in der Lateini- schen schull ofeulich gehalt(en), im beisein der anderu kircben- dienner, auch etlich vuser gUnstige herrn des raths, mer ander burger vnd burgerin, daran menigklich ein wollgefallen gehabt vnd der pfarher zu großem danckh angenomen, mer auch vnß selbs ge- heisen, mir sollten bei E. F. W. vnderthenigklich ansuechen vnd gemelte comedie ander leuten auch halten. Weill aber E. F. W. ietz alle comedi abgeschafft, als wür von dem E. F. W. burger- maister woll bescheiden sein worden; möchte aber F. E. W. vermei- nen, vnser comedi were der heilligen schrifft oder iemant zuwider, mag E. F. VV. vnser pfarhern dämmen verhören, dan eß sein gute mitteil dardurch Gottes lob vnd ehr außgepreittet vnd sein natn gepreiset wurt; weill ietz sonderlich zu vnser zeit alles, das zu Gottes ehr gehört, vndergeett vnd dargegen vill ander schandt vnd laster zuuemen, derhalbefn) ist vnser vnderthenigs pitten vnd be- geren, E. F. E. W. wölle vorgemelte vnser comedi vergünstigen ein sontag, zwen oder drei, ofenlich vor einer burgerschafft zu agiren oder so lang eß E. F. W. wollgefellig were; der jnhalt vnser comedi ist das gantz capittell wie eß Johannes am achten in seinem euan- gelion beschreibt. Jetz bitten wir E. F. E. VV. vmb ein gnedige antworte E. F. E. W. vntertbenige, gehorsaraenu mitburger, die inaistersinger." 2) „Supplication etc. ainer erbam geselschafft der maister- senger daselbst, 1560u [10. DecemberJ: „Ernuest, Fursichtig vnnd Weiß, Gebietentt vnnd Gunstig, Lieb lierrnn. Wiewol wir verschinennß freitags ann E. F. W. vnnder- thenig gelanngenn lassenn, vnnd bitlichenn angesucht, vnnß zuuer- günd(en), zu kunfftigenn weihennachtzeitenn , nebenn dem maister- gesanngenn, auch ain spil oder commedj zuhaltenn, so ist vnnß doch sollichs zweifelsonn auß vrsachen , daß wir jnn vnnseini fürbringenn daß nothwenndigst vnnderlass(en), daraalen von E. F. VV. abgeschla- genn word(en). Vnnd damitt nun E. F. W. vnnser voi hab(en) recht verstee, so kennd(en) E. F. W. wir nochmalnn vnnderthenig nitt verhalt(eu), allß wir vordem mitt E. F. W. vergunst, wie ann- derer genachpartenn stett, nämlich Nurmberg, Augspurg, Vlm, vnnd sondfer jlichen Eßlingen1) maistersinuger jra 1) Laut gütiger Mittheilung desEusliugcr Magistrats befinden sich im dortigen Stadtarchive keine die Meistersänger und deren dramatische Thätigkeit betreffende Urkunden. )igitized by Google TraufcmanD,dieTheaterzn8tändeder8chwftb.Reicb88tädteiml6.Jahrli. I. 43 brauch, vbung vnnd freihaitt haben, alhie etliche com- medj vnnd spil gemacht vnnd gehaltenn, so habenn wir vnnß bißher betiissenn, solliche löbliche kunsst der maistergesanng vnnd commedj neb(en) vnnd mit anndernn genachparten erbarn Stetten jnn vblicbem brauch zubehaltenn vnnd noch kainß anndernn vorhabennß seind, auß Goteß wortt, gemainer statt, aber zuuorderst Gott zu lob vnnd ehrnn darinenn fortzufarnn; derwegenn wir vnnß dann vordem enttschlossenn, auch geiebt vnnd gefast gemacht auf jtztt khunfftige weihennachten nitt allain die maistergesanng vonn der allainseligmachenden gepurtt Christj zusingenn, sonnder auch die- selbige historj ein sontag, zween oder drej, weill jnn der kürchenn auch dauon gehanndltt württ, zuhalltenn, doch gar nitt auß hoffart, bracht oder vonn genieß wegenn, sonnder vilmehr Gott dem Allmechtigenn zu lob vnnd ehrnn, vmb besserung der zuhöror, auch erhaltung, befurderung vnnd erbau lichaitt willenn der geselschafft. Dioweil dann, Gunstige Heran, die spil so anff der Latteinischen schuol die zeitt hero, nit wiss(en) wir, ob eß mit E. F. W. bewilli- gung bescheh(en), vilmehr mit der jugentt schadenn dann nutz ge- halltenn werdenn, sich ennd(lich) dieselb(en) vnnß blatz zugeb(en) bewilligtt, so gelanngtt ann E F. W. vnnser vnnderthenig, höchlich bitt(en), Die wöllen vnnß wie zuuor, zu sollichem christlichenn werckh vnnd vorhabenn, darzu wir vnß allerding versehenn vnnd verfasst gemacht, günstigen willen gebenn vnnd vnß nit enttgelten lassen, waß zuuor auf der schuol anngefanngenn vnnd verbrachtt word(eu); dann solte E. F. W. vnnß hierzu gar khainenn willenn geb(en), deß doch anud(er)nn zugesehenn, tragenn wir die besorg, es werde die geselschafft, so wir mit grosser müe, arbait vnnd vn- cossten erbauett habenn vnd noch gernn souil ann vnnß, neb(en) andernn genachpartten Stetten, erhalten wolt(en), jnn kürz gar zer- ghenn vnnd vertrennt werdenn. Thun also E. F. W. vnnß hiemitt zu gunsten ganntz vnnderthenig befelhenn, zu vnndertheniger gehorsam neben vermüglicheun dienstlichem erbiettenn vnnd hierüber vmb vaterliche gewerung nochmalnn vnnderthenigst höchsts vleiß bi- thende, vnnderthenige gehorsame burger, die maistersennger, ain gantze ehrbare geselschafft.1' Auf der Rückseite: „Ist jnenn verguntt, damitt die geselschnffl nitt zertrent, sond(ern) erhalt(en) werde." 3) ,,Mai8t(er)senng(er) wöllenn aim E.Rat die commedj haltenn" [13. Januar 1570]: „Nachdem nun E. F. E. Weisheitt, vns meister- singer vnd burger alhie, auf vnser bittlich ansuchen die christliche commedj von der alleinselligmachende gepurtt Jesu Christj die weihnachtfeirttag jber vergund hatt zu halten, vud wir dasselbig nun gottlob verricht, thon derhalben aus gehorsammer pflicht E. F. E. Weisheitt vnderthenig bedanken vnd ist ein erbare geselschafft ge- neigt, solche commedj E. F. E. Weisheitt, sampt denen zugethanne Digitized by Google 44 Trautmann, die TheaterzuBt&nde der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. I. vnd wer E. W. darzu liebe(n) wirt, zu halten, auff welche zeitt, ort oder end, wo vud wan es E. F. E. Weisheitten wil gelegen sein, doch jn kürtz, die weil wir noch die kleidung haben vnd gefast sein; thun vns hiemit E. P. E. Weisheitten vnderthenig beuelhen, bitten vmb ginstig antwortt. E. F. E. W. vnderthenige bnrger vnd meister- singer alhie." 4) „ Maist(er)sennger woll(en) ain spill anrichten" [25. Januar 1574]: „E. F. W. Gunstige vnd Gebuedete Herren. Ein erbare ge- selschaft der meistersinger mitsampt etliche burgern vnd geseien haben ein schene tragedj, nemlich die sechs kempfer1), abgeuebt, wie dise für die zwaa stet Rom vnd Alba nach langem krieg vnd schaden gekempft haben, also damit den krieg versonet vnd gestelet vnd zu diser zeit sehr tröstlich vnd foller gnetter exempel, waß ein jder für sein vatterlandt zu thon schuldig ist, beides mit hilf vnd betten; solches begeren wir vor der gemein auf dem brothaus zu halten; bitten derhalben E. F. E. W. wollen vns daß vergunen die fasnacht zur kurtzweil zu treiben. Solches erbietten wir vns vmb E. F. E. W. mit aller vnderthenigkait zu verdenen." Auf der Rückseite: „Sollenn vom h(err)nn pfarer ain schein bring(en) obß erbaulich vnnd nützlich annzuricht(en) , sich ain E. Rat mit beschaid darauff wiß zuverhallt(en). Act(um) 25 januarij, anno 74." 5) „Vnderthenige snplication einer e(rbarn) gesölscbafft der maistersenger albie4' [24. December 1578]: „ErnuöBt, Fursichtig, Ersam, Weiß, jnsonders Ginstig vnd Gepiettunde Herrn.*» Nachdem wir hieund(en) benanntte raitburg(er) Vorhabens sein, ein schön geistlich comedj oder spil, von dem sterbenden menschen vnnd jüngsten gericht, jetzt nach d(er) hailigen zeit zu vben vnd zu halten, derohalben so ist hierauff an E. F. W. vnser sarapt einer erbarn ge- sölscbafft der maistersenger vnd anderer ehrlich(en) personen vnd(er)- thenig bitten, vns sollichs öffentlich zuhalten ginstiglich zulassen, dau wir sollich comedj dermaßen durch götliche hilff mit solchem ernst vnd fleiß firnemen, zieren vnd ins werckh richten wöllen, d(a)s E. F. W. vnd menigklich ein gn. wolgefallen daran sehen vnd haben werden. E. F. W. gehorsame burg(er) Casper vnd Melch. Bart, H(anns) Zeitreg(en), sampt einer e(rbarn) geselschafft alhie." Auf der Rückseite: „Ist bewilligt, jedoch sollen von den zu- sehern mehr nit nemmen, dann bisher gebreuchig geweßen." Den Verfasser des Stückes lernen wir aus dem Rathsprotokolle kennen [1578. Sitzung vom 24. December]: „Meistern der singer ist erlaupt Hans Sachsen comedj von dem jüngsten gericht vnd 1) Vgl. Hans Sachs, herausgegeben von A. v. Keller undE. Goetze (Bibl. d. litt. Vereins) Band 8, 8. 8 u. ff. Digitized by Google Trautmann, dieTheatertustände der Bchwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. 1. 45 sterbenden menschen1) zuhalten, doch das sie von zusehern mehr nit nemen, dann bisher gebreüchig gewesen.1' G) „Vnnderthenige supplication an ain Ersammen Rath d(er) stat Nördlingenn, der meistersinger vnnd ainer gantzen geselschafft daselbst" [14. December 1580]: „Ernueste, Fürsichtige, Ersamme vnnd Weise, Gunstige, Ge- püetende Herrn. Demnach wir dermallen ein gaistliche comedi, vonn dem patriarchen Jacob vnnd seinen zwölff sönnen etc. (wie soliches in dem erstenn buch Mosj vom 37. biß vfla 47. capitull, beedes jnclusiue noch lengs zusehenn ist) zu agiern vnnd zuhallten für- genommen, soliches aber onne E. E. vnnd F. W. vergunst vnnd be- willigung nit volziehen khünden , so gelanngt darauff ann dieselben vnnser aller vnnderthenig pitenn, Sie wöllen vnnß gemelte comedi (wie von allters mehrraallenn beschehen) günstiglichs auf dem ge- wonnlichen hauß hallten zu lassen vergUndenn vnnd daneben etliche breter, damit man die pruckh außbessern khünde, g(ün)st(ig)lich mithaüh en); das seind wir hingegen sampt vnnd sonnders vmb E. E. vnnd F. W. in vnderthenigkait zuuerdienen wie schuldig allso ge- naigt vnnd hierüber g. wilfarig(er) anntwort gewertig. E. E. vnnd F. W. vnnderthenige, gehorsame burger, die maistersinger neben Hanssen Zeitregen vnnd aundern burgern vnnd burgerssönnen, so zu diser comedj helffen." — Hiezu die Bemerkung des Rathsprotokolles (Sitzung vom 14. De- cember): „Maistersinger vnd mitgehilffen supplicirn jnen zuuergünden comediam von sant Jacobe dem patriarchen vnd dessen 12 son vff dem gewonlichen haus zuagirn vnd jnen bretler darzu zugeben. Ist bewilligt die comedj zu halten." — Im Jahre 1580 brachten die Meistersänger noch ein anderes Drama zur Aufführung, wie Einträge im Rathsprotokolle beweisen. Sitzung vom 1. Februar: „Meistersinger piten jnen zuuergünden comediam David vnnd Besabett2) öffentlich zuagirn. Ist bewilligt, jedoch das sie sich mit beßer zucht vnd bescheidenheit, dann zuuor beschehen, erzaigen, auch die leüth nit vbernemen sollen, dann sonsten würd man jne kheine mehr vergunden." Sitzung vom 15. Februar: „Comedienactores erpietensich einem rhat die comediam, zu ehren, jn sonderhait zuhalten. Ist jnen ge- sagt sie mögens heür halten jn gewonlicher stund, dazu meine herrn vnd die jrige nach jrer gelegenhait khomen vnd zusehen mögen." 7) „Vnnderthenige supplication, ann einen Ersamen Rath alhie, der maistersinger sampt jrer geselschafft" [den 30. Januar 1581]: „Ernuesste, Fürsichtige, Ersamme vnnd Wolweise, jnnsonnders Großgunstige Herrn vnnd Obern. E. E. vnnd F. W. werdenn sich 1) Vgl. Hans Sachs, Baad 11, S. 400 u. ff. 2) Vielleicht das gleichnamige Stück von Hans Sachs, Band 10, S. 319 u. ff. Digitized by Google 46 Trautmann, dieTheater&ustände der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. zweiffellsonne wol wissen zuerinnern, wie Sie vnnß vor wenig wucbenn ein comedia, vonn dem ertzpatriarchenn Jacob etc., zuhallten ver- gundt, welichen wir die zeither nachgesetzt; weillenn wir aber in erfahrung pracht, wie wir bey E. E. vnnd W. seynn angebenn wor- denn, alls sollten wir zu demselbenn faßnachtspill hallten vnd agie- renn vnnd dasselbig nun [nur] vonn gewins vnnd gellts wegenn thun. Wir seindt aber in dem vnnd anndern gegen E. E. vnnd W. vnn- güetlich anngeben worden, wöllenn es auch die lassen verantworten, welche dieselbenn halltenn vnnd vnnß hiemit deßhalbenn enntschul- digt habenn. Weillenn aber E. E. vnnd W. vor zwayen jarenn ein tragedia, von Augspurg, vonn Johannem Kernn verehrt wordenn vnnd wir vonn dem herrn pfarer anngesprochenn werdenn, dieselbige zu agieren, welichem wir mit vergunst E. E. vnnd W. nachsetzenn wollen. Dero- wegen, wo vnnd wann es dennselben gelegen were, sein wir er- pietig, E. E. vnnd W. obgemelte tragedia, vonn dem kayser Marco Annthonio zu Rom etc., in vnnd(er)thenigkait zuhalltenn. Verhoffen dar uff vnabschlegige anntwort vnnd thun vnß alle sampt vnnd sonn- ders E. E. vnnd F. W. vnnd(er)thenig beuelhenndt, E. E. P. W. vnd(er)thenige, gehorsame, die maistersinger, sampt jrer geselschafft." Genaueres Uber diese Tragoedie findet sich in der Stadtkammer- rechnung des Jahres 1579 unter der Rubrik „Verehrt den fremb- den": „2*2. August. Johann Keren vonn Augspurg, so aim E.Rath ein tragedia vonn einer edlen Römerin, die sambt 7 jren sönen vmb christlichs glaubens willen zu Rom getödtet worden, vberschickt, ihm gegen verehrt ain reichsgulden i. m. (in Münze) 1 fl. 3 dl." Mit dem Jahre 1581 nehmen die Nachrichten von drama- tischen Aufführungen, welche die Gesellschaft als solche ver- anstaltete, in den Acten ein Ende, ohne dass man jedoch deshalb behaupten könnte, die Zunft habe aufgehört zu be- stehen. Einen wichtigen Factor im bürgerlichen Leben und Treiben bildeten die Meistersänger in Nördlingen niemals; im letzten Viertel des IG. Jahrhunderts aber ziehen sie sich, wie es scheint, vollständig von der Öffentlichkeit zurück. Trotz- dem erfreute sich die Stadt damals, wie ein 1597 zu Strass- burg gedichtetes Meisterlied1) beweist, in den Kreisen der Zunftgenossen als Heimstätte des Meistergesauges einer ge- wissen Berühmtheit. Einmal noch, im Jahre 1594, taucht die Gesellschaft im Rathsprotokolle auf (Sitzung vom 29. April): „Dem collegio der meistersinger alhie ist bewilligt vf den ab- 1) Bei Schnorr, „Zur Geschichte de« dentacben Meistergesangs etc. Berlin 1872" 8. 1. )igitized by Google Trautmann, die Theaterzustände der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. 47 gang Caspar Borten jhr silberine kettin dem alten Grueber zu vertrawen." — Achtzehn Jahre spater stossen wir dann zum letzten Male auf einen Meistersänger, den Schuhmacher Matthäus Koch, welcher im Juni 1612 während der Mess- zeit, mit geringem Erfolge, Aufführungen christlicher Komoe- dien veranstaltet Ob der Meistergesang in Nördlingen die Stürme des Dreissigjahrigen Krieges überdauert hat, vermögen wir nicht anzugeben; doch sei darauf hingewiesen, dass ge- rade die kleineren Reichsstädte mit der grössten Zähigkeit an demselben festhielten.1) Zum Schlüsse sei noch der fremden Sänger Erwähnung gethan, welche nach Nördlingen kamen und den Rath um Erlaubniss baten, Singschulen veranstalten zu dürfen.2) Ein derartiges, am 11. September 1584 einge- reichtes Gesuch hat sich erhalten; es lautet: „Ehrsam, Fürsichtige, Weise Herrn. Nachdem nun durch den hochgelerten herrn Hai u rieh Frawenlob, doctor zn Maintz, ein herr- liche kunst des Teutschcn maistergesanngs a° 900 nach Christi ge- hurt erfunden vund durch Kays. May. Ottonen mit namen, diser zeit regierend, approbieret worden, wie sy dann noch heuttiges tages in vilen reich- vnnd fürstenstätten hochgeliebet vnnd offenliche sing- schuelen vergunnet vnnd zugelassen werden, beyneben aber jeh Jerg Braun von Augspurg sampt meinen mittgesellen Andreas Bawmaister vnnd Abraham Schädling, beede von Augspurg, mit diser vralten hochlöblichen kunst begäbet, zudem auch nach meiner gelegenhait vnnd geschüfften mich hieher in dise weitbe- rüempte reichstatt Nöidling begeben, so gelanngt an Ewer Fürsieht vnd Weißhait mein vnndertheniges bitten vnnd begeren, Sy welle (Gott dem Allmechtigen zu lob vnnd merer ausbraitung seines gött- lichen wortts vnnd heiligen namens) mir auf künfftigen sonntag ein christliche offenliche singschuel anzuschlagen vnnd zu halten ver- günstigen; solches vmb liwrer Fürsieht vnnd Weißheit jn vnnder- thenigem gehorsam der gebür nach zuuergleichen, will ich ieder zeit vngesparet sein. Thue mich hiemit in Ewer Fürsieht vnnd Weiß- 1) Schnorr a. a. 0. S. 24 2) Im Jahr« 1680 erhalt laut Ratbsprotokolls (Sitzung vom 8. Juni) ein „frembder singer" die Erlaubniss, „vffsontag ein singschul zuhalten". 8) Georg Braun und Abraham Sch&dlin waren gleichzeitig deutsche Schulmeister in AugBburg. Vgl. „Beitrage zur Geschichte der deutschen ßchulen Augsburg« etc. von L. Greift". Augsburg 1858" S. 163. Be- sonders der letztere ist eine in den Augsburger Theateracten viel- genannte Persönlichkeit. Vgl. auch W.llers Annalen Band II, S. 287. Digitized by Google 48 Trautmann, die Theatereustände der schwab. Reichsstädte im 1 6. Jahrh. I. heit gnedigem bedennckhen ganntz vnderthenig beuelchen. E. F. W. vndertbeniger vnd gehorsamer Georg Braun von Augspurg."1) Wie man gesehen hat, bildeten die Meistersäuger das leitende Element jener Theaterunternehmungen, deren Schau- spieler aus den Reihen der Bürger hervorgiengen. Neben ihnen und mit der Gesellschaft in keinem Zusammenhange stehend, veranstalteten auch Handwerker dramatische Aufführungen, welche jedesfalls, wenigstens in Bezug auf Darstellung und Inscenierung, nur den bescheidensten Ansprüchen Genüge leisten mochten. Kartenmacher, Glaser, Goldschläger treten als Ge- suchsteller auf. Das Unternehmen trägt immer einen privaten Charakter; die Anregung und Durchführung geht niemals von den betreffenden Zünften selbst aus. Die Darsteller sind meistens junge Leute; Hans Sachs scheint der Dichter gewesen zu sein, dessen Stücke sie mit Vorliebe auf die Bühne brachten. Den 20. März 1566 erhalten „Baltes Blaicher, glasser vnd Stoffel Schwamüller, all baid burger zu Nordlingen" die Erlaubniss, eine Komoedie „von dem frumen Abraham" aufführen zu dürfen. Das erbauliche Stück wird am grünen Donnerstag, Karfreitag und Ostertag zur Darstellung gebracht. Der pecuniäre Erfolg war ein so geringer, dass die Unter- nehmer die Fortsetzung der Aufführungen verlangen mussten, um überhaupt nur ihre Auslagen bestreiten zu können. „Ist jnenn abgeschlagenn, habennß lang gnug gehallten," lautete der lakonische Bescheid. Besonderer Förderung von Seiten der Obrigkeit hatten sich diese Handwerkerspiele nicht zu er- freuen, die Gesuche finden mitunter eine ziemlich schroffe Ab- weisung. So ergeht es den 28. November 1572 dem Abraham Hübner und seinen Genossen, welche „Got dem Almechtigen zu lob, auch E. F. E. W. zu sundern ehren vnd wollgefallen vnd einer ehrbaren burgerschafft, baide, jungen man- vnd weibspersonnen, auf zukünfftige wiennachten vnnd newjar" 1) Laut Rathsprotokolls (Sitzung vom 11. September) wird das Gesuch genehmigt. Sie erhielten überdies eine Gratification , wie die Kammerrechnung ausweist: „Den 14. September : Abraham Schedlin, Andreas Bawmaister vnnd Georg Braunen, dreyen meistersingern vonn Augspurg, vff jr snpplicirenn verehrt 1 fl. gr. i. m. (grob, in Münze)... 1 B. 3 dl." Digitized by Google Trautmann, die Tneaterzu stände der schwab. Reichsstädte im 16. Jahrh. 1. 49 eine noch niemals gehaltene und gedruckte Koraoedic vorführen wollen. Den grössten Eifer auf diesem Gebiete entwickelte der Kartenmacherssohn Bernhard Me rekle (oder Mercklin). Die erste seiner uns noch erhaltenen Eingaben wird am 15. De- cember 1574 dem Rathe vorgelegt. Er theilt darin mit, dass er, Kaspar Ostertag und noch sechs andere junge Gesellen sich „jnn ainer comedj auü der chronica, von der falschen kay serin mitt dem vnschuldigen grafen"1) dermassen geübt haben, dass sie „one rom damit verhoffen zubesteeu". Die Aufführung wurde untersagt. Mehr Erfolg hatte ein von ihm in Gemeinschaft mit dem Goldschläger Peter Dilger am 25. Februar 1575 eingereichtes Gesuch in Betreff einer gleich- wol nicht geistlichen, sondern weltlichen Komoedie, welche mit 14 Personen gespielt werden soll. Das Rathsprotokoll meldet hierüber: „Peter Dilger vnnd Bernhart Merckhlin ist vf jr ansuchen vergündt, das sie jr gelernte comediam von brüeder- ücher lieb vnd trew*) jn jren heüsern vnd zu zeiten, da man nit jn der khirchen ist, bis vff die charwuchen, aber nit lenger, auch sonsten jn kheinem ort halten vnd vben mögen". Im nächsten Jahre versuchte Merckle abermals Stücke von nicht religiösem Inhalt auf die Bühne zu bringen. Er schreibt am 9. März 1576: „Ehrnuest, Fursichtig, Ersam vnnd Weyß, Gebietenndt, Gunstig, Lieb Herren. Nachdem von allter hero der loblich gebrauch alhie gewesst, von kurtzweyl vnnd auch vbung der jugendt wegen, com- medien järlichen in aller zucht zu agiern vnnd zuhallten; dieweyl dann ich, mitsambt meinen gesöllen, ain schöne commedj von könig Foelix aus Hispannia3) bey Sibilia, ainigen sone Florio genannt, welcher von jugendt auff zu deß Rhömers Lelij vnnd Julia seiner hausfrawen schöne dochter Bianceffora in rechtmessige liebe ent- zindt vnnd jnbrtinstig was, gleichwol wid(er) seines vattere vnnd muett(er), von niderer geburth des geschlechts willen, daraus vil 1) Wahrscheinlich das gleichnamige Stück von Hans Sachs, Band 8 8. 107 u. ff. 2) Vielleicht Hans Sachsens „comedi mit vierzehen personen zu agieren, die trewen gesellen und brfider, zweyer könig sön, Olwier und Artus, hat sieben actus", Band 8 8. 219 u. ff. 8) Wahrscheinlich die Komoedie von Hans Sachs, Band 8 S. 800 u. ff. Ahchiy f. Litt.-Gbbch. XUI. 4 Digitized by Google 50 Trautmann, die Theaterzustande der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. L leydts vnnd trüebsal, doch lestlich vil gnadt vnd frewdt entetannden ist, gar lustlich vnnd nutzlich antzuhöreu, mit vergonst zuhallten Vorhabens weren, derowegen an Ewer E. F. E. W. mein vnnd meiner mitgesellen vnnderthenig bitt(en), die Wüllen vnns ain sollichs zuhallten bewilligen vnd darzu den vndern tanntzboden vnns ver- gönnen. Das vmb dieselben wöllen wir vnd(er)thenig verdiennen. Ewer E. P. E. F. vnd(er)theniger Bernhart Merokle, karten- raacherssone sambt meinen gesellen." Die Abweisung erfolgte diesmal ausdrücklich aus dem Grunde, „weyl es khain geistliche sondern bulerische fabel ist". Am 12. December 1580 dagegen wird ihm gestattet auf dem neuen Tanzhause „beide tragedie von der junckfraw Pura vnd dem ritcr Godfrid, jtem von der kindheit Mosi öffentlich zuhalten"1), jedoch „nit vnder den predigen und das darjnn gute Ordnung vnd zucht gehalten werde". Im Jahre 1581 gibt er im Februar dem Rathe eine Vorstellung auf dem Schuh- haus2), mehrere Gesuche aber, welche er im December des nämlichen Jahres einreicht, werden abschlägig beschieden. Zwischen Schulkomoedie und Volksschauspiel ist es schwer eine scharfe Grenze zu ziehen, besonders wenn die erstere sich in ihren Darstellungen der deutschen Sprache bediente. Oft- mals auch versuchte man, trotz heftigem Protest von Seiten der Vorstände, Schüler zur Mitwirkung bei den Bürgerspielen heranzuziehen. Einen interessanten Fall dieser Art, in welchem sogar die Intervention des Käthes angerufen wird, schildert uns eine, wahrscheinlich aus dem Jahre 1553 stammende Supplication dreier Nördlinger Bürger, des deutschen Schul- meisters Gregorius Fuchs, des Buchbinders Gallus Pfund- stein und des Schneiders Martin Klein: „ . . . . Alls wir ain comedien, auß heiliger göttlicher schrifft, vonn dem reichen mann vnnd armen Latzaro für vns genohmen vnnd sollichs nach ains Ersamen Rats vnd alls lanng, souil Got gnad verleiht, hallten wöllen. Dieweill aber Gepiettendt Herrn wir vnsers erachtens mit personen gnuegsam versehen, dann allain das allerbest vnnd nutzparlichist diser comedien nit hetten, alls nämblich vier 1) Vielleicht die gleichnamigen Stücke von Hans Sachs, Band 11 S. 343 u. ff. und Band 10 S. 76 u. ff. 2) Über das Schuhhaus, so genannt, weil die Schuhmacher dort ihre Ware feilboten, sieh Mayer a. a. 0. 8. 82. Digitized by Google Trautmann, die Theaterzustande der Schwab. Reichsstädte im 16. Jahrh. L 51 Latteinisch schueler1) vnnd nur die armen am magister begert vnd jne begriessen lassen, aber solchs hat er nit bewilligen Wullen; da- mit vns aber ain grosser vnkost vber vnnser ristung gath vnd schon zum thail gangen jst vnd noch gen wirt, damit es sein gestalt bat, wie ain solche comedien sein soll vnd wir nit daran verhindert werden, so jst an E. P. E. W. vnser hochvleissig bit vnd begern, die wollen gegen vns burgern thuen als die vetter vnd mit gemelten magister verschaffen, damit er vns mit 4 knaben, doch die auch tauglich dartzue sein, verhilfHich sein wolle. Nachdem nun aber Gonstig Herrn, vnnser vngefärlich zu diser comedien bey 38 per- sonen seind vnnd ain grosse weittin dartzue haben muessen, lanngt an E. F. E. W. verrer vnser bit vnd begern, die wölle vnns auch alls burger betrachten, daran wir gar khain zweiffei haben vnnd vnns das tanntzhauß gnediglich vergünstigen vnnd erlauben" etc. Die Zöglinge der lateinischen Schule treten in Nördlingen verhältnissmässig früh, aber nur in vereinzelten Fällen als Schau- spieler auf. In der Stadtkammerrechnung des Jahres 1537 lesen wir unter der Rubrik „Erung den vnnsern": „Item Hanns Binder Latheinischer schullmayster alls er mit den knaben ain comoedj auß dem Therencium*) recediert, verert 1 guld." Während der nächsten vier Decennien muss die lateinische Sehulkomoedie , wenn sie überhaupt sich eingebürgert hatte, wieder in Verfall gekommen sein, denn als am 27. Februar 1587 der Rector der lateinischen Schule, Magister Theophilus Regner, beim Rathe die Erlaubniss erholte, „ein Lateinische comoediam genant Studentes8), darinn gutt Terentianisch La- tein", aufführen zu dürfen, bittet er diese erste Leistung seiner Schüler nachsichtig zu beurtheilen, da man sie früher „zu der- gleichen vbung niemalß angefürt". Die Versuche Regners, die lateinische Komoedie wieder in Aufnahme zu bringen, scheiterten an den unruhigen Zeitverhältnissen: schon am 12. Februar 1588 1) Wahrscheinlich zur Besetzung der Frauenrollen. 2) In der Nördlinger Schulordnung vom Jahre 1622 lesen wir: „In der ersten session nachmittag 90II der Schulmeister den Terentium auslegen". Wir entnehmen diese Stelle dem Werke von D. E. Dolp, „Gründlicher Bericht von dem alten Zustand und erfolgter Reformation der Kirchen, Clöster und Schule in der H. Reichs Stadt Nördlingen etc. Nördlingen 1738" Beilage 103. 3) Vielleicht die gleichnamige Komoedie des Ch. Stymmelius (bei Goedeke, Grundriss, Band I. S. 135, 81). Vgl. auch Holstein, „Das Drama vom verlornen Sohn, Geestemünde 1880" S. 49. 4* Digitized by Google 52 Trautmann, die Theaterzust&nde derschwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. I. wurde ihm bedeutet, dass „ein E. Rath für rathsam angesehen, daß dießer zeit dergleichen kurtzweil verpleibe". l) Eine besonders eifrige Pflege aber fand in Nordlingen die deutsche Schulkomoedie. Die Erwägungen, welche zur Auf- nahme derselben führten, waren, im Anfange wenigstens, rein paedagogischer Natur, und auch in Nordlingen wird in den Gesuchen an den Rath vor allem auf die grosse Bedeutung solcher Übungen für die Ausbildung der Jugend hingewiesen. So schreibt z. B. der deutsche Schulmeister Georg Frass am 20. December 1598: „. . . Mit waß sonderbarem vleis, ernst vnd aufsehen die co- medien vnd tragedien, welche nit allein auß den weltlichen historien gezogen, sondern auch fürnemlich in heilliger götlicher schrifft ver- fasset, wegen jhrer sonderbaren nutzbarkeitten, zu allen vnd jeden zeiten exerciert, geübt vnd getriben worden, daß bezeigen beedes die glaubwürdig(en) geschichtschreiber vnd tegliche erfarung; dan solche exercitiuen vnd vbung, vnder vnd neben anderm, fürnemlich dahin dienet, daß vorderst die lüebe jugendt jr die in solchen co- medijs vnd tragedijs eingefürte historias, sowol geistlich alß welt- licher 8ach(en), dermassen einbildet vnd in gedechtnus bringt, daß dieselbige nömmermehr darauß entfallen, welches sonst durch viel- feltig leßen vnd zuhören so steif vnd vöst nit hafften oder bleiben mag, zudem gemölte gedechtnus mörckhlich dardurch gestörckht, die geberten mit röden vnd bewogen nach gelegenheit der Sachen, fein zierlich anoniedirt vnd gebraucht, die zunge zu wolreden vnd an- sprechen informirt vnd gericht, die jugend vor leuten etwaß fürzu- bringen erstarckht vnd sonst allerley guette exempel der tugend(en), zucht vnd erbarkeit zuer nachvolg fürgetragen werden . . Bei näherer Betrachtung sieht man jedoch, dass nicht allein die „sonderbare guette affection vnd naiglicheitt" der Lehrer gegen ihre „lüebe schueljugentt" diese Aufführungen veranlasste. Der materielle, nicht der geistige Gewinn scheint Hauptsache gewesen zu sein; ein Umstand, der übrigens durch die verzweifelte hnancielle Lage der deutschen Schulmeister einigermassen entschuldigt wird. Das Einkommen war, wie 1) Bei Anlass der lateinischen Schulkomoedie sei noch erwähnt, dass im Jahre 1686 Nie. Frischlin vom Rathe eine Gratification erhalt: „Herrnn Nicodemo Friachlino soll wider geschriebenn vnnd ime fflr seine vberschickte exemplaria comediarum, darunder Priscianus vapulans E. E. Rath dedicirt wflrdt, 6 Römischer daler vnnd dem potten 10 batzen zur Verehrung gegeben werden." (Rathsprotokoll, Sitzung vom 28. Februar.) )igitized by Google Trautmann, die Theaterzustände der schwab. Reichsatädte im 16. Jahrh. I. 53 die fortwährenden Klagen beweisen, gering, die Bezahlung des Schulgeldes musste meist erkämpft werden, da „auch das hartt vnd vbersaur verdiente quattembergeltt von den elttern nit herauß wil". Unter solchen Umständen erschien die Hoff- nung, durch Aufführungen von Komoedien einiges Geld zu ge- winnen, allerdings sehr verlockend, und diese Hoflhung wird in den Gesuchen anfangs ganz leise angedeutet, später aber unumwunden ausgesprochen. Der eine bittet um die Spiel- erlaubniss, damit er diejenigen, so ihm „bißhero getrawet vnd geborget haben, etlichermaßen befridigen känndte", ein anderer, um sich bei nahender Winterszeit vor Hunger und Kälte zu schützen, ein dritter, weil er demnächst 10 Gulden Hauszins und 15 Gulden Holzgeld zu zahlen habe. Nebenbei bemerkt fanden sich damals in Nordlingen in der Zunft der deutschen Schulmeister Elemente, welche, unsern heutigen Anschauungen nach, einiges Erstaunen erregen dürften. So war der oben erwähnte Georg Frass von frühster Jugend auf an beiden Beinen gelähmt In einer Bittschrift vom 9. Januar 1600 schildert er dem Rathe seinen traurigen Zustand in der an- schaulichsten Weise: „. . . Ich hab ein solchen schmörtzlichfen) langweiligen zeitt, vnd ligtt mir mit der nahrung so hart, daß ichs E. F. £. W. nit genugsamUch(en) beschreiben kan; daß ist die vrsach(en) dieweil ich kein dritt meiner nahrung nachgangen kan vnd ist kein man in vnser gantzen burgerschafft, der so langen zeitt wie ich, laider Gott erbarms 35 jar, Gottes gefangner ist vnd wer weists wie lang ichs noch tragen muß, Gott allein weist es, der wöl mir geben den geist der gedult In heillig(er) schrifft lesen wUr, daß der köuig Juda Manasy 37 jar lang blind in der Babilonischen geföngnus gelögen, aber mein gefengnus ist weit dribert, dan wan ich zu morgens auf- stöhe, so muß ich den gantz(en) tag aneinand(er) 14 oder 15 stund an einem ort stil sitz(en), daß mir offtermals der angstschweiß auß- geht vnd(er) der jetzigen bößen, hefftigcu schueljugent, vnd nömbt der schmertz noch teglich an meinen lamben verlötzten glidern zu, also, daß ich für kein stub(en)dir vnd kein stieg hinab auch in die chri8tlich(en) kürch(en) nit mer komen kan wie vor der zeit, döß mir an meiner aöelen verhind(er)lich vnd schwörlich ist. Aber Gott wirt ea wönd(en) nach seinem göttlichen wilen vnd wolgeualen." Trotzdem versah er sein Amt, jedoch mit Anwendung von Mitteln, welche den Vätern der Stadt zu kräftig erschienen, denn am 24. Januar 1588 wurde ihm mitgetheilt „sich die schuelkinder mit Digitized by Google 54 Trautmann, die Theaterzustände der Schwab. Reichsstädte im 16. Jahrb. I . büechernn zuwerffen zuentbalten, sonndern gepüerende beschaiden- hait zugeprauchen". — Bei Aufführungen von Schulkomoedien lag natürlich die oberste Leitung des ganzen Unternehmens in den Händen des betreffenden Schulmeisters. Mitunter wurde auch eine andere theaterkundige Persönlichkeit zum Mithelfer angenommen. Um aber in diesem Falle einander ganz sicher zu sein, scheint es Gebrauch gewesen zu sein, einen Vertrag abzuschliessen und ihn mit allerlei Ceremonien zu beschwören. In welcher Weise dies geschah, erfahren wir aus einem Schreiben vom 17. Mai 1611, in dem Georg Frass seinen Genossen Johann Zihler, einen „schreiber vnd liebhaber der poeterey", des Treubruches zeiht; sie hätten — sagt er — die Absicht gehabt, mit einander eine Komoedie aufzuführen, Zihler wolle dies nun allein thun, trotzdem „er doch wol weist, waß er mit mir abgerödt, ge- schworen, yerlobt vnd versprochen, bey gehner hand, thraw, ehrn vnd glauben, sambt alle comediisknaben in ein rönglein eindupfft, mit word(en) nachein and(er) mir angelobt, also lau- tendt, wie daß neben schriffitlein vnd zedelein außweist, döß ich hiemit E. F. E. W. zu erlesen vbergib, nämlich daß mir alle samentlichen miteinand(er) in der meß die geistliche comedien von Adam vnd Euen, zum andern vom ertzvatter Abraham, zum dritten ein weltliche historien sambtlich wollen agiern, auch nachmalß jnner vnd außer der statt, allemal mit- einander zu halt(en), kein kuaben, der angelobt hat, auß- schliesen, es wirde dan einer kranckh" etc. Dass man die Schüler mitschwören Hess, mag befremdlich erscheinen; diese Vorsicht war jedoch wol angebracht, da die Knaben manch- mal durch einen Collegen dem Unternehmer abspenstig ge- macht wurden. Oberhaupt gab es nicht selten Reibereien zwischen rivalisierenden Schulmeistern, und der Rath, welcher in solchen Fällen immer als Schiedsrichter angerufen wurde, hatte meist viele Mühe, um die streitenden Parteien wieder zur Ruhe zu bringen.1) Die deutschen Schulmeister beschränkten sich nicht allein darauf, mit ihren Zöglingen Komoedien aufzuführen. Die fort- 1) Ans diesem Grunde gestattete der Rath niemals mehreren Schul- meistern zugleich, Komoedien aufzufuhren. Digitized by Google Trautmann, die Theaterzu stände der Bchwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh.l. 55 währende Beschäftigung mit der Bühne bot ihnen ja Gelegen- heit auf diesem Gebiete reiche Erfahrungen zu sammeln; es war daher natürlich, dass sie manchmal aufgefordert wurden, die Einübung und Leitung bürgerlicher Schauspieltruppen zu übernehmen, welche sich ab und zu bildeten. Wir geben hie- für zwei Beispiele. Im Jahre 1611 treten, einer Eingabe vom 23. August zufolge, der oftgenannte Georg Frass und der Meistersänger Matthäus Koch zusammen, um einige Sonn- tage nach einander eine „christliche vnd lehrhaffte comedien Tom hochweisen konig Salomonis seinem gaistlichen vrteil vnd gericht, daruon jm 1. buch der konig am 3. cappitel meidung geschieht" mit zwölf erwachsenen Personen aufzuführen, und zwar „jn kleidung vf allbesten maas, art vnd monier, daß in vnser statt niemals also agiert ist worden". Am 10. August 1614 meldet Johann Zihler, der um diese Zeit ebenfalls die Stelle eines „schul- vnd rechenmaisters" bekleidete, dem Rathe: „. . . Ich endtsbenanter khan E. E. vnd F. E. W. nicht pergen, wie daß ich durch sonderbahre bewegung mich hinfort comoedien vnnd gaistliche spil auß häy liger göttlicher sebrifft, dergestalt zu agiern vnderfangen, mit maunbarn, dapfern vnd geschickhten leüten, burgern vnd burgerssöhnen, welche wissen eine hofzucht, reuerenz, ehrerbüetung vnd alle bescheidenheit fttrzunehmen. Wann jeh dann dero, souil alß eß die notturfft erhaischen wollen, biß vber die 30 persohnen, mann vnnd junggsellen, vberkhommen vnd vnder sie vor außgangender mess die allerftirtrefflichste vnd weitbertiembteste tragoedi von der Zerstörung der edlen vnd allergrösesten statt Troya, so vnder der sonnen vnd dem gestirneten himmel gelegen, die aller- mächtig8te, so vor vnd nach Christi geburt gebawet wardt, auß- gethailet, welche sie dann seithero wol vnd fein verständtlich an- genommen, sich mit aller reuerenz, ehrerbüetung, wolredenheit, geberdt vnd weiß, abrichten lassen vnnd noch darinnen, so jehtwas fehlet, guetwillig gehorsamen, daß also ich mir ietzundt mit Gottes hilffe vertrawe, mit ihnen ein sondere ehr vnd lob zuerlangen ..." Er bittet daher um die Spielerlaubniss, und zwar „nur die feyr- tiig, daran khein abentpredig ist vnd monatweiß all wegen nur einen sontag, daß were in eim Vierteljahr khaum 3 spil". Gleichzeitig erklärt er, dass die Gesellschaft, um Unordnungen vorzubeugen, „eine guete Ordnung", das heisst ein alle Mitglieder bindendes Reglement erlassen habe.1) 1) Das Gesuch wurde vom Rathe abgewiesen. Während der Mosb- zeit dagegen hatte man ihm seine Vorstellungen erlaubt. „Zum valete" Digitized by Google 56 Trautmann, dieThoaterzuatände der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. L Die Darsteller der deutschen Schulkomoedien waren immer die Zöglinge des Schulmeisters, welcher die Aufführung ver- anstaltete, und zwar, wie einmal1) besonders hervorgehoben wird, nur die ältesten derselben. Im Bedürfnissfalle wurde das Personal noch durch andere Elemente verstärkt: durch Knaben der lateinischen Schule2) oder sogar durch Handwerks- gesellen. „Item dem schullmaister mit sein knaben auch ettlich handwerckhsknechten verertt, alls sy faßnachtspill auff der trinckhstubenn, so ain rath mitainander asß, hette .... 1 guld. 2 ort"3) heisst es in der Stadtkammerrechnung des Jahres 1526. Über die deutsche Schulkomoedie in Nördlingen hat sich eine ziemliche Anzahl von Urkunden erhalten. Hiedurch werden wir in den Stand gesetzt, die Stellung klarzulegen, welche der Rath ihr gegenüber einnahm; wir erfahren, wie weit sich die Controle der Behörden erstreckte, wir erhalten einen Einblick in den geschäftlichen Theil dieser Aufführungen. Man hat bereits gesehen, dass in den meisten Fällen, be- sonders gegen Ende des 16. Jahrhunderts, financielles Interesse in erster Linie die Veranlassung zur Darstellung deutscher Schulkomoedien bildete. Dass gleichzeitig der Ehrgeiz der Schüler und Eltern dazu drängte, ist wol selbstverständlich. Die Schulmeister benützten auch diesen Umstand in ihren Ge- suchen; sie gaben dann vor, dass nur das bitten ihrer Schüler, das zureden der Eltern und anderer Theaterfreunde sie ver- anlasst hätte, überhaupt eine Komoedie einzustudieren oder aus • der privaten Schulübung eine Öffentliche Schaustellung zu kam zur Aufführung „die allerfürtrefflichste vnd schönste comöedj vom könig auß Hispania, mit Florio vnd Bianceflora". Der Erfolg des Unter- nehmens war ein geringer, er habe „von den [wegen der] Nflrnbergern nichts zuwegen bringen khönnen". Auch im Jahre 1613 hatten ihm seine Messkomoedien wenig eingetragen, da — wie er sagt — „die vil- vnd mancherley gauckhelspihl, fflrnemlich aber der saildanzer, mir nit ge- ringen schaden vnnd verlust zuegefüeget". 1) In einer Eingabe des Schulmeisters Johann Böckh vom 5. Fe- bruar 1686. 2) So bittet am 9. Mai 1621 Georg Frass eine Tragoedie von der Zerstörung Jerusalems „durch etliche Lateinische: vnd andern (echüler)" aufführen lassen zu dürfen. 3) Ort — Viertelsgulden. Über die Geldverhältnisse in Nördlingen vgl. L. Müller a. a. 0. S. 196. Digitized by Google i t Trautmann, die Theaterzustände derscbwab. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. 57 machen.1) Zum Beweise diene eine Snpplication des deutschen Schulmeisters Johann Böckh aus dem Jahre 1576 (Februar): „Ernuesst, Fürsichtig, Ersam, Weiß, Gebiettend, Günstig, Lieb Herrn vnd Obern. Demnach jch endsbenanter bewegt werde, bei E. F. vnd F. E. W. ain kleine bittliche ansuchung zuthun; jst von wegen etlicher meiner vertrauten schuljugent, welchen jch netili- chen, außerhalb den schuelstunden, ain schöne, sehr kurtzweillige vnd der jugent fast nutzliche coznedien, auß heilliger schrifft ge- zogen, von dem judicium Salomonis (dauon im ersten thail der kö- Aigen jm dritten oapitel zulesen ist) zulernen vnder acht personnen außgethailt, deß sie mitt sonderm lust exerciert vnd gelernet, daran dann etliche derselben eitern ain sonderlich gefalen haben, alß sie es zum thail an der probierung gesehen, das also etliche personen bei mir angehalten, solches mitt jnen öffentlich zu ainer ehrlichen kurtzweil zu recedieren vnd zu spilen . . . " Wir wollen gleich hier erwähnen, dass das einstudieren der Komoedien den Unterricht in keiner Weise beeinträchtigen durfte. Alles musste „außerhalb den schuelstunden u geübt wer- den, oftmals sogar zur Nachtzeit. So klagt einmal Georg Frass (in einer Bittschrift vom 22. Mai 1611), er habe „die gantze wönterzeit, bey tag vnd nacht, grose, lang wirige mieh vnd fleis fiirgewant vnd offter mals biß nach mitternacht bey ein- ander) verpliben, biß ich mit Gotes hilf die söchs comediis- knaben die heillige sprich, geberten, tugenten vnd wolreden- hait mit großem fleiß erlehrnet habe". War nun auf die eine oder die andere Weise Veranlassung zu einer Schulkomoedie gegeben, so musste der Lehrer jetzt die nothigen Schritte thun, um von den städtischen Behörden die Erlaubniss zur öffentlichen Aufführung zu erhalten. Ge- meiniglich wurde bei dem Rathe eine Bittschrift eingereicht, in welcher das ganze Unternehmen und besonders das zur Darstellung bestimmte Stück im günstigsten Lichte erschienen. Gleichzeitig mit der Bittschrift brachte man meistens ein Exem- plar der betreffenden Komoedie in Vorlage. Die Komoedie wurde von den Pfarrherrn, die Eingabe dagegen vom Rathe sorgsam geprüft. Hauptsächlich zog man bei dieser Prüfung das rcli- 1) Der Schulmeister Johann Zeitregen weist (in einer 8nppli- cation vom 3. Märe 1574) ausserdem noch darauf hin, „daß solches (das aufführen von Schulkomoedien) an allen ortten hin vnd widergehalten jm schwanckh gehet". Digitized by Google 58 Trautmann,dieTheater2U8tundeder8chwäb.Reich88tädteiml6.Jahrh. L giöse Moment in Betracht; zur Aufführung wurden daher fast nur Stücke geistlichen Inhalts begutachtet. Dies wussten die Bittsteller wol, daher betonen sie immer, dass ihre Komoedie „der hailligen götlichen schrifft gleich vnd gemeß ist", dass sie selbe „ordenntlicher vnd biblischer weiß" halten wollen, „nit muetwilliger oder fürsetzlicher weiß, alls man sollichs zu ainem faßnachtspiel rechnen vnd halten wolt". Zudem war ihnen ja bekannt, dass der Rath in Censurangelegenheiten ziemlich summarisch verfuhr und mit „gefenckhnus" gegen die fehlenden nicht sparte. Wir wollen ein treffendes Beispiel dieser altreichsstädtischen Censurjustiz hier anführen. Es be- trifft zwar nicht die Bühne, aber doch eine zu Nördlingens Theaterverhaltnissen in Beziehung stehende Persönlichkeit, den schon erwähnten Schulmeister und „liebhaber der poeterey" Johann Zihler. Am 26. Januar 1616 sucht er um die Er- laubniss nach, einen von ihm verfassten Commentar zur Bibel drucken lassen zu dürfen. Der Rath weist ihn ab, und man kann dieser Entscheidung, auf Grund des von Zihler mitge- theilten Programmes, nur beistimmen. Der unglückliche Mann hatte aber schon von seinem Werke 400 Bogen geschrieben; er wollte wenigstens einigen Gewinn aus seiner Arbeit ziehen und bat daher um eine kleine Vergütung „jn gentzlicher be- trachtung, das solches alles khein müeßigang oder faullenzen, beuorab der stolz vnd vberhebung nicht, sondern die leibes- nahrung vnd armuet gethan habe". Man hatte Erbarmen und Hess ihm zwei Gulden aushändigen mit der für einen Schriftsteller allerdings wenig schmeichelhaften Bemerkung: „soll sich als ein idiot künfftig dergleichen Schreibens nicht mehr vndernehmen". Die Noth des armen Schulmeisters muss gross gewesen sein, er konnte das dichten nicht lassen. Die Rathsprotokolle setzen uns in den Stand, diese Angelegenheit zu verfolgen. 1616. Sitzung vom 22. Mai: „Johann Zühler, schuelmeister, wurde verwisen, das er allerhandt newe Zeitungen, die meistentheils onwarhafft, carminice verfertige vnd allenthalben außspargire, da es jme doch vor disera auch verbotten worden; der sieb aufs beste, alls er gekont, entschuldiget. B(escheid): Er bette wol verschuldt, jhne mit gefenckhnus anzufaßen. Solle hinfüro solche Sachen durch- aus müeßig(en) oder angedeüte straf erwarten." )igitized by Google Trautmann, dieTheaterzuatände derschwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. I. 59 1617. Sitzung vom 31. März: „Johann Zibler vbergibt etliche exemplaria einer getruckhten jahresrelation; dem ist gesagt, er weiß, das ihm bej gefenkhnusstraff verbotten, ohne consenß waß truckhen zulaßen, daher ein E. R. befrembde, das er darwider gehandelt. Soll derentwegen alle exemplar in die statteammer lifern." 1617. Sitzung vom 23. April: „Hannß Zühler schuelmaister, welcher etlich hundert exemplaria von allerhandt onwarhafften sachen, wider eines E. Raths vor disem beschehen verpott, truckhen lassen, ist in fronuest verordnet, soll nach notturfft examinirt werden." 1617. Sitzung vom 28. April: „Hannß Zühler, schuelmaister ligt lenger, solle noch einmal examinirt werden." 1617. Sitzung vom 2. Mai: „Johann Zihler ist auf ein g. v.(rfehd) erlajßen vnnd ihme wol vndersagtt; soll auch an Nürnberg vnnd Amberg geschriben werden." 1617. Sitzung vom 12. Mai: „Johann Zihlern ist gesagt, das er bei gefenckhnusstraff vmb seine exemplaria nicht mehr anhallten solle." 1617. Sitzung vom 16. Juni: „Johann Zihlers wegen beruht das Nürinbergische schreiben ob sich." 1620. Sitzung vom 15. März: „Johann Zühler, welcher aber- mahlen sachen in offenen truckh geben wil, waß sich alhie ver- logen, sol selbige vf die cantzlei lüfern." 1620. Sitzung vom 17. März: „Johann Zühlern ist gesagt, er wiß sich zuerinnern, welchergestalt ihm sein chronicschreiben, darzue er gar nit qualificirt, darnider gelegt worden. Welchem er nit nach- setze. Obwoln ein E. Rath vrsach, ihn mit fanckhnus vnd in ander- weeg zustraffen, wöll doch ein E. Rath vf sein versprechen daruon abzustehen, seiner verschonen; sol aber an eines aidts stat angloben, demselben nachzusetzen; deß er gethan vnnd also glübt von sich geben." Auch zum dramatischen Dichter war Zihler „gar nit qualificirt", da er selbst vor einem Plagiat nicht zurtickscheute. Sein College Frass erzählt uns von ihm in der schon erwähnten Eingabe vom 17. Mai 1611: „(Er) wil selbs maister sein, wölches er die zeit seine lebens niemals erlehrnet, dan allein bey mir, wie er dan auch knrtzlich auß meinem buch ein comedien abdruckhen lassen in seim namen, alß wans ers gedieht, deß doch Hanß Sachsen historien vnd gedieht gewest."1) Hatten nun die geistlichen und weltlichen Behörden nichts anstössiges an dem Unternehmen gefunden, so wurde dem Gesuchsteller durch den Rath die Erlaubniss zur öffentlichen 1) Einen ähnlichen Fall theilt Schlager in seinen Wiener Skizzen ans dem Mittelalter, Neue Folge, I (1839) 8. 213 mit. Digitized by Google 60 Trautmann, dieTbeatemigt&ndederBchw&b. Reichsatädteim 16. Jahrh. I. Aufführung ertheilt. Ohne Erlaubniss zu spielen war bei stren- ger Strafe verboten. Die Rathsbewilligung bestimmt neben anderen Details die Spielzeit, die Zahl der zu gebenden Vor- stellungen, das Local, den Eintrittspreis. Die dramatischen Aufführungen im allgemeinen und die Schulkomoedien im besondern scheinen in Nördlingen auf ge- wisse Zeiten im Jahre beschränkt gewesen zu sein. Meistens fanden sie um Weihnacht, um Ostern und während der Fast- nacht statt, auch an Pfingsten, wo in der alten Reichsstadt eine berühmte und vielbesuchte Jahrmesse1) abgehalten wurde. Als Spieltage wählte man mit Vorliebe Sonn- und Feiertage, ohne jedoch darum die Werktage grundsätzlich auszuschliessen. So erhält z. B. GeorgFrass am 9. Januar 1600 die Erlaubniss, „vonn faßnacht an biß vf mitfasten sein comoediam von der belagerung der stat Jerusalem, doch allein in der wochen zweymal vnd an keinem sontag oder feyrtag zu halten, auß- geschiden die faßnachtwoch, darin er 2 oder 3 mal solche comoediam agirn mag"; und am 5. December wird ihm be- willigt „sein vorhabende comoediam ann den mon tagen, biß vf den weißen sontag zu hallten u. Die Sonntagsvorstellungen waren mehr für das Volk berechnet, Montags dagegen spielte man „von erbaren leutten wegen". Befremdend ist, dass, wie wir gesehen haben, selbst am grünen Donnerstag und Kar- freitag Auffuhrungen stattfanden. Was den Beginn der Vor- stellungen betrifft, so sah man sehr streng darauf, dass Gottesdienst und Predigt hiedurch nicht die geringste Störung erlitten. Jedem Gesuchsteller wird eingeschärft ja „nitt vnnder der predig" zu spielen. Trotzdem erreichte man nicht immer den gewünschten Zweck, denn in einer Sitzung vom 26. No- vember 1599 constatiert der Rath, „das die predig durch die comoedias vnvleissig besucht werden", und verweigert daher für diesmal die Bewilligung. Itn Rathsprotokolle des Jahres 1598 (Sitzung vom 29. December) lesen wir: „Jörg Fras soll sein comoediam nicht vnder der nachmittagpredig halten, auch niemand jns haus lassen, biß man die Türkhenglocken aus- gelitten". Da die sogenannte Türkenglocke, welche zum Gebete 1) C. Mayer a. a. 0. 8. 20, L. Müller a. a. 0. 8. 21. Digitized by Google Trautmanii, die Theaterzustiindo der schwab. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. 61 für Abwendung der Türkengefahr mahnte, Nachmittags um drei Uhr geläutet wurde1), so darf man wol behaupten, dass dfie Aufführungen um diese Zeit ihren Anfang nahmen. In Bezug auf die Zahl der Vorstellungen galt als Norm eine mehrmalige Wiederholung der Komoedie zu gestatten. Die Schulmeister speciell spielten meist einen ganzen Monat hindurch, aber nur an den Sonntagen. Häufiger als einmal in der Woche zu spielen wurde als eine Ausnahme betrachtet. Als Spiellocale im allgemeinen werden in den Acten theils öffentliche Gebäude, wie das Rathhaus, die Trinkstube, das Brodhaus, das Schuhhaus, die lateinische Schule2), oder Privat- häuser genannt Die Schulkomoedien hielten die betreffenden Lehrer in ihren Schulstuben ab; entfaltete das Stück eine grosse Personenzahl, oder rechnete man auf starken Zuspruch von Seiten des Publicums, so stellte der Rath eine der eben erwähnten städtischen Räumlichkeiten zur Verfugung, und zwar, wie es scheint, ohne dafür eine Vergütung zu beanspruchen. Von Aufführungen in Kirchen oder auf offenem Marktplatze ist niemals die Rede. Dagegen spielten die Schulmeister mit ihren Knaben auf Wunsch in Privathäusern, besonders bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten. Auch hiefür fehlt es nicht an Belegen. Im Jahre 1546 erhält der deutsche Schul- meister Kaspar Kanntz vom Rathe einen strengen Verweis, weil er auf Fastnacht, gegen den Willen des Bürgermeisters, bei einer Hochzeit eine Komoedie „auß der heiligen schrift gezogenn" aufgeführt hatte. Im Jahre 1553 bittet der nämliche Unternehmer die bekannten zehn Alter überall spielen zu dürfen, wo man es verlangen würde. Im Jahre 1576 lesen wir in einer Supplication des deutschen Schulmeisters Johann Böckh: „Neben dem so begere jch auch gar nicht darmitt in der statt herumbzuziehen, vil geschrais oder anders zumachen w, worauf der Rath beschliesst ihm unter dieser Bedingung die Erlaubniss zu ertheilen. Diese Privatvorstellungen wurden also nicht gerade gern gesehen. 1) C. Beyschlag, „Geschichte der Stadt Nördlingea bis auf die neueste Zeit. Nördlingen 1861" S. 107. 2) Ueber diese Locale geben Aofschluss die Werke Mayers und Joh. Müllers. Digitized by Google 02 Trautmann, die Theaterzustände derschwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. Der Eintrittspreis war ein sehr geringer; er überschritt nie- mals zwei Pfennige. Im Jahre 1576 wird dem schon genannten Johann Bockh anbefohlen „nit vber 1 \ von einer person zunemen", drei Jahre später gestattet man dem Hans Zeit- regen zwei Pfennige zu fordern. Wie die nachfolgenden Be- merkungen des Rathsprotokolles beweisen, galt diese Taxe auch für Spielleute und Seiltänzer. 1575. Sitzung vom 30. Mai: „Spilman von Minchen pitet jme zuuergUnden sein gauckhelspil oder himelreich zuhalten lassen. Ist bewilliget, doch das er von einer person nit mer den 2 «St vff das hechst deshalben nemen soll." 1588. Sitzung vom 3. Juli: „Johanni Francisco Romano, einem gauckler, erlaubt daß springspil zuhalten, doch nit mehr alß 2 A von einer person zunemen, vf den semtag." Der vorgeschriebene Eintrittspreis durfte nicht willkürlich erhöht werden; trotzdem kommen Ueberforderungen des Pu- blicums vor, daher die fortwährenden Mahnungen des Rathes „die leut nicht zu vbernemen". Bei den Schulkomoedien wurde das Eintrittsgeld mitunter von den Frauen der Unternehmer erhoben. So erklärt Georg Frass, als er im Jahre 1611 die Absicht hatte, in Gemein- schaft mit Johann Zihler Aufführungen zu veranstalten: „Waß den vncosten aller sachen anbetrifft, wil ich halb helft erstatten vnd daß comedij gelt gebirlichenweiß halb mit jm deilen, durch sein muter vnd mein weib einnemen laßen." Ueber Bühnenapparat und Costüm konnten leider be- stimmte Anweisungen nicht aufgefunden werden. Die Ankündigung der zu gebenden Stücke geschah manch- mal durch Umzug der Schauspieler unter Trommelschlag; dieses Verfahren war aber dem Käthe, wahrscheinlich wegen des hiedurch entstehenden Tumultes, nicht immer genehm. „Jerg Frass mag sein tragediam am tag Matthiae halten", heisat es am 31. Januar 1600 im Rathsprotokoll — „doch soll er nit vf der gass die personen herumbgehen lassen." Um diesem Uebelstande abzuhelfen, kamen daher frühzeitig Theaterzettel in Gebrauch. In einer Eingabe vom 8. Juli 1614 gibt Johann Zihler die Zusicherung, er wolle sieb, „wie bisdahero behuet- sam erzeigen, khein drommel hören lassen, sondern nur blos Digitized by G 9 Trautmann.die Theatentistitade der Schwab. Reichsstädte im 1 6. Jahrh. I. 63 anschlagen". Drei Jahre vorher klagt er seinen Rivalen Georg Frass wegen unbefugten abreissens von Theaterzetteln an: „Er hat mir mehr schaden zuegefttegt, dann nutzen, wann er sich vnderstanden, daß mir die meß vber durch sein bößen bueben ein anschlagzettcl vber dem andern ist abgerissen worden, welchs mir frembde meßleüth angezeigt". Die Aufführung und deren Vorbereitungen sollten über- haupt in der Stadt so wenig Aufsehen als möglich verursachen. Dazu erklären sich denn auch die Schulmeister im voraus bereit, z. B. am 7. Februar 1599 Johann Schneider und Johann Halpruner: „. . .wir wollen kheine person inn klei- dern vber die gaßen gehen (lassen), sonnder jre kleider auff das haus ordnen, auch aine nach der anndern alls wann sie die comedj besichtig(en) wolten, hinauff gehen vnnd sich droben bekleiden lassen, damit khein lauffen auff den gaßen darauß entstanden möchte". Eine kurze Erwähnung verdient die sogenannte Raths- komoedie. Es war Sitte, aus Erkenntlichkeit für die erhaltene Spielerlaubniss dem Rathe eine Separatvorstellung der betref- fenden Komoedie anzubieten. Gieng man darauf ein, so wurde ein der Würde der Stadtvertretung entsprechendes öffentliches Local zur Verfügung gestellt. Die geladenen Personen, vorab die Rathsherrn und „dem weib, kindlin vnd zugeherigen", hatten Freiplätze, die übrigen Besucher zahlten Eintrittsgeld. Da der Rath ausserdem als Gegenleistung entweder noch einige Auf- führungen erlaubte oder eine Gratification auszahlen liess, so war die Sache im Grunde mehr ein gutes Geschäft als ein Act der Dankbarkeit Zur Vervollständigung unserer Nachrichten über die deut- sche Schulkomoedie lassen wir in chronologischer Reihenfolge ein Verzeichniss der aufgeführten oder zur Aufführung vor- geschlagenen Stücke folgen. Leider ist zu bemerken, dass der Autor nur in den seltensten Fällen genannt wird. 1552: Gregorius Fuchs, deutscher Schulmeister, hat „ain biblische hystory auß dem ersten buech Mosy das XVIII. bis auff das XXIII. capitel außgezogen, nemblich wie Christus der herr durch seinen engel befalch dem Abraham, das er seinen ainigen sun, den er lieb hett, solle zum branndtopffer auffopffern, wellichs Abraham Digitized by Google » 64 Trautmann, die Theaterstnßtöndo derschwlib. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. alls ein gotsforchtiger thnen vnd mit seinem son sollicbs vollbringen wollen". Er bittet das Stück aufführen zu dürfen. Wird abgeschlagen. 1553: Kaspar Kanntz, deutscher Schulmeister, bittet eine von ihm herrührende Bearbeitung der zehn Alter aufführen zu dürfen. „Fursichtig, Ersam, Weis, Gunstig vnd Gebuedtend, Lieb Herrn. Alls nun ettlich commedj vnd spil verrucktter dag geuebt worden, derowegen ich durch ettliche ehrliebende bürger gebetten vnd ich vmb derselbigen vilualtigs ansinen dermassen bewegt worden, das ich auch ains für handen genumen, welches die zehen allter genant, so auch jm jar anno 1528 allhie gehalten worden, von welchem noch bis auff denn heutigen dag vil gesagt wurt; dieweill dann dasselbig bis in die 25 jarlang nit geuept, vnd anderß nichts ist, dann auß helger, gottlicher, wiblischer schlifft, vast gemeingkhlich allen Stenden der wellt wurt angezaigt, was menigkhlich thon vnd lassen soll, hab ich daßelbig vberloffen, mit merernn rei- men dann zuuor gehallten, corrigiert vnd gebessert, neben vnd mit mehrenn figurnn, die mit jren reimen vnd deitungen zuuorderst der jugent vnnd volgends menig- khlich darauß zubessernn haben, welches auch nit vmb sun- derlich gelts willen, sunder auß allem freintlichen genaigtem willen denen, so vnsser begern würdt, angefangen ist, wo ich derhalben solches zimblichen maß zu spilen von E. F. E. W. vergunst haben mochte, bit ich sampt meine hellffer derselben gunstigen antwort . . ." Die Entscheidung des Käthes fehlt. 1574: Johann Zeitregen, deutscher Schulmeister, bittet „die schön vnd liepliche comedia von dem lieben Abraham, wie er seinen sun Isackh aufgeopfert, auch wie Sodoma vnd Gomora von wegen der grossen sund vertilget worden", aufführen zu dürfen. Wird am 3. März bewilligt. 1576: Johann Böckh, deutscher Schulmeister, bittet „ain schöne, sehr kurtzweillige vnd der jugent fast nutzliche comediam, auß heilliger schrifft gezogen, von dem judicium Salomonis (dauon im ersten thail der königen jm dritten capitel zulesen ist)'4 auffüh- ren zu dürfen. Wird im Februar bewilligt. 1577: Johann Böckh, Notarius und deutscher Schulmeister, bittet „ain schöne biblische historia, comödj oder spilweiß, vom könig Nebucadnetzar, auß dem ersten, andern vnd dritten capittel Daniels genommen" aufführen zu dürfen. Wird am 4. Januar bewilligt 1579: Georg Weiher, deutscher Schulmeister, bittet eine „comedia vom gedultigen vnd frommen Job" aufführen zu dürfen. Wird am 9. Januar bewilligt. 1580: Georg Weiher bittet eine „comediam Hecastum ge- nant" aufführen zu dürfen. Wird am 29. Januar abgeschlagen. 1585: Johann Böckh bittet „ain schöne diser zeitt nutzliche, Digitized by Google Traatmann.dieTheaterzuetaodederschwilb. Reichsstädte im 16. Jahrh.I. 65 auß heiliger göttlicher schrifft, dem buecb Esra gezognen comedy" aufführen zu dürfen, „alß nemblichen von dem könig Ahsueros, wie er die königin Vasthj jres gegen jme bewisnen vnngehorsambs halben, von jrer königlichen ehr abgesetzt vnd er jme für diesel- bigen aines Juden tochter, Esther genant, an jrer statt zu ainer königin erwöhlet vnd waß fernner für schönner lehr darjnnen be- griffen" Wird am 5. Februar bewilligt. 1587: Georg Frass, deutscher Schul- und Rechenmeister, bittet „ein comedien oder spil" aufführen zu dürfen, „welches ge- nommen ist vnd geschriben stedt jm heilligen propheten Danielis am driten cappitel, nemlich von dem könig Nebucadnetzar vnd be- neben auch von denn drey menern die jn den gliehenten offen sein geworffen Worten vnd nachmals, wie sie Godt der Herr durch seinen heillig(en) engel auß dem fewer erlest hadt". Wird am 8. Decem- ber abgeschlagen. 1598: Georg Frass hat „die schönen historiam von der auf- opferung des lüebcn Jsaacs, daruon jm ersten buech Moysis am 22. cappitel möldung geschieht, reyinenweiß zusamengebracht". Er bittet das Stück aufführen zu dürfen. Wird am 20. December be- willigt 1590: Georg Weiher bittet eine „comediam de judicio Sa- lamonis" aufftlhreu zu dürfen, seine Collegen Johann Schneider und Johann Halpruner dagegen eine solche „von der Judith". Wird am 17. Januar bewilligt. 1599: Georg Frass hat „mit sonderm höchsten fleis die schöne geistlich(en) historiam von der belögerung der statt Jerusa- lem von dem Aßirischen könig Senacherib, daruon jm buech döß prophetten Jcsaias am 36. cappittel meidung geschiebt, reira(en jweiß abgeschriben vnd tragedijweiß zusamengebracht vnd schrifftlich ver- fassett. Zum andern auch die schönen geistlichen tragediam von der belögerung, Zerstörung vnd gefenguus Jüda vnd der statt Je- rußalem, von dem Babilouischeu kenig Nöbucadnetzar, daruon jm großen prophetten Jöremias meidung geschieht, jm andern deil, tragedijweiß abgeschriben vnd schrifftlich verfaßett. Zum dritten auch die schönen geistlichen tragediam von der lötzsten Zerstörung der statt Jerusalem von dem Römischen kriegsheer döß großmech- tigist(en) Römischen kaisers Nöron, wie Vespasianus Judöam vnd sein son Tittus, der Remische feldobrist, Jerusalem streitt- barich erobertt vnd zerstöret hatt, daruon Josephus vnd Egesippus meidung thuett, jm dritten vnd lötzten deil fein ordenlich tragedij- vnd reimen weiß zusamengebracht, abgeschriben vnd schrifftlich verfaßett zu agirn". Er bittet seino Trilogic aufführen zu dürfen. Wird am 26. November abgeschlagen. 1600: Georg Frass bat „mit sond(er)barem höchstem Heiß die Schönnen geistlichen historian von der entpfengnus vnd geburtt Archiv r. Litt.-Gbscet. XUL 5 (56 Trautmann, die Theaterzustände der sckwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. 1. Johannis vud die geburt Jössu Christij vnssers baillands, auch wie die weisen heilligen drey könig das kindlin Jössus verehren vnd aubetten. Daruon jn beiden heilligen euangeliaten Lucas vnd Matheus, am ersten vnd am anderin cappittel möldung geschichtt vnd ge- schribcn stütt, comedijweiß zusamengepracht vnd schrifftlich herinen verfassett44. Er bittet um die Spielerlaubniss. Wird am 5. November abgeschlagen. 1603: Georg Frass hat „die gaistlicbe historien königs Sauls, mit Verfolgung könig Dauits, daruon jm ersten buech der könig jn siben capitel erzöllt vnd möldung geschieht, tragedijweiß zusainen- gebracht". Er bittet das Stück auffuhren zu dürfen. Wird am 14. December 1C03 abgeschlagen. 1(>07: Georg Frass bittet „ein gaistlicbe comedien von Adam vnd Eua, daruon jn heillig(er) schrifl't jm ersten buech Moissus am 3. cappittel meidung gesehichet1' aufführen zu dürfen. Wird am 26. Januar abgeschlagen. Wenn wir zur Betrachtung der wandernden Schauspiel- Gesellschaften übergehen, welche die alte Reichsstadt entweder berührten oder dort Aufführungen veranstalteten, so ist vor allem darauf hinzuweisen, dass Nördlingen wegen seiner ver- hältnissinässig geringen Bedeutung nicht wie andere grosse Städte, wie Frankfurt, Nürnberg, Augsburg u. s. w., ein Reise- ziel für Wandertruppen bilden konnte. Wenn solche trotzdem nicht selten auftreten, so verdankt die Stadt es in erster Linie ihrer günstigen Lage an dem Kreuzungspuncte zweier grosser Verkehrswege, dann ihrer vielbesuchten Pfingstlnesse. Vom Rathe wurde dieses fahrende Volk ziemlich milde behandelt, niemals ist in den Acten von irgend welchen Abgaben au die Stadtcasse die Rede. Als Regel scheint gegolten zu haben ausserhalb der Messzeit so wenig als möglich derartige Schau- stellungen zu gestatten. In den folgenden Mittheilungen müssen wir natürlich die Seiltänzer, Bärenführer, Gaukler u. s. w. unberücksichtigt lassen1) und unsere Aufmerksamkeit den eigentlichen Schauspieltruppen allein schenken. Uebrigens fallt es mitunter schwer, zu ent- scheiden, welcher von beiden Kategorien eine Gesellschaft angehört. Der Zeitenfolge und der Nationalität nach zerfallen dieselben in drei Gruppen: Italiener, Deutsche, Engländer. 1) Eine Erwähnung verdient allenfalls, dass am 10. Juli 1G11 Fran- ciscus Schloss, „Francüsisoher seilfahrer vnd Springer", bittet „sein «pil öffentlich zuhallten", jedoch abgewiesen wird. Digitized by G Trautxnann,dieTheaterzu8t&ndeder8chwäb.Reich88tÄdt(jiml6. Jahrb. I. 67 Ueber die Italiener geben uns verschiedene Einträge in den Stadtkaminerrechnungen Aufschi uss. 1547: Unter der Rubrik „Spylleute". „Zalt den Welschen pfeiffern durch burgermeister Wolff Grauen opffergelt (fo. 86) 1 fl. 1 U 21 V 1549: Unter der Rubrik: „Den spilleuten". „Zalt fanff Vene- digischen spilleuten, die sich durch Anthonien von Bötzen, jrn dol- metschen, anzaigen lassen Kay. Mait. nachzeziehen, vff jr ansuechen ehrgelt (fo. 107) 1 fl."1) 1559: Unter der Rubrik „Spylleüte". „Zalt Bartholome von Venedig, sampt 5 seinen mitgesellen, auch von Venedig, als statt: oder hoffpfeiffern, ehrgelt (fo. 209) 1 fl." 1560: Unter der Rubrik „den Spilleuten". „Zalt Johann von Man tu a, sampt vier seinen mitgesellen, als hofierpfeiffern oder spil- leuten, ehrgelt (fo. 201) 1 fl." Müssen wir uns, was die Italiener betrifft, mit diesen spärlichen Bemerkungen begnügen, so fliessen dagegen für die deutschen Wandertruppen a) die Quellen reichlicher. Eine An- zahl von Bittschriften hat sich erhalten; die interessanten Mittheiluugen, welche sie bringen, werden durch die Raths- protokolle ergänzt. 1580: Balthasar Kl ein aus St. Joachimstal8;, wie es scheint, ein Marionettenspieler, erklärt, er habe „ein schönes wergkh, nemb- lich die schöne historie von der grossen stadt Niniue vund dem propheten Jona, herbracht, wio ehr Jonas erstlich vor dem Herrn fleucht, sich auffs meer begibt, auß dem schiff darein geworffen, vonn einem walfisch verschlickht vnnd wieder anß lanndt bracht wirt, wie herrnaeh ehr jnu die stadt zeucht vnnd was dan der gautze text derselben historie von anfang biß zum endt vermag. Wie ehr 1) Diese Venetianer scheinen mit jenen italienischen Spielleuten identisch zu sein, welche einer freundlichen Mittheilung des Herrn Dr. Wilh. Loose in Meissen zufolge im Jahre 1549 (15. November) beim Nürnberger Käthe um die Evlaubniss nachsuchten, ein Spiel „auß ainer alten Römischen historj vom hercules" halten zu dürfen. Vgl. auch H. Gent'e, „Lehr- und Wanderjsihre des deutschen Schauspiels etc. Berlin 1882" S. 127. 2) Nebenbei bemerkt unternahmen auch die Nördlinger Schulmei- ster mitunter Kunstreisen. So spielte z. B. Georg Frass mit seinen Knaben im Jahre 1611 eine Komoedie „zu Popfingen (Bopfingcn in Würt- temberg) vf dem rathsboden .... darob daß volckh sambt prödigern vnd ein E. Rath ein sonders wolgeuallen gehabt, vns in Sonderheit ein Verehrung gethann" . 3) Vgl. auch Wellers Annalen, Band II. S. 287. 5* Digitized by Google G8 Trautmann, die Theaterzustände der Bchwäb. Reichsstädte im 16. Jahrb. I. Jonas sich auch letzlich gegen der stadt setzt vnnd ein khürbiß vber ihn wechst, welches dan alles gar arttig vnnd schön angericht vund gar schön vnnd lieblich zu sehen vnnd zu hören ist". Er bittet den Rath um die Erlaubniss, „solches wergkh in dieser jhrer löb- lichen stadt auffzurichten vnnd dieselbe historie zu agieren". Zugleich fragt er an , ob der Rath „wergkh vnnd comedia jn sunderheidt" zu sehen wünsche. Wird am 11. Marz bewilligt, die Aufführung ftir den Rath aber abgelehnt. 1582: Balthasar Klein aus St. Joachimstal bittet „zwo schöner historia auß dem allten testament, welche comediaweiß durch schöne figurn agiert werden," aufführen zu dürfen. Die erste ist die „historia von dem propheten Jona vnnd der grossen stadt Niniuc", welcho er schon 1580 in Nördlingen aufgeführt, „aber doch in der zeitt heer das wergkh vnnd die action gebessert", die zweite „die schöne historia des hochberümbtten vnd weysen khünig Salamon, anfangkeh seins khünigreichs biß zum beschluß, wie er in sein ersten gerichtsitzen daß weiß vrttl feit der zweyer weiber mit dem toden vnd lebendigen khindt". Wird am 5. September bewilligt. 1583: Rathsprotokoll, Sitzung vom 18. Januar. „Einem fremb- denn spilman ist sein begeren, ein comediam vonn der goburt Christi zu haltenn, abgeschlagen". 1583: Der Marionettenspieler „Jerg wetzl von Augspurg mit 3 Mitconsorten" reicht am 22. Juli beim Rathe folgende Bitt- schrift ein. „ . . . Vugefarlich bey einem viertljahr hab ich mich bey E. V. F. W. von wegen einer herrlichen, schönen, geistlichen historien, welliche nicht ein gemein geugllwcrckh, sonnder meniglich allt vnnd jungen persohnen zu erjnnerung jres lebens ein seer nutzliches werckh ist, vunderthenig angemeldet, welliches mir dißmalls von wegen des aduents vnnd vnbequeraer zeit, das E. V. P. W. diser zeit weder fechtschuelleu noch anndere werckh kheines nix zu- lassen, biß auf ein anndermall verwidert vnnd abgeschlagen worden, mit wellichem meinem herrlichen, schönen werckh, weil jeh vf der haimraisß bin, jeh E. V. F. W. zu vnnderthenigenn eeren vnnd ge- meiner burgerschafft zu sonnderm nutz vnnd wollgefallen, von Schwebischen Gmindt liieher zuzogen bin, wie jeh dann dises werckh seithero jnn allen füruemenn reichsstötten des gauntzen Schwebi- schen chraisß, zu Memingen, Kempten, Kauffbeyren, Wannga, Waltza, Biberach, Rauenspurg, Pfullendorff, Iberlingen, anjetzo aber zu Schwebischen-Hall vnnd Schwobischen-Gminndt, erstlich einem Ersamen Rath vff dem rathausß, nachmals gemeiner burger- schafft ob deren danntzhauß oder brottlaubenn, vmb gepürliche er- götzung, auch allen schwebischen graffen vnnd herren geballten habe; damit aber Gepuetundte Herren, E. V. F. W. vnnderthenig be- )igitized by Google Trautmann, die Tbeaterzustünde der schwäb. Reichsstädte im 16. Jahrh. I. 69 richtet werden, wamit dises werckh zugee, seinen anfanng vnud endt schafft neme, würdt solliches, wie die wort geen, also mit dem werckh vnnd alles auß der heylligen schriflft des allten vnnd neuen te- staments der vier eeuangelisten, kbunstüch viind herrlich jnn Teutscho carmina gesprochen, durch proportionierte figuren allen- massen vnnd gestallt, als wann die nattürlichen lebetoun, durch khunst, jnstrumente vnnd anndere zugerichte matterien vol- bracht vnnd angefanngen. Erstlichen auß dem allten testamennt, von dem ertzuatter Abraham, wie er seinen solmn Isackh vnnserm Herren vnnd Gott auffopffert, nachmalls vom khünig Herodias, wie er seiner thochter wegen, Johannem den theüffer vnschuldigclich enthaupten lasst, von Maria, dem ennglischen gimesß vnnd der allerheylligisten gepurth Jesu Cristj, wie der Herr zu Jerusalem einreitt vnnd hernacher die kheüffer vnnd verkheüffer auß dem tcinpl threibt, jtem vonn des Herren abeutmal, wie es Christus hat ein- gesetzt, wie auch der Herr den jungem die füeß wascht, wie der Herr mit seinen jungen petten an den olberg geet vnnd von Judas verrattcn, von der Schaar der Juden gefanngen, hinundtwider ge- füert, gepeinigt vnnd gecreutzigt, wie Pettrus Malchus sein ohr abschlecht, wie sich Judas erhennckht, wie auch der Herr von Jo- seph vnnd Nicoderaus vom creiltz gonomen vnnd begraben worden ist, jtem die herrlichistc auffersteeuug Christj, wie Maria Magdalena vnnd Maria Jacobin den Herren zusalben das grab beschuchen [be- suchen] vnnd junen ein enngel erscheint etc., also das solliches werckh der ganntze passiou vnnd vill anndere herrliche stuckh mer sein, wellicho sich alle lebendiger weiß ganntz nattürlichen, wie die heyllig scbrifft vermag vnd die sprüch gesprochen werden, or- zaigen thuet; dieweil jch dan Gepuetunde Herren E. V. F. W. aber- malls zu eren zuzogen seiu vnnd dißes werckh jnn allen Stötten auf begeren einem Ersamen Rath zuuorderst, von wegen vbertrang des volckh, ballten müessen, lanngt an E. V. F. W. meiu vnnderthenige pith , waucr dieselben solliches für sich zuhallten begeren, die wollen mir vf 12 vhr oder wann es jueu glegenlich seiu würdt, eine stundt ernennen lassen, will ich mich damit gehorsamlich erzaigcn; nach- malls lanngt auch an E. V. F. W. raein gehorsames pithen, dieweil sollich werckh auß der heylligeun schrifl't vnnd ein geistliche sacheu ist, auch meuiglich allt vnnd jung seer nutzlich ist, jnn gnediger be- denckhung, das biß mitwoch oder donerstag des heyligen apostels sannt Jacobstag ein feyrtag ist, E. V. F. VV. wollen mir sol liebes werckh gemeiner burgerschafft auf disen feyrtag, ob der brodtlauben zuhallten gnedig verwilligen; es sollen die leüth gar nicht vber- noraen werden, sonnder meniglich seines gellts woll vernüegt wer- denn . . . " Die Entscheidung des Käthes fehlt. 1584: Hans Jacob Iltess von Strassburg bittet „ein schön, lustig vnd gaistlich schawspil vom reichen man vnd armen Lazaro, Digitized by Google 70 Trautmanu, die Theateraustande der schwäb. Reichsstädte iml6. Jahrb. I. darinen zeben prophetten zeugknuß geben," während der Messe auffahren zu dürfen. Er habe selbes bereits „hin vnd wider bey fürsten vnd herrn, auch in stötteu vnnd märckten" gehalten. Wird am 10. Juni bewilligt, „jedoch soll er, wann er darzue baucken oder trumeten brauchen wolle, sich ann orten verfliegen, die dem marckt oder sonsten den handelsleüten nit zue nahendt sein". 1584: Balthasar Klein aus St. Joachimstal bittet ein „herr- lich schönes exempelspiel , nemblich die sieben weyse auß Gretzia vnnd die zehen altter der wellt, welches auch schön vnnd lieblich zu sehen vnnd zu hören ist," aufführen zu dürfen. Wird am 9. October abgeschlagen. 1500: Rathsprotokoll, Sitzung vom 11. September. „Die historiam vonn dem reichenmann vnd armen Lasaro begerte ein frembder auff dem dantzhaus als ain comoediam zu agieren. Ward solches vergunt, doch beneben jhme angezeigt, die leüt nit zu vber- ncraen vnd erst nach gehalltner mittagpredig anzufallen." 1593: „Andreas Hainrich vonn Cosstnitz" bittet „beede gaistliche spil oder comedj, nemblich(en) vonn dem verlohrnen sobn vnd enthauptung Johannjs," welche er „mit artlichen vnd herlichen schenen bildcrn" vor Fürsten, Grafen und in Städten gehalten habe, aufführen und nebenbei einen lebendigen Wolf vorzeigen zu dürfen. Die Entscheidung des Rath es vom 21. Februar lautet: „Endrissen Heinrich von Kostnitz ist bewilligt vf kuniftig montag, afftertag vnd mittwoch die comoediam von dem verlohrnen söhn vnd enthaubtung Joannis auf dem schuchhaus zu agiern, doch auff der gass kein spil zugebrauchen vnd die leüt nicht zu vbernemen, auf geraelten haus aber mag er ein Instrument oder ander spil haben". 1602: Georg Vittbier von Staden, Komoediant, sucht nach, seine begonnenen Aufführungen fortsetzen zu dürfen, auch erbietet er sich, „wens einem Achtbaren, Hoch vnd Wolweißen Ratt gefeilt, vor Eur Ehruest, Hoch- vnd Wolweißen sonderlich zu spielen vnd seine kunst zu gebrauchen". Darauf die Entscheidung vom 5. Juli: „Jörgen Vittbier von Staden, einem comoedianten seine vorhabende spil vnd döntz zu halten abgeschlagen; soll sich benüegen lassen, das ihme gestern solche zu halten durch den hn. ambtsburger- raeister bewilligt worden, dabei es bleib, soll sein pfenning weiter zöhrn." 1604: Eine Compagnie Komoedianten bittet ihre Stücke auf- führen zu dürfen. Die Supplication derselben wurde bereits in dieser Zeitschrift (XI, 625 f.) mitgetheilt. Nachzutragen ist noch, dass dor Rath das Gesuch am 20. Januar abwies. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit den Namen des, allem Anscheine nach deutscheu Principals: „N. Eichel in vnd mitverwanten comoedianten ist vf jr snpplicirn angezeigt, die sach sey also beschaffen vnd wichtige vr- sachen vorhanden, das ein E. Rbat jetztmals jhnen nit könne willfaren." Digitized by Google Trautmann, die Theaterzustande der Schwab. Reichsstädte im IG. Jahrb. 1.71 1606: Peter Geyer, „tragedist vnd coraedienspiller", bittet Aufführungen veranstalten zu dürfen: „ErnuÖste, Fursichtig, Ersam, Weißgonustige , Gebiedundte Herreu, Burgermaister vnnd Räthe. Es gelannget an Euer ErnuÖst vnnd Weißheiten mein vnderthenigs bitten, die wollen mir gonnstig verlauben vnnd vergönnen, negstkomenden sondag vnnd montag die schönen vnnd geistlichen comedy oder spill von d(er) gotsförchtigen vnd keuschen, frommen frawen Susanna, deßgleichen die geistliche vnd trostreiche comedy von dem verlornen sonn vnnd die tragedy von der Lisabetha, eines kauffmans dochter von Mesina, mit Lo- reutzo vnnd jrren dreyen bruedern1), zuehaltten vnnd agiren lassen, thue mich Euer Ernuöst vnnd Weißheiten vnd(er)thenig hierinen beuelchen." Wird am 26. Februar abgeschlagen. Englische Komoedianten zeigen sich in den Jahren 1604, 1605, 1607 und 1609. 1604: Stadtkamnierrecbnung. „5. Jannarij: Zalt etlichenn, so sich für Engelender angeben n vnnd biß jnn 14 personen gewesen, welche commedien zuhalten begert, das jnen aber für dißmaal ab- geschlagenn, entgegenn verehrt worden 4 fl. gr. j. m. (grob, in Münze) 4 fl. 12 -\." 1605: Stadtkammerrechnung. „10. May: Etlichenn Engelenn- dern, dem bis jnn 16 personen, so aineni E. Rath ein co media auß dem propheten Jona etc. zu ehrn gehalten, entgegen ver- ehrt 16 fl. grob, thut rainitz 16 fl. 1 (1 18 V 1607: Rathsprotokoll, Sitzung vom 7. Juni. „Engellendische comoedianten erpoten sich einem E. Riiat zu ehren ein coraoediam zu halten. Darauf jhnen danckh gesagt vnd vermeldet worden, ein E. Rhat hab ietzt (nicht) gelegenheit, sondern mit andern Sachen zu thon; sollen jhnen aber 4 fl. aus der statcamer verehrt werden." Die Stadtkammerrechnung bestätigt die Auszahlung der Gratifica- tion: „17. Junii. Ettlichen Engelendern, so meinen herrn ein co- medi zuhaltenn sich anerboten. Verehrt 1 fl. grob j. m 4 fl. 12 A." 1609: Rathsprotokoll, Sitzung vom 9. Juni. „Zehen Engli- schen comoedianten ist dise meßzeit zugelaßen, comedias vnnd tra- goedias, doch jrem vorzeigen vnd erpieten nach auß gött- licher schrifft, dartzu außer den häuden zu agiren." Wir sind mit uiisern Mittheilungen über Nördlingens Theater- leben im 16. Jahrhundert zu Ende. Möge es der gerade dort so rührigen Localforschung gelingen, noch manches für unsern Gegenstand wichtige Document ans Licht zu fördern. 1) Vielleicht die gleichnamige Tragoedie von Hans Sachs, Band 8 S. 366 u. ff. Digitized by Google ■ Zur Zeitbestimmung Gocthi scher Schriften. Von G. VON LüEPER. Wer über einen allgemein bekannten und viel durch- forschten Gegenstand wie Goethes Gedichte schreibt, wird schon nach kurzer Frist den Eindruck haben, sein Buch sei veraltet und überholt. Er wird wünschen, dasselbe von den gewonnenen neuen Standpuncten umschreiben und alle die inzwischen ihm zugegangenen Belehrungen und gemachten eignen Ermittelungen verwerthen zu können. So wenigstens ergeht es mir mit den 1882 und 1883 herausgegebenen zwei Bänden jener Gedichte: fast jeder Tag hat mich in Einzelheiten eines bessern belehrt Die Anregung, eine der Quellen meiner vielfach neuen chronologischen Bestimmungen nochmals zu prüfen, entnehme ich Düntzers Artikel in den beiden ersten Heften der neuen „Akademischen Blätter", welcher überschrieben ist: Zur Chro- nologie der lyrischen Gedichte Goethes. Mit Interesse hat der Verfasser von den aus Eckermanns Besitz in den meinigen übergegangenen „Vorarbeiten zur Chronologie von Goethes Leben und Schriften, nebst Auszügen aus dessen Tagebuch" durch meine Ausgabe Kenntniss genommen und zugleich dem Wunsche Ausdruck gegeben, über die Schriftstücke näher unter- richtet zu werden. Dass dieselben von dem fleissigen und gründlichen Theo- dor Musculus, dem Verfasser des „Alphabetischen Namen- Registers der in Goethes Werken erwähnten Personen", gleich- falls herrühren, habe ich bereits in der Vorrede zum 2. Bande der Gedichtsausgabe mitgetheilt. Ich füge hinzu, dass die Arbeit in den Herbst 1837 fiel, was nicht ausschliesst, dass sie noch für die Ausgabe der Goethischen Werke von 1836, namentlich Digitized by Google v. Loeper, sur Zeitbestimmung Goethiacher Schriften. 73 zum Divan benutzt werden konnte. Es liegen mir in losen gebrochnen Foliobogen vier Entwürfe jener Auszüge vor, jede Handschrift das Material von 1749 bis 1832 umspannend, Mscr. I ganz kurz auf einem Bogen, Mscr. II genauer anna- listisch auf siebeß, Mscr. III, anfangs als die endgiltige Arbeit betrachtet, auf fünfzehn, und Mscr. IV, sehr vervollständigt, auf sechs und zwanzig Bogeu. Gewöhnlich findet sich auf der rechten Hälfte des Bogens der zunächst disponierte Text, und auf dem Rande links das nachträglich, namentlich aus dem Tagebuche hinzugefügte Material. Nur gelegentlich sind die Quellen angeführt, und zwar, ausser dem Tagebuch, die Werke, Ausgabe letzter Hand, und die Briefwechsel mit Schiller und Zelter, besonders da, wo die Quellen einander widersprechen. Als Beispiel diene die chronologische Bestimmung der Elegie „Metamorphose der Pflanzen", welche Viehoff nach Goethes Aanalen ins Jahr 1797 setzt, Düntzer dagegen, ohne Angabe seiner Quelle (Gedichtscomm. I, 254 u. III, 654), erst am 17. Juni 1798 „abgeschlossen" sein lässt und Strehlkc bis ins Jahr 1790 zürückverlegt. Musculus folgt nun zunächst auch den Annalen und weist das Gedicht (Mscr. II, S. 13 und Mscr. III, S. 21) ins J. 1797, dann, nach dem Tagebuch, (Mscr. IV, S. 40) ins Jahr 1798, streicht es dann bier, um es wieder nach 1797 zurückzuversetzen, jedoch mit dem Nota- bene am Rande: „Annalen setzen sie ins Jahr 1797" und dem Zusätze: „s. Tagebuch: 17 u. 18. Juni 1798". Musculus liefert mithin eine unbestreitbare, unmittelbar dem Tagebuche ent- nommene Notiz, und ich wüsste nicht, aus welchem Grunde ich ihr bei den Gedichten (II, 526), zumal sie noch ander- weitig unterstützt wird, nicht hätte folgen sollen. Musculus konnte aus derselben Quelle gerade für das Jahr 1797 schöpfen. Dies zeigen seine Angabeu für Mai bis Juli (Mscr. IV, S. 36), welche, abgesehn von der angeführten Notiz, lesen: „Schreibt im Mai den Aufsatz: Israel in der Wüste. Dichtet die Ballade: der Schatzgräber, am 22. Mai den neuen Pausias und am 24. die Lieder 'Wenn die Reben wieder blühen' und 'Zu lieb- lich ists ein Wort zu brechen' (Notabene Tagebuch: zwei kleine gereimte Gedichte; s. zugl. Briefe Bd. 3, S. 115 u. 117), desgl. am 4. u. 5. Juni die Braut von Corinth und Oberons Digitized by Google 74 v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethischer Schriften. und Titanias goldene Hochzeit, vom 6.-9. d. M. den Gott und die Bayadere. Lernt am 10. den Lord Bristol kennen. Besuch vom Apellationsrath Körner (Bd. 31, S. 7G). Macht ein Schema zur Beschreibung der Peterskirche in Horn (Brfe Bd. 3, 8. 126, 156), schreibt sodann den 23. Juni ein aus- führliches Schema zum Faust, dichtet am 24. die Zueignung an Faust Schreibt ferner den Prolog zu Faust. Hirt kommt nach Weimar, bleibt einige Wochen. Verkehr mit diesem über Kunsttheorie. Goethe verbrennt am 1. — 9. Juli alle an ihn gesendete Briefe seit 1772. Schreibt am 2.-5. Juli den Aufsatz Laokoon (Briefe Bd. 3, S. 163. 167). In diesem Monat mag auch der Zauberlehrling gemacht worden sein". Dazu noch auf einem losen Zettel: „In den 20ger Tagen des Juni 1797 wurde das Schema des Faust weiter ausgedehnt u. der Prolog, Titanias goldne Hochzeit und anderes daran gedichtet (Goethes Tagebuch)". Hienach habe ich den „Schatzgräber" dem Mai 1797 zu- gewiesen (Gedichte I, 366), wo leider das „Nach" der vor- letzten Zeile auch in die letzte Zeile, an Stelle des beabsich- tigten „vor", übergesprungen ist. Düntzer vermisst dabei „gerade das, was an der Stelle war, dass Goethe mit dem Briefe vom 26. September r 1707? 1798?] den Schatzgräber übersandte" (Akadem. Bl. I, 99). Jener Brief und jene Sendung sind mir unbekannt. Gemeint scheinen Nr. 314 und 315 des Goethe- Schillerschen Briefwechsels vom 23. Mai 1797, welche Vollmer und auch Düntzer in seinem „Schiller und Goethe" (1859) und jetzt wieder in den „Akademischen Blättern" auf die gedachte Ballade, letzterer dagegen in seinem Gedichtscommentar so- wol I, 242 als III, 113, wol wegen Schillers Aeusserung von der metrischen Vollendung des Gedichts, auf den „Pausias" be- zieht. Aber weder die Ballade (von 40 Zeilen), noch die Elegie kann an der angegebenen Stelle als „kleines Gedicht", als „kleines Ganzes" gelten, während in anderem Zusammenhange Goethe allerdings andre Gedichte, z. B. den „getreuen Eckart" von 45 Zeilen, „klein" nennt — noch auch die erstere mit ihrer „Tages Arbeit, Abends Gäste, Saure Wochen" Schillers Bezeichnung verdienen: „ordentlich recht sentimentalisch schön". Erinnert man sich des Praedicats „klein" in der obigen Tage- )igitized by Google v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethiscber Schriften. 75 buchnotiz vom 24. Mai, also vom Tage nach der Aeusserung an Schiller vom „kleinen Gedicht", so erhellt die Beziehung auf eines jener beiden oben unter dem 24. Mai erwähnten Ge- dichte. Schillers emphatisches „sentimen talisch schön", sein Zu- satz von der absonderlichen Geistesatmosphaere Goethes, dessen Hinweis auf Petrarca, obschon nicht auf seine Sonette, lassen auf ein kleines Liebesgedicht schliessen. Ich brauche nicht ausdrücklich „Nachgefühl" zu nenneu, da Schiller mit seiner metrischen Bemerkung auf die künstliche Reimverschränkung, wodurch dies Gedicht sich auszeichnet, scheint hindeuten zu wollen. Am 24. constatierte Goethe in seinem Kalender das gethane Werk, was nicht ausschliesst, dass das erste der Ge- dichte schon am 23. gedichtet und Schiller gesandt worden sei. Auch hinsichtlich der Entstehung des „Pausias" besteht eine kleine Differenz, insofern Musculus oben nur den 22. Mai nennt, Riemer ausserdem noch den 23., an welchem Tage Goethe aber schon von „unserm Blumenmädchen", als einem Schiller bekannten, fertigen Gedichte spricht und nur die zu wählende Ueberschrift erörtert. Riemer entnahm sein Datum wol nur diesem Briefe. Auch für Goethes Arbeiten auf der Reise des Jahres 1797 bieten Musculus' Auszüge neues. Dass das schöne Gespräch über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke, nach der „Chronologie" dem Jahre 1797 angehörig, genau am 18. und 19. August, unmittelbar nach dem Besuche beim Decorationsmaler Fuentes (am 17.), zu Frankfurt verfasst ist, ergibt zuerst mein Mscr. IV, S. 37, wenigstens fehlt die An- gabe noch bei Hempel (28, 95). Auch gehören hieher die vier Balladen von der schönen Müllerin. Erst aus meinem Mscr. IV, S. 37 erfahren wir das genaue Datum der ersten: „Beginnt hier [Heidelberg] am 26. die Ballade: der Edelknabe und die Müllerin. Reist am 27. von da ab — kommt am 29. in Stuttgardt an — vollendet hier die vorgenannte Ballade. Schreibt am 4. September den Aufsatz: Vortheile, die ein junger Maler u. s. w. und die Ballade: der Junggesell und der Mühlbach, desgl. am 5. und 6. September die Ballade: der Müllerin Reue". Unbeeinflusst erscheinen diese Notizen sowol von dem Briefwechsel mit Schiller (Nr. 358 vom 31. Aug.), Digitized by Google 76 v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethischer Schriften. wonach Goethe damals bereits die 2. Ballade angefangen, welche dichterisch auch schon in V. 32 der ersten im Keime enthalten ist, als auch von den Tag- und Jahresheften, welche die erste Ballade gar nicht und nur die zweite und vierte er- wähnen. Düntzers Vermuthung, dass die Briefe an Schiller, womit der Dichter die zweite und vierte übersandte, von Be- deutung seien für deren Abschluss, vermag ich nicht zu theilen: die mit „schreibt" eingeführten Tagebuchauszüge enthalten in der Regel das Datum des abgeschlossenen Gedichts, womit nachträgliche Correcturen vereinbar sind. Düntzer ist mir auch hier unverständlich; er sagt: „dass er [Goethe] die dritte (?) und vierte Ballade schon in Stuttgardt am 5. und 6. [September] entworfen (?), glauben wir Musculus". Dieser spricht aber' gar nicht vom „entwerfen", und die Entwürfe der dritten Ballade fallen erst in den November. Wann die letztere fertig geworden, ist gleichfalls streitig. Düntzer stützt sich für die Annahme des IG. Juni 1798 nach dem Gedichtscommentar (II, 369) auf eine Notiz in Goethes Tagebuch, nach den Akademischen Blättern (I, 95) auf einen Riemerschen Bericht, den ich nicht kenne. Musculus' Auszüge (Mscr. IV, 40) lauten dagegen anders. Am 6. April 1798 sei Goethe von Jena nach Weimar zurückgekehrt; alsdann heisst es weiter: „Setzt vom 10. — 21. April den Faust fort Macht ein Schema über Homers Ilias und den Plan zur Achilleis. Schreibt am 12. u. 16. Mai die Ballade: der Müllerin Verrath. Den 20. Mai nach Jena. Schreibt am 24. — 28. Mai die Einleitung zu den Propyläen. Macht mit Schelling optische Versuche und vollendet am 12. u. 13. Juni die Elegie: Euphro- syne [bei mir Gedichte I, 425, von Düntzer beanstandet, als ob mau nicht ein Unteruehmen in mehreren Tagen vollenden könnte]. Schreibt am 16. Juui: die Musageten, das Blüralein Wunderschön. Schreibt ferner das Gedicht : deutscher Parnass (danach meine ganz allgemeine Zeitangabe a. a. 0. II, 305]. Den 21. Juni zurück nach Weimar". Man sieht, der 16. Juni bleibt, auch wenn man ihm die Ballade von der Müllerin entzieht, genug belastet Von der Ilias erscheint Goethe nach seinem Briefe an Schiller vom 12. Mai (Nr. 461) durchaus nicht ab- sorbiert, da er noch zur Fortsetzung der Zauberflöte Zeit und Digitized by Google v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethischer Schriften. 77 Stimmung fand. Und ebenso zeigt sein Brief (Nr. 470) vom 24. Juni, dass er das danach an Schiller zurückgesandte fran- zösische Original von Jena mit herübergenommen, um das ohne dasselbe vor der Abreise am 20. Mai in Weimar ausgearbeitete Gedicht nachtraglich damit zu vergleichen. Ich vermuthe, dass es dasjenige Exemplar war, welches ich nebst Goethes Manu- skript der Ballade gegenwärtig besitze (s. Ged. I, 370). Die so positive Musculussche Zeitangabe scheint mir hienach an innerer Unwahrscheinlichkeit oder gar Unmöglichkeit nicht zu leiden. Iu die nun folgende Zeit setzt Musculus, die Arbeiten und Ereignisse chronologisch aneinanderreihend, die „Weis- sagungen des Bakis", womit sehr wol bestehen kann, dass sie, Riemer zufolge, zuerst am 23. März 1798 in Goethes Tage- buch notiert seien (meine Gedichtsausg. I, 459). Wann sind sie dann später darin notiert? Diese Frage lüsst Kiemer offen. Nach Musculus (Mscr. IV, S. 40) fällt in die Zeit vom 21. Juni jenes Jahres bis zur Theatereröffnung am 12. October in nach- stehender Reihe folgendes: „Ist beschäftigt mit den Propyläen, mit Theater- und Schlossbau. Besuch von v. Maruni [hiezu im Mscr. III, S. 22 eine Stelle aus dem Briefe an Schiller vom 21. Juli]. Schreibt die Weissagungen des Bakis. Obersetzt den Aufsatz Diderots von den Farben und schreibt Anmerkungen dazu". Grade Marums Anwesenheit und der Briefwechsel mit Schiller im Hochsommer (Nr. 472 — 480) weisen auf die gedachte Dichtung, speciell als auf eine collec- tive die Aeusserung in Nr. 478 vom 16. Juli: „ich will sehen, was ich jedem einzelnen Tage abstehlen kann, das mag denn Masse machen, wenn es kein Ganzes macht". Von den übrigen Balladen wird der „Todtentanz" bei Mus- culus, den die Chronologie grade ex professo behandelt, später gesetzt, als man nach Kiemer (Mitth. II, 548 u. 577; Briefe S. 196 Note) annehmen durfte. Aber schon Frhr. v. Bieder- mann klagt über die Ungenauigkeit der bezüglichen Angaben Riemers (bei Herapel 27, 1, S. 476 zu Nr. 818). Bei einem Vergleiche der gedruckten „Chronologie" des Jahres 1813 mit Musculus' Mscr. IV findet man in letzterem allein solche genaue Tagesdaten, welche unmittelbar des Dichters Tagebuch Digitized by Google 78 v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethischer Schriften. entnommen sein müssen. Danach fällt dieCantate „Idylle" auf den 18. und 19. Januar, die Rede auf Wieland auf die Tage vom 24. Januar bis 5. Februar, womit die Entlehnung von „Jördens Wörterb. Buchstabe W." aus der Grossherzogl. Bibliothek vom 25. Januar übereinstimmt (so wird auch die Annahme, das kleine Gedicht „Eigenthum", 1, 05 der neuen Hempelschen Ausg., falle in das Jahr 1813, dadurch unterstützt, dass der Dichter am 13. Miirz dieses Jahres Wielands Merkur von 1773 und 1774, mithin auch das Heft mit dem zu Grunde liegenden Memoire von Beaumarchais, von der Weimarischen Bibliothek erhielt), der Aufsatz „Ruysdael als Dichter" auf den 31. Januar (bei Hempel 28, 555 ist nur der erste Druck 1816 ersichtlich; s. auch das. 27, 1 Nr. 828), die Parabel „Pfaffenspiel" auf den 23. Februar, der Aufsatz: „Shakespeare und kein Ende" in den März (Goethe entlehnte von der Bibliothek Shakespeares Werke, deutsch und englisch, Ende Februar und Anfang Marz), das Lied „Gewohnt, Gethan" auf den 19. April in Oschatz („Auf- enthalt daselbst von 12 Uhr Mittags bis 3/i auf 3 Uhr Nach- mittags"). Dann heisst es von Teplitz: „schreibt zugleich am 22. Mai die Ballade: Die wandelnde Glocke. Auch die Ballade: Der getreue Eckart lallt in diese Zeit". Nach genauen An- gaben betreffs des Aufsatzes über Zinnformation („Nochmals im Tagebuch den 26. u. 28. November über Zinnformation diktirt; s. auch Bd. 32, S. 84"), des Verkehrs in Dresden mit Talma (in den Annalen nicht erwähnt) und über die Rück- reise von da nach Weimar 17. bis 19. August folgt (Mscr. IV, S. 63): „Schreibt am 23. August die Ballade: Der Todten- tanz", und in Mscr. III, S. 38 am Rande das N. B. „den getreuen Eckart theilte Frau v. Goethe am 6. Juli mit, den ihr Goethe in diesen Tagen von Teplitz zugesandt hatte". Er ist mithin in Teplitz gemacht wie die wandelnde Glocke. Dahingegen den Todtentanz schrieb er am 23. August in Weimar und las ihn am 24. August Riemern vor. In Mscr. IV setzt Musculus nach einer der Riemerschen Aufzeichnungen hinzu: „Notabene. Reiset den 26. August nach Ilmenau. Dr. Riemers Zettel". Interessant ist noch die spätere Notiz: „Schreibt vom 17. bis den 20. Oktober den Epilog zum Essex", nach Goethes Annalen: „gerade an dem Tage [den TagenJ der Schlacht von Leipzig". Digitized by Google v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethischer Schriften. 79 Hinsichtlich der Ballade vom „zurückkehrenden Grafen" bietet Musculus nur die kurze Angabe: „Schreibt am 27. und 28. De- cember [1816] für den Künstlerverein in Berlin das Lied: 'Zu erfinden, zu beschliessen'. Schliesst sodann die Ballade 'Herein o du Guter' ab" (in meiner Gedichtsausg. I, 355), hinsichtlich des „Paria" die noch kürzere (Mscr. IV, S. 84): „Vollendet am 17. December [1821] den Paria" (a. a, 0. I, 387). Da Düntzer (Akad. Bl. I, 97), um „eine Art Controlle" üben zu können, auch um den Wortlaut meines Gewährsmannes über „Die neue Sirene" bittet, so bemerke ich, dass dies Gedicht sich in den Mscr. II und IV von Musculus ohne ge- nauere Zeitbestimmung beim Jahre 1827 findet, dann im Mscr. III, S. 58 gleich andern Productionen jenes Jahres nachträglich mit Monats- und Tagesdatum versehen worden ist, woher die theil- weise verbliebene chronologische Unordnung des folgenden Aus- zugs herrührt: „1827 (aetat 78). 9. Jan. und 5 [gestrichen] im März und April an dem Mann von 50 Jahren, ferner an den Wauderjahren im Mai, Juni. Faust im Mai, November und December. Im Juni schottische Balladen: matt und be- schwerlich und Gut Mann und gut Weib [s. meine Gedichts- ausg. I, 377]. Den 1. August chinesische Jahreszeiten supplirt [von mir ebenda II, 552 übersehnj. Gedicht: Die neue Sirene 29. Juli und 21. August [ebenda I, 406]. 8.-23. März über Manzonfs Adelchi [vergl. an Zelter 29. März]. Neueste deutsche Poesie; am 8. Febr. Die Tabelle hiezu [bei Hempel 29, 266 fgg.]. 9. April über Jacobi s Briefwechsel [bestätigt durch den Wort- laut der Tagebuchstelle von diesem Tage: „Etwas über Jacobi's Briefwechsel concipirt", nach v. Biedermann das. S. 219 Note]. 3. — 9. März Einleitung zu den Memoiren Robert Guillcmard's [s. S. 727]. 2. April Whims and Oddities [das. S. 772 nur mit der allgemeinen Jahresangabe]. 15.— 17. April Kritik der Petersburger Preisaufgabe [838 der Sprüche in Prosa]. Den 20., 21. November über das Leben Napoleons von W. Scott [am 19. erhielt Goethe Walter Scott, Life of N. Bonaparte T. 8. u. 9. von der Grossh. Bibl.; vergl. Werke bei Hempel 29, 768 NoteJ. Ober chinesische Gedichte Anfang Februar" u. s. w. Weshalb sollte man nun das doppelte Datum vom 29. Juli und 21. August bei der „Neuen Sirene" anzweifeln, wie von Düntzer geschieht? Digitized by Google 80 v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goetbischer Schriften. Haben ein solches nicht so viele Gedichte, namentlich des Divans? Musculus notiert im folgenden Jahre bei dem Gedichte zu Zelters 70. Geburtstage: „am 20. October und 6. December geschrieben". Ist das bedenklich? Die Musculusschen Auszüge sind selbstverständlich wie jede abgeleitete litterarische Quelle, wie die Riemerschen, die Eckermannscheu Aufzeichnungen, wie Goethe selbst, nur mit strengster Kritik zu benutzen. Dies zeigt sich mehrfach ge- boten. Er setzt z. B. das Gedicht „Ein Glcichniss" (meine Ge- dichtsausg. II, 456) theils allgemein in das Jahr 1828, und zwar nach den Dornburger Gedichten (Mscr. III, S. 59), theils speciell in den Mai dieses Jahres (Mscr. IV, S. 97), offenbar wegen des Briefes an Zelter vom 21. jenes Monats, während das Gedicht schon im März 1828 gedruckt, also spätestens im Februar versandt worden war. Nicht zuverlässiger erscheint bei dem engen Concx der Musculusschen Vorarbeiten mit dem Inhaltsverzeichnisse der Quartausgabe von 1836 fg. — Mus- culus war eben das Organ der Herausgeber für diese Seite ihrer Arbeit — auch die allgemeine Jahresangabe 1828 in diesem Verzeichniss. Das Gedicht sieht so aus, als sei es un- mittelbar nach dem Empfange der französischen Uebersetzung, auf welche es sich bezieht, verfasst; deshalb vermuthete ich (bei Hempel 2. A. II, 456) einen frühern Ursprung; ihn be- weisen zu wollen, ist mir nicht eingefallen. Beispiele der Unzuverlässigkeit des Inhaltsverzeichnisses sind die Daten 1812 beim zweiten Mailiede, das wir bis 1810 verfolgen können, der 7. September 1783 beim zweiten Nachtliede des Wan- derers, welches klar drei Jahre früher fällt, obschon Düntzer das alte Datum rechtfertigen zu können meint, das Jahr 1787 bei dem Epigramm „Neue Heilige", das Jahr 1775 bei dem Gedichte „Hofnung", nur eine Vermuthung von Musculus. So halte ich auch die Zeitangaben bei den s. g. Dornburger Ge- dichten des Jahres 1828 der Prüfung im einzelnen bedürftig. Demselben werden im Inhaltsverzeichnisse die Strophen: „Und wenn mich am Tag die Ferne'' zugerechnet, obschon wir die Entstehung vom Jahre 1826 kennen (im Stammbuch des Grafen Moritz Brühl am 23. December dieses Jahres und schon früher). So halte ich mich auch wol berechtigt, dem Altersgedichte Digitized by Google v. Loeper, zur Zeitbestimmung Goethischcr Schriften. 81 „Der Bräutigam" einen etwas frühern Ursprung 1825 oder 1826 zu ertheilen, nachdem ich das Concept desselben unter den Entwürfen der 1826 schon druckfertigen Helena gefunden (a. a. 0. II, 406). Nach Dornburg nahm Goethe nur rein Papier oder noch zu bearbeitende Entwürfe mit, nicht alte Bogen, welche erledigte und schon gedruckte Arbeiten bedeck- ten. Wo Riemer genauer ist als Musculus (z. B. bei „Fliegen- tod" 11,448), schien es mir dagegen überflüssig, letzteren auch nur zu nennen. Mit Dank nehme ich einige Berichtigungen Düntzers au; die Verse zu Gemälden einer Kapelle (a. a. 0. II, 433) be- ziehn sich nicht auf eines der in der Rochus-Kapelle bei Bingen befindlichen Bilder; ich folgte in der Annahme, die im Ge- dichte gemeinten Gemälde seien für jene Kapelle bestimmt ge- wesen, einer aus Weimar erhaltenen handschriftlichen Notiz, für welche andre Kapelle? — das wäre noch zu ermitteln. Dann habe ich bei „Königlich Gebet" (II, 333) zu bemerken unterlassen, dass das Gedicht, weil schon in der Steinschen Sammlung befindlich, schon vor das Jahr 1777 fällt. Mit etwas neuem sei mir gestattet zu schliessen. Aus einem Briefe von Schlosser an Lavater (4. Nov. 1774) war bekannt, dass Goethe von den zur Vertheilung erhaltenen drei Exemplaren seines Werther das für seine Schwester, Lenz und Lavater gemeinschaftlich bestimmte mit einer „Zuschrift" zu- nächst an Schlossers sandte. Aus den Bodmerianis des neuesten Goethe- Jahrbuchs (V, 188) erhellt nun, dass jenes Exemplar, welches Lavater erst am Martinstage 1774 Bodmern mittheilen konnte, die Strophe: „Jeder Jüngling sehnt sich so zu lieben", also das Motto der Werther- Ausgabe von 1775 (Thl. I), mit einer Variante im 1. Verse enthielt, dass mithin diese Verse als Zuschrift oder als Theil einer solchen Ende Sept. 1774 (etwa den 23.) an Goethes "Schwester, Lenz und Lavater gerichtet wurden. Endlich theile ich noch einen neuerdings durch Professor Birlinger ermittelten Separatdruck des Gedichts „Wanderers Stunnlied" mit. Es erschien in Nr. 8 des Extrablatts der Nor- dischen Miscellen den 1. März 1810 S. 157 — 159. Vermuthlich wurde Goethe erst durch diesen Druck wieder an das Gedicht erinnert. Abchit r. Litt.-Gbscu. XIII. G Digitized by Google Die Zukunft. Ein bisher angedrucktes Gedicht des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg aus den Jahren 1779 — 1782. Nach der einzigen bisher bekannt gewordenen Handschrift herausgegeben von Otto Hartwig. Die Universitätsbibliothek zu Halle hat vor einiger Zeit von Frau Emma Ross, geb. Schwetschke, die Handschrift eines Gedichtes vom Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg zum Geschenk erhalten, welches den Titel tragt „die Zukunft". Die Gesch enkgeberin hat die Handschrift von ihrem verstor- benen Manne, dem Archaeologen Ludwig Ross, ererbt. Wie dieser in den Besitz derselben gekommen, erzählt er uns selbst, leider nicht so genau, wie wir es wünschen möchten, in den „Blättern für literarische Unterhaltung" Jahrg. 1832. No. 78 mit folgenden Worten: „Das Manuscript, welches den folgen- den Mittheilungen zu Grunde liegt," (a.a.O. No. 109—111 gibt Ross eine Analyse des Gedichtes) — „fand sich unter dem Nach- lasse eines vieljährigen vertrauten Freundes des verewigten Dichters und kam durch Schenkung von den Erben dieses Freundes vor etwa sechs Jahren in den Besitz des Referenten". Dieser Referent hat sich in den „Blättern für literarische Un- terhaltung" nicht mit seinem Namen genannt, sondern nur mit einer Chiffre (50) unterzeichnet Dass derselbe aber Ludwig Ross selbst gewesen ist, ergibt sich aus dem Abdruck des dritten Gesanges des Gedichtes, den Ludwig Ross in der „All- gemeinen Monatsschrift für Literatur" Band 1. S. 32 u. f. (Halle 1850) besorgt und mit einer Einleitung versehen hat. Hier heisst es über die Provenienz der Handschrift S. 36: „Von dieser didaktischen Vision . . . hat sich unter den Papieren eines zu Anfang der zwanziger Jahre verstorbenen Jugendfreundes )igitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. II. 83 des Grafen eine vollständige Handschrift erhalten, die seit einem Vierteljahrhundert in unsern Besitz gelangt ist". Dass die uns vorliegende Handschrift dieselbe ist, welche L. Ross besass, lässt sich, abgesehen von der Herkunft derselben, aus der Beschrei- bung entnehmen, die Ross in den „Bl. für Iii Unterhaltung" S. 333 gegeben hat. „Das Aeussere des Manuscripts gibt keinen Aufschluss" (über die Geschichte des Gedichts); „es besteht aus losen Bogen und Blättern in Folio und führt den Titel: 'Die Zukunft, ein ungedrucktes Gedicht in fünf Gesängen von Graf F. Leopold Stolberg*. Von derselben Hand, von welcher der Titel1), sind auch die vier ersten Gesänge geschrieben; es ist die fliessende, nachlässige Hand eines Gelehrten oder Ge- schäftsmannes, wie sie vor einem halben Jahrhundert üblich war. Der fünfte Gesang zeigt die steife und derbe, aber deut- liche Handschrift eines Abschreibers damaliger Zeit; die Zeilen sind nach dem Lineal geschrieben; jede Seite führt die Ueber- schrift: fdie Zukunft, fünfter Gesang', und nach Art solcher Leute ist am Ende jeder Seite der gehörige weisse Rand nicht vergessen. " Unsere Handschrift des Gedichtes scheint die einzig er- haltene desselben zu sein. Weder Theodor Menge, der Bio- graph Stolbergs, hat eine andere Quelle über das Gedicht be- nutzen können als die Veröffentlichungen von L. Ross (Der Graf Friedrich Leopold Stolberg. Bd. I. S. 101. Anm. 2.), noch hat J. H. Hennes (Aus Friedrich Leopold von Stolbergs Jugend- jahren, Frankfurt 1876) irgend eine Andeutung über Handschrif- ten des Gedichtes gemacht, welche sich im Stolbergischeu Fa- milienarchive zu Brauna fänden. Ebensowenig Joh. Janssen, der des Gedichtes in seiner ausführlichen Biographie Stolbergs nur flüchtig (Bd. I. S. 75) gedenkt, während es Hennes überhaupt gar nicht erwähnt. In den von ihm mitgetheilten Briefen Stol- bergs findet sich auch keine sichere Anspielung auf dasselbe. Doch aus einer derselben ersieht man, dass er sich 1781 mit Ideen trug, die den in unserem Gedichte ausgesprochenen nahe 1) Mir scheint der Titel allerdings auch von der Iland des Schrei- bers des Gedichtes geschrieben; aber wenn ich nicht irre, ist der Titel später geschrieben als das übrige. 6* Digitized by Google 84 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. II. verwandt sind (S. 154). Und doch hat es ausser unserer Hand- schrift sicher mehrere Abschriften gegeben. Von einer oder zwei von ihnen haben wir bestimmte Nachricht. Boie schreibt 1783 an v. Halem (Menge a. a. 0. S. 101): „Von Stolbergs Zu- kunft habe ich vier Bücher gelesen und bin auch von dem grossen Dichtergeiste durchglüht worden, der durch das Ganze weht. Ihre Verse darüber sind sehr gut." (Halem, Gesam- melte Schriften Bd. V. S. 28 u. f.) Haben wir damit zugleich ein un verwerfliches Zeugniss für die unzweifelhafte Herkunft unseres Gedichts von Stolberg, so wird diese auch noch direct durch das Zeugniss von Stolberg selbst bestätigt In seiuen Gedichten (S. W. I. 313) findet sich aus dem J. 1792 eine „Zueignung eines unvollendeten Ge- dichts : die Zukunft" an seine „Freundinn Caroline Adelheit Cor- nelia" (Gräfin von Baudissin), und in dem 1788 erschienenen Romane „Die Insel" hat er 15 Verse „aus einem ungedruckten Fragment: die Zukunft" abdrucken lassen (S. W. III. 258). Ueber die Abfassungszeit des Gedichtes belehrt uns das- selbe selbst zur Genüge. Da es Gesang U. 748 heisst: Dreiesig Sonnen sah ich noch nicht, und II. 797: Also sang ich, als Friedrich zum zweiten Male mit Lorbern Wiederkehrte etc., womit zweifellos auf den am 13. Mai 1779 abgeschlossenen Frieden von Teschen angespielt wird, so ergibt sich für die ersten zwei Gesänge als Abfassungszeit der Sommer 1779. Da Stolberg diesen Sommer und Herbst Über in Eutin, dann in den Bädern Meinberg (Lippe-Detmold) und Pyrmont (bis zum 12. August) verweilte, später über Hannover nach Trems- büttel, dem Wohnsitze seines Bruders Christian, von hier nach Eutin, und wieder nach Tremsbüttel und Eutin zurückkehrte und erst im November in Kopenhagen auf seinem Gesandt- schaftsposten eintraf, wird sich schwerlich sicher ausmachen lassen, wo die beiden ersten Gesänge entstanden sind. Da er von Pyrmont aus das Schlachtfeld des Teutoburger Waldes besuchte (11. August), sich aber auf dasselbe keine Anspielung in unserem Gedicht findet, mochte ich glauben, die zwei ersten Gesänge des Gedichtes seien vor dem August 1779 abgefasst. Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb von Hartwig. Gesang I. II. 85 Auf die in Meinberg und Pyrmont „froh" verlebten Tage des Juni und Juli weist auch eine andere Zeitbestimmung hin. Vom dritten Gesänge steht es nämlich fest, dass er sech- zehn Monate nach dem Abschlüsse der beiden ersten begonnen wurde. Denn es heisst III. 1 u. f.: Kommst du wieder zu mir nach langem Säumen, Siona? Kommst du wieder? Schon zehn Mal und sechs Mal füllte dio Sonne Mit den Strömen des Lichts das Horn des silbernen Mondes, Seit du mir entschwandest Das würde also, wenn wir den Abschluss der beiden er- sten Gesänge in den Juni oder Juli 1779 setzen, auf eine Zeit um die Wende des Jahres 1780 hinweisen. In dem Laufe des Jahres war die Gräfin Emilie Schimmelmann (III. 15) („mein bestes Milchen" der Briefe) gestorben, und Stol- berg am Schlüsse des Jahres in Folge der Entlassung seines Schwagers Bernstorff als Minister der auswärtigen Angelegen- heiten in Kopenhagen entschlossen, von seinem Gesandtschafts- posten nach Eutin zurückzukehren. Da schreibt er denn in der Hoffnung auf baldiges wiedersehen und frohes zusam- menleben am 13. Januar 1781 an seinen Bruder Christian (Heunes S. 154): „Es ist doch wunderbar und schon, dass ich in meiner Stube sitzend, an einem neblichten Tage mich auf den Altan von Kronenburg, und von da hin zu Dir versetzen, mich in den Born der Vorzeit, der so oft in sein stärkendes Bad mich genommen, tauchen, Geister der Todten beschwören, die Höhen der Zukunft erfliegen, und in diesem Augenblick Dich umarmen kann! Mit Dir hinfort oft und viel diese Pfade zu wallen auf dem Zaubergefilde der Phantasie, oder am Strom der Vorzeit, oder auf den Höhen der Zukunft, bald geleitet an der Erinnerung und bald an der Hoffnung Hand, und dann oft im Gefühl des Beisammenseins und der gegenwärtigen Zeit, freudig ruhen, 'Müden Pilgern gleich, auf die Stäbe ge- lehnt', das ist mir eine süsse Vorstellung." Wenn nun in diesen Worten, wie schon bemerkt, keine directe Beziehung auf unser Gedicht enthalten ist, so möchte ich doch glauben, dass, da die Ideenkreise, welche hier berührt werden, bis auf den Wortlaut sich mit dem in dem Gedichte behandelten decken, Digitized by Google 86 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang. I. II. gerade damals Siona sich wieder dem Dichter genaht habe. Die Angabe, dass der 3. Gesang 16 Monate nach der Vollen- dung der ersten beiden Gesänge entstanden sei, stimmt dann sehr gut mit unserer Annahme zusammen, dass die ersten zwei Gesänge im Juni oder Juli 1779 vollendet sind; beide Angaben stützen einander. Ob der Dichter damals Gesang 3 und 4 unmittelbar nach einander niedergeschrieben hat, lässt sich nicht ermitteln. Der 4. Gesang enthält keine Angabe, die sich chronologisch verwerthen Hesse, doch da Boie (s. oben) Gesang 1 — 4 zusammen las, werden die beiden letzten (3 u. 4) auch gleichzeitig entstanden sein, jedesfalls der vierte Gesang nicht so viel später nach dem dritten gedichtet worden sein, als dieses von dem fünften erweisbar ist. Denn dieser ist sicher erst im Sommer 1782 gedichtet. Stolberg preist sich in ihm glücklich, dass er „ein liebendes Weib mit Nachtigallen- seele, Taubenaugen und goldenen Locken", „seine geliebte Agnes" (von Witzleben) gefunden hat. Da Stolberg sich An- fangs November 1781 verlobte und am 12. Juni 1782 ver- heiratete, so ist die Zeit der Abfassung des fünften Gesanges in Verbindung mit den Versen V. 1 u. f.: Nun erschallet der Nachtigall Lied auf hangenden Buchen Ueber dem stillen See und auf den duftenden Erlen An dem Ufer des bräunlichen Baches u. s. w. damit festgestellt und zugleich auch der Ort fixiert, wo er entstanden ist: in Eutin, in dem Hause, das sich Stolberg kurz vorher gekauft hatte und in dem jetzt der Director des Eutiner Gymnasiums wohnt. Da ferner Stolberg vom 10. Juni 1782 an nach Oldenburg verreist war und der nordamoricanische • Unabhängigkeitskrieg als noch nicht beendet bezeichnet wird, V. 173 u. f., so haben wir auch einen ganz bestimmten End- termin für die Abfassungszeit des Gedichtes, das also vom Juni 1779 bis zum Juni 1782 den Dichter beschäftigt hat. Man hat die Frage aufgeworfen, warum Stolberg dieses Gedicht nicht vollendet und veröffentlicht habe. Die Autwort ergibt sich aus dem Inhalte des Gedichtes von selbst. Der Gesandte eines deutschen Fürstenhauses an den Höfen von Kopenhagen , Berlin und Petersburg durfte doch selbst im to- Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft Hggb. von Hartwig. Gesang I. II. 87 leranten 18. Jahrhundert Dicht ein Gedicht drucken lassen, in dem sich u. a. Verse finden wie folgende (III. 164): Meinet Ihr, es würde der Genius deutscher Freiheit Ewig schlummern, gekrönte Verräther? Auch die Verse auf Friedrich den Grossen am Schlüsse des 2. Gesanges und auf die Kaiserin MariaTheresia(V.50 u. f.) hätten einem activen Diplomaten keine Freunde erworben. Und wie hatten sich des Dichters eigene Ueberzeugungen, namentlich seine kirchlichen, später geändert! Aus dem „Che- ruskischen Edeling", der von einer zukünftigen deutschen Adels- republik mit freien Bauern *) geträumt hatte (s. Gesang 3), der gegen die „welschen Priester", „die gleissenden Täuscher", ge- eifert und Luther verherrlicht hatte (Ges. II. 695), war ein gehorsamer Sohn der römischen Kirche und ein Anhänger der „Monarchie von Gottes Gnaden" geworden. Wie sollte nach solchem Gesinnungswechsel er da noch dazu kommen, ein Gedicht zu veröffentlichen oder veröffentlichen zu lassen, das ihn noch im ganz entgegengesetzten Lager gezeigt haben würde! Nicht die Sorge um die bei einer Veröffentlichung des Ge- dichtes nöthig werdende Ausbesserung und Vollendung der hie und da allerdings recht holprichten und fehlerhaften He- xameter, nicht die Einsicht in andere formelle oder materielle Mängel des Gedichts, das ja seinem Gegenstande nach nicht zu einem vollkommen künstlerischen Abschluss zu bringen, sondern nur subjectiv zu vollenden war, haben dieses ein „un- vollendetes Gedicht", „ein Fragment" bleiben lassen, sondern der Umschwung, der in der ganzen Lebensrichtung des Dich- ters sich allmählich anbahnte und der 1800 mit seinem Ueber- tritt zum Katholicismus zum Abschlüsse kam. Darum aber ist unser Gedicht, von allem andern abgesehen, ein sehr werth- volles Denkmal der inneren Entwicklung von Friedrich Leo- pold zu Stolberg. Nicht minder aber auch für die chaotisch gährende Zeit, in der es entstand. 1) Der Vater Fr. L. zu Stolbergs war der erste norddeutsche Guts- besitzer, der die Leibeigenschaft aufhob und den Dauern Eigenthum und Freiheit gab. Die Vorliebe Stolbergs für diese deutsche Adelsrepuhlik scheint besonders durch seinen Aufenthalt in Bern entzündet worden zu sein. Digitized by Google 88 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. II Der Vollständigkeit halber möge hier noch die Zueignung des Gedichts „die Zukunft" an die Gräfin Karoline Adelheid Cornelia von Baudissin1) aus dem Jahre 1782 eine Stelle finden. Wie an der ruhenden Schäforinn Fuß der Spalte des Felsens Blumentrankend ein Quell mit säumendem Murmeln entgleitet, Und auf jeder Welle das Bild der Schäferinn wieget, So entstanden mir oft bei meiner zärtlichen Freundinn Neue Gedanken und spiegelten hell die Seele der Freundinn. Wie der wachsende Quell im Schatten hangender Bäume Unter der Nachtigall Lied melodii-ch rauschet, ein Waldbach Ist er bald, er wächset zum Strom, schon rollt er die hohen Wogen donnernd und schäumend hinab iu des Oceans Vluthen ; Also wurden melodisch die neuen Gedanken, es rauschet Schon der Strom des Gesangs! Durch ferner Zukunft Gefilde Wird er rollen, bis ihm der Ewigkeit Meere sich öffnen. Zukunft! Ewigkeit! Wie hebt der Wonnegedanke Einen Sterblichen, ihn der gestrigen Wiege Bewohner, Und des morgenden Grabes! — Dich hebt in blühender Jugend, Dich, mit Reizen der Schöne Geschmückte, der Wonnegedanke, So wie mich ! Vertraut mit dem Oceane der Zukunft Sah ich freudig und ernst Dich oft an seinem Gestade Wallen, sah Dich dann im stillen Thal der Empfindung Lächelnd Blumen pflücken und bunte Kränze Dich winden Mit sanft schonender Hand, daß vom erschütterten Stengel, Daß vom werdenden Kranze die Thräne des Morgens nicht triefe ! Dann begleitet' die Muse Dich oft, sie pflückte die Blumen, Welche Du wandest zum lieblichsten Kranz. Der Enkelinn Seufzer Wird Elvinens*) Urne mit leisem Flügel umwehen Und nach Lauras8) Seele wird ihre Seele sich bilden! Du umschwebest sie dann auf rosigem Schimmer des Morgens, Oder auf mondlichem Strahl, und kehrest seeliger wieder Zu den himmlischen Lauben, ich lausche Deiner Erzählung Dann und fühle mich seeliger durch die Wonne der Freundinn ! 1) Die Gräfin Baudissin war eine geb. Gräfin Schinimelmann und Schwester der Gräfin Julie Keventlow. In Stolbergs Briefen wird sie Linchen genannt. Janssen S. 162. 2) Siehe Deutsches Museum 1782. Juli. Briefe von Agnes und Ida. (L. R0S8.) 3) Mit Bezug auf ein ungedrucktea Trauerspiel „Laura". (L. Boss.) Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang 1. 80 Erster Gesang. Ich bin Staub und Asche, gestern geboren, und morgen Wallen über mich hin die Füße des nichtigen Enkels. Schatten heisset, und Traum, mein Leben, mein Wißen ist Dämmrung; Eitel ist alle mein Thun, denn meine Kräfte sind Ohnmacht! Kaum gewährt mir die fliehende Stunde des Lebens zu schauen Um mich her, und dennoch verliert sich mein Blick in die Zukunft? Darf er es thun? .... 0 Du, der mit dem Meere die Erde Gürtete, und umher mit sternigten Himmeln sie wölbte, Der in eine Hütte4) von Erde die Seele des Menschen Einschloß, und sie lehrte den Himmel Heimath zu nennen, 10 Der aus dem Strome der Zeiten ihr einen Tropfen vergönnte, , Aber himmlische Inseln verhieß im ewigen Meere, Welches wie einen Tropfen den Strom der Zeiten verschlinget; Ewiger Vater des Alles, so ist, so war, und so seyu wird, Wenn mein Geist sich erhebt auf neuer Ahndungen Hügel, Vater, folgt er nicht dann dem Triebe, den Du ihm anschufst? Weinen ist die erste Stimme des Menschen, und Sehnsucht Ward von Dir zur Gefährtin dem Sohno des Weibes gegeben, Daß sie walle mit ihm die Bahn des Lebens im Staube. Sie entlocket Thräneu dem einen, reichet dem andern 20 Süßer Hoffnungen Becher, erscheint im Schlummer dem Müden, AVenn aus bessern Welten ein Traum sein Lager umflattert, Und besucht in wachenden Träumen dio Seele des Dichters, Aber entschwebet ihm nicht auf Purpurschwingen des Morgens, Ehe sie Bilder der Zukunft in seiner Seele gelaßen; Mich entflammen die Bilder der Zukunft, ich nehme die Harfe Und erhebe mein Haupt um meinen Brüdern zu singen, Welche Gesichte mir die geweihten Stunden verliehen. Bin ich aber zu kühn, und darf ich, weil ich der Erde Früchte genieße, nicht dem heiligen Dunkel mich nahen, 30 0 so bewahre mich, Herr, vor vermeßenem Frevel, und laß mir Früh die Bläße des Todes ins sinkende Angesicht wollen, Eh ich der Ewigkeit Hülle mit eitlen Flügeln umflattre, Welche Engel vielleicht mit weiser Stille vorbeygehn! Denn sie wißen nicht, wie lange die rollende Erde Soll in wechselnder Schöne die flammende Schwester begleiten, Du nur weist es, o Gott, mit Dir der Endlichen keiner. 0 Du, der mit bogleitenden Engeln die Erde zu richten Kommen wirst, wenn Du das Buch der Schrecken enthüllest, Wenn in flammender Schrift der Menschen Thaten erscheinen, 40 Laß, Weltrichter, mich seyn ins Buch des Lebens geschrieben! 1) L. Rosa möchte Hölle lesen. Hütte steht aber in der Handschrift. Digitized by Google 90 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang l. 0 Du, deßen mächtigem Fuße die Himmel erzittern, Der mit tausendmal tausend Blizen die Höh und die Tiefe Schreckt, deß Saum am Gewände die sinkenden Cherubim blendet, Deßen Werde! die Schöpfung mit jungen Himmeln hervorrief, Deßen Sinke! die Himmel mit allen kreisenden Sonnen Würde wieder zurück in den Schooß des Undings versenken, Wie ein herbstlicher Sturm die falben Blätter verwehet; Deßen Odem unsterbliche Jugend den Seraphim einbließ, Deßen Donner der Engel empörte Flammen-Geschwader 50 Von der Veste des Himmels herunterstürzte zur Hölle! Wenn Du die Frevler zu strafen, mit Deinem Verderben umgürtet, Kommen wirst, wenn Dir der Sonnen Antlitz erbleichet, Wenn die Morgensterne zu leicht in der furchtbaren Wage Steigen, und Söhne des Himmels der schrecklichen Ewigkeit fliehen, Wenn in einem Wuthausruf den Klüften der Hölle Melden ihre Bewohner: es komme der zürnende Richter! Rache gehe vor ihm! ihm folge blaße Verzweiflung! Wenn die Gräber der Todten vor Deiner Stimme sich öffnen, Wenn dieselbe Posaune den ersten der Todten hervorruft, 60 Und mit der lebenden Mutter zugleich den Säugling verwandelt, Ach erbarme dich dann des schwachen süudigen Staubes, Laß, Sohn Gottes, mich seyn in Deine Hände gezeichnet! = Einsam ging ich am Ufer des Meeres, in nächtlicher Stunde, Und es lauschte mein Ohr dem ernsten Wogengesange, Ueber mir hingen wölbende Wipfel alternder Buchen, Die mit verschlungenen Wurzeln den Hang des hohen Gestades Gegen reissende Fluthen in herbstlichen Tagen beschützen; Bebend zeigten sio bald, und verbargen wieder, der Sterne Häupter, mit wankendem Laube, so leise, daß mein getäuschter 70 Blick der bewegten Stern' am blauen Himmel sich freute; Und mich däucht', ich hörte der Sterne töuendeu Kreislauf, Da erhub sich mein Geist; er flog von Sonne zu Sonne, Bald von Himmel zu Himmel, vom kleinen zum größern, und alles, Was mein Blick sah, schien mir ein Tropfen gegen der Schöpfung. Meere, welche mein Geist mit schwellendem Segel durchschiffte. Aber es stieg nun östlich der Mond mit glänzenden Wangen Ueber erröthende Wogen, seiu trautes Antlitz entlockte Mich den Himmeln, es senkte mein Geist sich wieder herunter Zu der niedrigen Erd und ihrer Jugendgespielen. 80 Ach wie ist die Erde so schön im Schimmer des Mondes! Dacht ich! wie so schön im Uosengewande des Morgens, Wenn die Sonne sich hebt aus ihrem glänzenden Lager! Erde, jugendlich schön, das bist Du! werden noch viele Lenze dein heiliges Haupt mit jungen Blumen umwinden? Oder rollest Du schon entgegen dem Untergange? Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft Hggb. von Hartwig. Gesang I. 91 So verlor sich mein Geist, in Irren vieler Gewebe, Rund umnacbtet vom schauervollen Dunkel der Zukunft; Wo ich wähnete Licht zu sehen, da war es ein Irrlicht Schwebend am Abgrund über den Pfui des menschlichen Dünkels. 90 Sieh', ich sann und schmachtete nach Erkenntniß, da rauschte Neben mir, da stralte bei mir, im Glänze des Himmels Eine Götter-Gestalt! Des schwachen Sterblichen Knice Wankten, und ich sank zu Boden! Himmel und Erde Schwanden vor mir, ich wähnte zu sterben, fühlte die Bande Reissen, welche den ewigen Geist mit dem Leibe verbinden. In der Entzückung .entschwebte die Seele dem Leibe, sie sah ihn Bleich und starr im Schimmer des Mondes liegen, und bebte Von der Erschüttrung (es däuchte sie so) des plötzlichen Todes. Nun erblickt sie die Stralengestalt und wähnet, ihr Engel 100 Sey die Erscheinung; mich bist Du zu führen vom Himmel gekommen? Und mit diesem Lächeln? Ach irrst Du nicht, heiliger Engel? Mich? Du irrst! Du verkennest den schwachen sündigen Menschen, Der verlängertes Leben vielleicht zur Rettung verdiente, Aber nicht den glänzenden Kranz am Ziele der Laufbahu! Ich bin nicht Dein Engel, Du bist noch sterblich, und kehrest Wieder zum irdischen Leibe zurück aus dieser Entzückung. Sieh! ich bin die himmlische Muse; Du wähntest die Zukunft Auszuspähn? Kein Sterblicher kanns! Unsterbliche wißen Manches, ahnden mehr, und lernen; wo der Erkenntniß 110 Hülle schattet, da beten sie an in heiliger Ferne. Die Gesichte der Zukunft zu zeigen bin ich gekommen, Einige heller, dunkler die andern, viele mit Wolken Ganz umnachtet, ich kann Dir nicht Alles, o Sterblicher, zeigen, Was ich weiß, und darf auch Vieles selber nicht wißen. Schweb auf jene Wolke mit mir! Ich schwebte mit stummer Ehrfurcht ihr nach, und bebte von bangen freudigen Schauern, Und erkühnte mich nun sie anzuschaun; in hoher Bildung stralte sie, hell mit unaussprechlicher Schönheit, Sonnen glichen die Augen der Himmlischen, ihre Wangen 120 Glühten wie die Stunde des Morgens, ein rauschender Schimmer, Wie des Nordlichts, war ihr Gewand, des Regenbogens Farben gürteten sie, es wehte golden ihr Haupthaar! Sil, weigend sah ich sie an und staunte, heller und heller Ward ihr Antlitz verklärt, und Morgenröthen des Himmels Stiegen empor ins Antlitz Sionas, stiegen und sanken, Je nachdem aus der Fülle des Herzens Wehmuth und Wonne Sich in flammenden Strömen ergossen, oder wie leichte Düfte, schwebend sich hüben empor auf geistigen Flügeln. Wie ich oft in thauenden Stunden der kühlenden Frühe, 130 Freudig staunend, mit trunkenem Blick, des rosigen Himmels Digitized by Google 92 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. Immer ändernde Schönheit bewunderte, wenn sich die Wolken Bald wie Purpur-Mäntel entfalteten, bald in gewölbten Mündungen über einander sich rollten, in wechselnder Schöne Dann mit Gold sich gürteten, oder auf flammenden Flügeln Schwebten über der glänzenden Fläche des rauschenden Meeres, Also schaute mein Blick ins Antlitz der himmlischen Muse. Aber wie vor den Stralen der Sonne die Blicke sich senken, Senkte sich meine Seele, da nun in stralender Wendung, Strömende Flammen im Aug', auf mich die Himmlische schaute. 140 Dennoch blickt ich wieder empor, da hatte die Hohe Sanft gemildert den Blick, er schimmerte nun wie der Mondschein, Und holdselig lächelten ihre geöffneten Lippen, Als in melodischen Tönen zu mir die Göttliche redte: Schau, ich öffne die Augen Dir nun, und ich will Dir auch deuten Viele Gesichte, doch werden sie schnell vorüber Dir schweben, Denn es fleugt die geweihte Stund auf Flügeln des Windes! Sprach's, und zeigte mir mancherlei Bilder, und deutete Vieles Schnell, mit inhaltsvollen und fliegenden Worten; ich will euch, Freunde der Zukunft, zuerst der Offenbarungen Bilder 150 Zeigen, es sollen euch dann weissagende Worte ertönen. Sieh', ich schaute vor mir vier Weiber; ruhend und üppig Lag auf schwellenden Polstern Asia, schüchtern und dienstbar Krümmte sich Afrika, schön in niederwallenden Locken Stand, und sah empor zum vertrauten Himmel, Europa, Neben ihr strebte sich aufzurichten die zürnende Schwester, Doch es hielten sie Bande zurück an den staubigen Boden, Wild und schön, mit streubendem Nacken, flammenden Augen Schaute sie um sich, auch lauschte Amerika wilden Gesängen, Welche von himmelschreienden Thaten, strömendem Blute, 160 Von entvölkerten Ländern und Helden in Fesseln erschollen. Gegen Aufgang sah ich und hoch am Himmel mit Stralen, Wie der Sonne, bekleidet, ein Weib, der hangende Mondschein Unter ihren Füßen in blaßem Schimmer, ihr Haupt war Mit zwölf Sternen , den schönsten der Söhne des Lichtes, umkränzet Diese sah vordem des Heiligen Offenbarung, Seher, der die Stimme des Herrn an sieben Gemeinen, Der die neuen Lieder am Throne, die Schrecken-Posaunen Hörte, und das furchtbare: Wehe den Rindern der Erde! Der des Himmels Herrlichkeit sah und Salem die neue, 170 Und die wehenden Bäume des Lebens am rauschenden Strome. Diese sah Johannes, und hörte gen Himmel sie rufen, Denn sie sollte gebären, und litt, wie Töchter der Erde Nimmer litten, es drang der Schmerz ihr bis an die Seele. Da erhub sich ein rother und ungeheurer Drache, Der trat hin vor das Weib, auf daß er möchte verschlingen Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. 93 Ihres Leibes Geburth; es ward ein Sohn ijir gegeben, Welcher sollte weiden mit einer eisernen Ruthe Alle Heiden, der ward entrückt zum Throne des Höchsten, Und es floh in die Wüste das Weib; noch wollte der Drache 180 Sie verfolgen, da wurden dem Weibe Flügel gegeben Adlers Fittigen gleich, als aus geöffnetem Rachen Giftige Ströme der Drache spie. Da thät [aber] weit auf Ihren Mund die Erde, die giftigen Ströme verschlingend. Also sah sie Johannes, ich sah sie in schwebender Ruhe Lächeln. Mit himmlischer Liebe, mit Zügen göttlichen Adels Schaute sie bald voll Demuth hinauf zur Heimath des Vaters, Bald mit sanft gemilderter Hoheit herunter zur Erde. Jungfraun sah ich eine entschweben den Wogen und wieder In die Wogen sich senken, der einen folgte die andre; 190 Wenn in wölbender Schwebung gen Abend eine sich senkte, Stieg im Aufgang empor die andre; der Sinkenden Locken Tauchten noch kaum, so stralte schon wieder der Steigenden Scheitel. Diese waren Töchter der Zeit, Jahrhunderte waren's, Waren an Größe sich gleich, und sehr verschieden an Miene; Aber ich sah nicht alle, vermochte nicht alle zu zählen, Denn so bald die himmlische Muse die stralende Rechte Senkte, ward ich schnell umnachtet, schwanden die Bilder, Und mein starrender Geist war nur aufs öde Bewußtsein Seines Daseyns gerichtet, ihm stand im Fluge die Zeit still. 200 Edel sah ich und kühn der Jungfraun eine sich heben, Eine Fackel schwang sie in stralender Rechte, da schaute Ihr ins Antliz Europa, und ward erhellet, und schaute Ihrer Kinder viele, mit Jochen belastet, mit Ketten Viele, die lösete sie mit starken leitenden Händen. Zürnend entstiejj die folgende Jungfrau rauschenden Fluthen, Hielt in der Rechten ein Schwert, und in gleich nervigter Linken Eine Wage, sie wog, und hieb mit blizendem Schwerte Von Amerikas Nacken und Händen die drückenden Bande; Eh die Retterin sich in die Wogen hatte gesenket, 210 Bank die Rechte der Muse, [undj mir entschwanden die Bilder. Einen Riesen sah ich im Schöße Asia's, seine Hechte lag mit drückender Last auf Europens Hüfte, Aber sie stieß ihn von sich, er wich unwillig, und krümmte Sich mit knirschenden Zähnen an Asia's Busen. Mit erlöschender Schönheit, in Spuren schwindender Würde Sah ich mit niederhangendem Haar, im Wittwen-Gewande, Stumm und thränenlos und überstäubet mit Asche Eine Traureude; schon in rosigen Jahren der Jugend Hat die gefangene Jungfrau geweint an des Euphrats Gestade 220 Und die schweigende Harfe gelehnt an Babylons Weiden. Digitized by Google 94 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. Wittwe irrte sie nun. Nicht eine Stätte der Ruhe Ward ihr gegönnt , ßie schaute mit Sehnsucht auf Asia's Busen, Wie ein dürstendes Kind nach Mutterbrüsten sich umsieht, Aber ihr wehrte der Rieß, auch ward sie oft von Europen Hart verstoßen; das Weib mit Sonnenstralen bekleidet Winkte liebend ihr oft vom glanzenden Aufgang herunter, Aber danklos wandte sich von ihr die zürnende Wittwe. Immer schwebten Jungfraun empor, und tauchten sich immer Wieder in die Wogen, der einen folgte die andre. 230 Wenn in wölbender Schwebuug gen Abend eine sich senkte, Stieg im Aufgang empor die andre; der Sinkenden Locken Tauchten noch kaum, so stralte schon wieder der Steigenden Scheitel. Wieder sank Siona's Rechte, da schwanden die Bilder. Nicht mehr zürnend, schmelzend in heissen Thränen der Reue Sah ich nun, und knieend das Weib im Wittwengewande, Siehe, da nahm sie die Sonnenbekleidete mild in die Arme, Gab ihr Schmuck uud Feyergewand; die Schöne der Jugend Stieg, wie glänzende Tropfen des Thaus vom Fuße der Pflanze Durch den wankenden Stengel in bunte Töchter des Lenzes, 240 In die erneuten Mienen empor. Da ward ihr vom Himmel Ein zweischneidiges Schwert gebracht, versammlete Feinde Schlug sie, zwang den Riesen ihr auszuweichen, und setzte Sich in blendender Schönheit auf Asiens weichen Schooß hin. Nachbarinnen, die sonst von ihrer Schwelle sie stießen, Lagen im Staube vor ihr und brachten Sühnuugs-Geschenke. Immer sandte des Schimmers mehr und hellere Stralen Um sich her die Sonnenbekleidete, viele der Stralen Trank mit durstendem Aug Amerika, Asia viele, Ja auch Dämmrung folgte der Nacht auf Afrikas Stirne, 260 Und sie wagte um sich zu schaun und sich aufzurichten. Aus des Abgrunds Tiefen erhub sich ein scbuppigter Drache, Dampfende Wolken von Rauch entstiegen mit ihm dem Schlünde. Diese verbargen oft den Glanz des himmlischen Weibes, Dennoch siegten immer die Stralen des himmlischen Weibes. So verhüllen Nebel in trüben, herbstlichen Tagen Oft das flammende Haupt der segenströmenden Sonne, Dennoch sieget zuletzt die segenströmende Sonne, Und die Erde freut sich mit ihr. Der singende Schäfer Wagt es nun, durch felsigte Pfade die Heerde zu treiben, 260 Und der Schiffer öffnet dem Winde schwellende Segel, Aber der laurende Räuber verbirgt sich in schaudrige Höhlen, In die Wüste kehren zurück die reissenden Thiere, Und zur wiederächzenden Kluft der klagende Uhu. Als der Dampf verschwunden war, da richtete zürnend Sich der Drache auf und speyte strömende Flammen, Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang I. 94 lebte, gefiel ihm sehr gut: „er hat eine erstaunliche Bücherraenge, in vielen Zimmern, von allerhand Wissenschaften" (Tageb. 85). Hübner und Richey, erwähnt Haller, habe er nicht gesprochen. Ende August traf Haller wieder in Leyden ein. Im Herbste kam dahin Joh. Gessner, mit dem ihn innigste Freund- schaft und gemeinsame Studien verbanden. 1727 am 23. Mai er- hielt er die Doctorwürde zu Leyden (Einl. XXXVUI f.). Bald darauf begab er sich nach London. Ueber seinen Aufenthalt daselbst be- richtet Hirzel wieder nach Hallers Aufzeichnungen; die über Paris sind leider zum Theil unleserlich. Die Urtheile über das geistige Leben in England und die englische Litteratur fesseln unsere Auf- merksamkeit. Das Interesse der „tiefsinnigen und spitzfündigon" Engländer an den „tausenderley Zeitschriften" rühmt er ebenso wie den Reichthum des Landes, die gute Regierung und — mit einem Seitenblick auf sein eigenes Vaterland — „die grosse Beehrung der Gelehrtheit, während man anderstwo auf Adel und Kriegsdienste so viel hält". Für alles, was einem kundigen Reisenden von Interesse sein kann, hat der junge Haller Augen: er beschreibt London, das Leben auf der Themse schildert er wie das Treiben in Cafehäusern, rühmt die englische Münze wegen ihrer Solidität, vergleicht die Sterblichkeitsverhältnisse von London und Paris und stellt die poli- tischen und confessionellen Verhältnisse dar (Einl. XLI f. und Tageb. 121 — 141). Von den Dichtern erwähnt er noch mit keinem Worte Shakespeare, Milton, Pope, wol aber Addisons Cato, dessen mit Steele zusammen herausgegebene Zeitschrift Spectator, ferner Butler, Rochester, Swift. Offenbar erst nach seiner Rückkehr 1) Auch über diesen fehlt eine Anmerkung Hirzels a. a. 0. 86, während über Richey (f 1761) der Leser belehrt wird. FabriciuB führte ein einfaches und glückliches Familienleben. Haller: „er hat artige, wohlgeputzte Töchtern, zu denen wir uns anfangs verirrten", — war dienstfertig und freundlich gegen jedermann — nach Haller: „ein höflich und artiger Mann". — Mit Brockes, Richey u. a. gründete Fabricius 1715 die „Tentech übende Gesellschaft". Von Fabricius auch einige deutsche Gedichte; vgl. über ihn Allg. Deutsch. Biogr. VI, 618 f. Digitized by Google 126 Jacoby, Anz. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v.L. Hirzel. aus England hat Haller andre bedeutende englische Dichter kennen gelernt. — Basel, wo er 1728 eingetroffen war, fand er, den Selbstauf- zeichnungen nach, unkommlich und altfränkisch (Einl. XLVI). Auf dem Rathhause erfreut ihn Holbeins Leiden Christi; der Todtcn- tanz bei der französischen Kirche. „Die Stellungen gut genug; dabey sind Verse, grotesque." Vielleicht hat der berühmte Ber- noulli, dessen Vorlesungen Uber höhere Mathematik Haller eifrig" hörte und der in seinen lateinischen Versen dichterische Begabung bekundete, bestimmt haben Benedict Stähelin und Karl Fried- rich Drollinger durch den Vorwurf, die Deutschen seien gegen die Engländer zu philosophischer Dichtung unvermögend, Hallers Ehrgeiz entflammt, als Dichter den Engländern gleich zu kommen. In Basel drängten die Eindrücke seiner Reisen den jungen Dichter zu poetischer Gestaltung. Was Hirzel über Drollinger sagt, ist auch nach Wackernagels Aufsatz Über ihn beachtenswerth. Nach- dem Drollinger Besser, Canitz gelesen und die euglische Litteratur kennen gelernt hatte, wandte er sich von dem früher bewunderten Lohenstein — gerade wie Haller — fast mit Ekel ab. Dass Stähelin mit der englischen Sprache von Jugend auf vertraut war und eng- lische Schriftsteller wie Shaftesbury und Pope viel in Händen hatte, betont Hirzel mit Nachdruck. Mit den Gedanken der Denker genährt, welche aus den Ergebnissen der Naturforschung mit lei- denschaftlicher Anspannung aller Kräfte die tieferen Fragen nach der Natur und der wahren Aufgabe des Menschen zu beantworten suchten, fand Haller in den englischen Dichtern congeniale Geister, welche seinem innersten Bedürfniss entgegen kamen. Wenn er selbst erzählt, in Basel habe ihn mit aller Kraft die „poetische Krankheit" erfasst, welche mehrere Jahre verschwunden geschienen, so spricht er beinahe philiströs-undankbar von der Gunst der Musen, aber die Worte bezeugen doch, dass ein innerer Drang ihn zum dichten gezwungen. Die Gedichte über die Ehre (1728 Juni), die Alpen (1729 März beendigt), die von Leibnizischen Anschauungen beeinflussten Gedanken über Vernunft, Aberglauben, Unglauben (Juli 1729), wie die Ode die Tugend (Oct. 1729), be- weisen, dass Haller trotz dem Glauben an einen persönlichen und allgütigen Gott aller Unduldsamkeit feindlich entgegentrat, dass in ihm jene göttliche Unruhe des Denkers lebendig war, die sich mit dem überkommenen und durch Gewohnheit geltenden und gehei- ligten nicht zufrieden gibt, welche den grossen Geistern aller Zeiten eignete. Sie zeigen, dass er allem Scheinwesen feind, den Selbst- betrug auf allen Gebieten des Lebens hasste , dass er mit bitterem Grimm die Heuchelei und den Trug unwürdigen Priesterthums be- kämpfte. — Zu der Alpenreise, die Haller in Begleitung von Johann Gessner machte, gibt Hirzel Auszüge aus der Beschreibung, die Jacoby, Am. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirzel. 127 Haller selbst verfasst hat. Was in seiner Seele vorgieng, ist für das tiefere Verständniss des Gedichtes von Wichtigkeit, das zuerst in dichterisch künstlerischer Form für die Erhabenheit des Hoch- gebirges den Sinn erschloss, den Gegensatz von Natur und Cultur hervorhob und diese als die Feindin alles wahren Menschenglückes hinstellte, das endlich die schlichte Sitteneinfalt und Reinheit eines sonst „verachteten Volkes" rühmte. Eine aufmerksame Würdigung verdienen die Ausführungen Hirzeis über den Einfluss, welchen auf Haller Beat Ludwig von Muralt geübt hat. In einer damals viel gelesenen Schrift war dieser für die freiere Natürlichkeit der Engländer eingetreten und hatte gegen die verderbliche Einwirkung der grossen Städte und des Luxus geeifert (schon im Tagebuch S. 121 bezieht sich Haller auf ihn, vgl. Einl. LXIIff.). Treffend ist die Gegenüberstellung von Brockes und Haller, wie die Dar- legung, dass Haller keineswegs bloss Naturschönheiten habe be- schreiben wollen, endlich dass das Gedicht bei seinem universellen Gehalte auch einen national schweizerischen Charakter erhalten hat. Tn dem Gedicht über Vernunft etc. wendet sich Haller gegen den Missbrauch religiöser Empfindung und gegen Priesterbetrug, ganz besonders gegen das Papstthum. Mit Recht erinnert Hirzel, dass Hallers Jugend in die Zeit der religiösen Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten fiel: durch die Schlacht bei Villmergen fand nur ein vorläufiger Abschluss statt. Protestantische Flücht- linge, die aus Frankreich und Piemont vertrieben waren, sah der Knabe in Bern Schutz suchen. So erscheint es begreiflich, ich lasse Hirzel reden, wie aus dem so tief religiösen Innern des Dichters die eigentlich furchtbaren Worte kommen konnten: Vor seines Gottes Ruhm gilt Meineid und Verrath, Was böses ist geschehn, das nicht der Glaube1) that? (S. LXXVII f.) Ueber diese Darstellung von Hallers Jugend bis zu seiner Rückkehr nach Bern habe ich ausführlicher berichtet mit Hinweis auf die von Hirzel herausgegebenen Tagebücher, weil ich hoffen konnte dadurch am besten von dem gediegenen Inhalte des Buches eine Vorstellung zu machen. Und doch folgen in Hirzeis Werke 1) Später seit der 3. Auflage (Bern 1743) „ein Priester". Hirzel hat auf den Einflusa hingewiesen, den Haller auf v. Cronegk ausgeübt hat; gleich auf die ersten Verse seines Trauerspiels „Olint und Sophro- ma" (S. CCCLVIII) (1768 starb Cronegk). Mir scheint es sicher, dass auch der bekannte Vers Cronegks, welchen Lessing in der Hamb. Dr. 2. St. bespricht: „Der Himmel kann verzeihn, allein ein Friester nicht" (Act I Sc. 3), in der Lectüre Hallers seinen Ursprung hat. In der „nachdrück- lichen Kürze" einiger Sentenzen, die Lessjng rühmt, hat sich Cronegk als gelehriger Schüler Hallers erwiesen. Digitized by Google 1 28 Jacoby, Anz. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. nun erst die wichtigsten Ausfuhrungen. Das wesentlichste deute ich kurz an, bevor ich eigenes hinzusetze. Haller, „dem Recht und Freiheit nicht bloss Phrase war" (LXXXVII), musste von den Zuständen seiner Vaterstadt aufs empfindlichste getroffen werden. Dem jungen Dichter, in welchem die satirische Ader leidenschaftlich pulste, wurde es schwer, satiram non scribere. Im Abschnitte „verdorbene Sitten" stellt Hirzel die politischen und sittlichen Zustände der entarteten Republik mit ihren „regimentsfahigen Familien" dar, in welcher man, wenn es möglich gewesen wäre, auch die Freiheit zu denken geraubt hätte. Er beschwört die Schatten des Majors Davel, des Samuel Henzi, vgl. CCXLff. , und führt zahlreiche Aeusserungen von Zeitgenossen an zur Beleuchtung seines Gemäldes, besonders von Muralt, Lupichius, Gruner und Brunner. Als Haller bereits in Göttingen war, schrieb ihm J. G. Altmann (1747): Auf dem Rathhauss intriguirt man, ann der Herrengass heuchelt und betriebt man und unter der gemeinen Bürgerschaft isst und trinkt man und das wird euch nichts Neues sein (S. CV; aus einem Msc. der Stadt- bibliothek in Bern). In der Satire „verdorbene Sitten", im April 1731 vollendet, hat Haller jedoch zwei edlen Männern ein Denkmal gesetzt: Michael Augsburger und Isaac Steiger. Der „Versuch Schweizerischer Gedichten4* erschien im Sommer 1732. Im Abschnitte „Aufnahme und Wirkung der Gedichte" wird gezeigt(CXV- CXXVII), wie viel Feindschaften sich Haller durch seine Gedichte zugezogen, so dass an eine Stellung in seinem Vaterlande nicht zu denken war. Aber einen treuen Freund gewann er: Bodmer. Mit seinen Freun- den in Sachsen besprach dieser die neue Dichtererscheinuug: Briefe von Job. Ch. Ciauder in Leipzig an Bodmer führt Hirzel aus dem Msc. der Stadtbibl. in Zürich an. Gottsched rühmte die Gedichte, ohne zuerst den Verfasser zu kennen, durch Bodmer erfuhr Ciauder und er den wahren Verfasser. Auch in einer lästigen Polemik mit dem Pietisten Dippel staud Bodmer seinem Freunde treulich zur Seite (CXXIII f. und S. 350 f. Briefe Bod.). In der 2. Auflage seiner Gedichte — Bern 1734 — (Einl. CXXVII-CXLIX) suchte Haller durch grössere Reinheit des Ausdrucks wie durch Ausraerzung matter und Veränderung leicht missverständlicher Stellen seinen Beurtheilern Genüge zu thun. Unter den „neuen Stücken" sind von Gedichten — auch einige prosaische, für die Charakteristik des Dichters wichtige Aufsätze waren beigegeben — besonders hervorzuheben: „über den Ursprung des Uebels", in welchem Gedichte Haller einige Gedanken Leibnizeus für seine poetischen Zwecke benutzt hat. Nicht mehr; Behr richtig sagt Haller selbst, ähnlich wie 21 Jahre später Lessiug in seiner Abhandlung „Pope ein Metaphysiker": Ein Dichter ist kein Weltweiser, er malt und rührt und erweiset nicht (Gedichte S. 118). Die Satire „der Mann nach der Welt" bildete eine Art von Fort- setzung der „verdorbenen Sitten". Doch hier hat Haller seinen Digitized by Google Jacoby, Ana. v. Halle™ Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirzel. 1 29 eigenen Worten gemäss (S. 102) nach dem Leben, aber auch nach verschiedenen Personen gezeichnet. In dem Zueignungsgedicht an J. Steiger spricht Haller zu einem grossen der Welt mit stolzer Würde, wie sie bei deutschen Dichtern ?or ihm nicht gebräuchlich war: hierin ein würdiger Vorgänger Klopstocks. — In dem Capitel „Erfolg der 2. Auflage. Göttingen" zeigt Hirzel, wie wenig die Vaterstadt die Grösse ihres Mitbürgers zu würdigen wusste; bei zwei Bewerbungen wurde Haller abgewiesen, so dass er eine Be- rufung an die Universität Göttingen mit Freuden annahm, Herbst 1736. — „Die ersten Jahre in Göttingen" (OLXI— CXCII) waren für ihn eine Zeit der Arbeit, der Anerkennung, aber auch schweren Kummers. Seine geliebte Mariane (geb. Wyss) starb vier Wochen nach der Ankunft. Von drei Gedienten zu ihrem Gedftchtniss ist die Trauerode, die Haller achtundzwanzigjährig schrieb, auch wei- teren Kreisen durch Schillers Lob des „schönen Liedes" bekannt. Durch dasselbe lernten die Zeitgenossen Haller von einer neuen Seite als Dichter des Herzens kennen. Wahrscheinlich hat Haller nach dem Tode seiner Gattin das früher begonnene grossartige Ge- dicht, das leider Fragment geblieben ist, „über die Ewigkeit", weiter fortgesetzt. Mit Anfang des Winters 1736 begann er jenes bis zu seinem Tode fortgesetzte Tagebuch (entstellt herausg. von Heinz- mann 1787), das einen so tiefen Einblick gewährt in die verderb- lichen Wirkungen, welche falsche Vorstellungen von Gott selbst auf die hervorragendsten Menschen machen. „Welche geistigen Qualen", sagt Hirzel (CLXVIII), „rausste seine ... im übrigen so klare und feste Natur erdulden durch eine starr und düster gewordene Reli- gion, welche demjenigen, der sich ihr in die Arme werfen wollte, nicht Trost und Linderung mehr gewähren konnte, sondern ihn nur drückte und ängstigte." Und bezeichnend genug, Haller hört auf, seine Empfindungen künstlerisch zu gestalten, als ihn die Neigung zum Pietismus zu beherrschen beginnt. Nachklänge früherer Stim- mungen nennt Hirzel die noch folgenden Dichtungen Hallers seit dem J. 1736, oder durch äussere Anlässe geforderte poetische Kund- gebungen. Zur feierlichen Einweihung der Universität dichtete Haller das Festgedicht (1737), in welchem er Göttingens Blüte prophezeit; mit grösserem Antheil des Gemüths die Ode an den verdienten Freiherrn von Münchhausen, der Hallers Grösse stets zu schätzen gewusst hat. Hallers dichterischer wie wissenschaft- licher Ruhm wuchs; seine Leistungsfähigkeit war eine wunderbare. In den Jahren 1739 — 44 bat er fünfundzwanzig wissenschaftliche Werke, daxunter einige von der höchsten Bedeutung, wie das über die Pflanzen der Schweiz und die Ausgabe der Institutionen des Boerhave (s. oben), veröffentlicht. Aber bei seiner reizbaren, arg- wöhnischen1), grüblerischen Natur fühlte er sich nicht glücklich. 1) Vgl. das Urtheil seines Freundes Michaelis CCXLI Ankg. Archiv r. Litt.-Gbsch. XIH. 9 Digitized by Google 130 Jacoby, Ana. v. Hallera Gedichten «. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. Kränklichkeit, Unglück in der Familie — seine zweite Gattin Eli- sabeth Bücher starb im Juli 1740, und Haller vermochte es, gegen Ende des folgenden Jahres sich wieder zu vermählen! — der Mangel an wahren Freunden, nur J. D. Michaelis und der auch als Dichter bekannte Arzt Werlhof blieben ihm stets treu, Eifer- süchteleien der Collegen !), nährten die Sehnsucht nach der schönen Heimat. Dazu kamen Angriffe von Gottsched und dessen An- hang (s. CXCII— CCXXV). Gottsched hatte noch im Mai 1739 an Bodmer über Haller mit aller Hochschätzung geschrieben. Die Ur- sache seines plötzlichen Hasses stellt Hirzel genau dar; ein Brief Bodmers an Hagedorn war bisher nicht beachtet worden. Haller hatte eine scharfe Kritik gegen den Artikel eines ihm unbekannten Verfassers veröffentlicht in dem zu Göttingen von Neubur heraus- gegebenen „Sammler". Getroffen aber war Adelgunde Gottsched. „Daher44, sehreibt Bodmer, „ist der Zorn der Frau, des Mannes und der gauzen Clique auf ihn gefallen."2) Mit dem erscheinen von . Breitingers „Critiscber Dichtkunst" (1740) und mehreren Abhand- lungen Bodmers, in welchen Hallers Gedichte als Zeugnisse für die von ihnen aufgestellten Ansichten und Lehren benutzt wurden, hörte das bisherige gute Einvernehmen zwischen den Zürichern und Leip- zigern auf. Gegen Haller trat Gottsched auf in der 3. Auflage seiner „Dichtkunst", in welcher er die Dunkelheit der Miltonischen Secte anklagte; vor allem seine Schildknappen. Ein schimpfliches Werkzeug seines Neides, um mit Lessing zu reden, wurde eine Zeit lang Christlob Mylius, derselbe, der später Haller so viel zu verdanken hatte (vgl. CCCVII ff.) und dessen Schriften nach seinem frühen Tode Lessing 1754 herausgegeben hat. Während Haller allen diesen Angriffen gegenüber ruhig blieb, erstand ihm in Im- manuel Pyra, Conrector am Kölnischen Gymnasium in Berlin, ein mannhafter Vertheidiger: „Erweis, dass die Gottschedische Secte den Geschmack verderbe". Nach Pyras Tode nahm Breitinger Hallers Mubc in Schutz. Er berief sich auf den „nunmehr verstorbenen" Drollinger, auf einen jungen Poeten, der zum Schrecken der Feinde Hallers bald Flügel bekommen dürfte: Samuel König war ge- meint; auf — Gottsched selbst in seinen „Critischen Bey trägen". Die 3. Auflage der Gedichte, in welcher viele der Schriftsprache widersprechende Formen verbessert waren, erschien indessen 1743. Seinem Freunde Werlbof hatte Haller viel zu verdanken (Briefe von ihm in Hallers Nachlass, vgl. CXCV). Der Einfluss auf die jüngeren Dichter G leim, Lessing, Kleist, Klopstock, später Uz, Wie- 1) Einer der schlimmsten Gegner Hallers war J. G. Brendels. CCCXX. 2) Und doch bekannte Frau Gottsched noch 1753 in einem Briefe, dass Haller ihr Lieblingsdichter sei (CCCLX). Digitized by Google Jacoby, Anz. v. Hallera Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. 131 land konnte Haller für unwürdige Angriffe entschädigen. Endlich schien auch die Erfüllung der Hoffnung, in das Vaterland zurück- zukehren, nahe zu sein. Dort war freilich der aufstrebende Theil der Bürgerschaft der anmassenden Oligarchie vergeblich entgegen- getreten; neben Henzi wurde auch der eben erwähnte König auf zehn Jahre aus Bern verbannt (CCXXXV— CCXLIV). Allein Haller wurde bei seiner Anwesenheit in Bern 1745 zum Mitgliede des grossen Rathes ernannt. Noch acht Jahre blieb er jedoch in Göt- tingen. Wie die schriftstellerische Thätigkeit fasste Haller seinen Lehrerberuf streng auf; Zeugnisse seiner Schüler s. CCLI f. Was die Universität, das Laud ihm zu verdanken hatten, zeigt Hirzel ausfuhrlicher. Seit dem April 1747 war Haller der Leiter der Göttinger gelehrten Zeitung. „Unbestechliche Wahrheitsliebe, liebevolle Anerkennung jeden Verdienstes, aber auch mitleidslose Schärfe gegen jene seichte Gelehrtheit, welche auf die Verachtung anderer sich Altäre bauen will*1, das schienen ihm die uu erlässli- chen Bedingungen eines wahren Kritikers. Gleich Leibniz dehnte er sein Interesse aus über alle Gebiete des menschlichen Wissens. Im Laufe von dreissig Jahren, wie Hirzel zeigt, hat Haller — auch von Bern und Roche sendete er Beiträge — wichtige Erscheinungen auf allen Gebieten, besonders auch aus der schönen Litteratur, und nicht blos6 Deutschlands, besprochen.^ Im J. 1754 äussert Zimmer- mann (a. a. 0. S. 430): „Die Auszüge und Beurteilungen aller Arten Bücher, die von der Hand des Hrn. v. Haller in der Bibl. raisonnee von 1742—1751, in den Gött. gelehrten Zeitungen von 1745 bis auf die gegenwärtige Zeit, und hin und wider in anderen Journalen vorkommen, sind nicht zu zählen". Dass Feinde einem solchen Manne nicht fehlten, ist zu erwarten. In dem Abschnitte „Viel Feind, viel Ehr" (CCXLVI — CCLXX) hat Hirzel die Angriffe gegen ihn dar- gelegt. Besonders empfindlich waren Haller die Streitigkeiten, welche durch das erscheinen der Schrift des bekannten französischen Arztes und Philosophen de la Mettrie „rhomme machine'1 (1747) her- vorgerufen wurden. Hatte la Mettrie doch sich sogar nicht gescheut, Hallers Gedicht „Doris" für seine Zwecke auszubeuten. Auch der Bruch mit dem Mediciner Huber, den Münchhausen Haller zu Liebe nach Göttingen berufen hatte, der seit 1742 aber nach Kassel über- gesiedelt war, und dadurch mit dessen Schwiegervater J. M. Gess- ner in Göttingen gieng Haller sehr nahe. Die Hannoversche Regie- rung aber, der König selbst hielten ihn in so hohen Ehren, dass Haller eine Berufung nach Berlin (1749) ausschlug, freilich nach langem schwanken. Mitbestimmend war die Hoffnung, in Bern eine ansehnliche Stellung zu erhalten. Es ist ein tadelnswerther Zug in seinem Charakter — ich erlaube mir, mich dreister als der Biograph auszudrücken — , dass Haller, um zu dem gewünschten Ziele zu ge- langen, bei der neuen Auflage seiner Gedichte die Wirkung der in Digitized by Google 1 32 Jacoby, Adz. v. Hallen Gedichten u. Tagebachern, hggb. v. L. Hirael. gerechter Jugendentrüstung gedichteten Verse durch abschwächende Bemerkungen verkümmerte. Die Stellen, welche einst in schönem Feuer gegen die tibenntithige Dummheit und den anmassenden Hochmuth gedichtet waren, sollten nun den Machthabern seines, wie er nun sagt, „glückseligen Vaterlandes" — vgl. auch S. CDXI1I — möglichst ungefährlich erscheinen. Gewiss mochte eine grössere Milde seiner Ansichten eingetreten sein; aber hat nicht Haller selbst die 1749 an die Oeffentlichkeit tretende Verschwörung Henzis1) und seiner Genossen in der 6. Auflage der Gedichte (1751) als „eine Frucht der versunkenen Sittenlehre und der verlornen alten Bürger- liebe" charakterisiert (Gedichte S. 108)? In diesen „Wandlungen" (CCLXXII il f.) erscheint der sonst edle Mann wenig sympathisch; auch wegen der allzugrossen Bescheidenheit in seinen Vorreden möchte ich seinem Freunde, dem Mathematiker Lambert (CCLXXIX), Recht geben, Dass viele Aenderungen des Textes in der 4. Auflage und den spateren aus Hallers Bestreben nach grösserer Sprachrein- heit, nach metrischer Correctheit, nach einer edleren Bildlichkeit hervorgegangen sind, hat Hirzel dargethan (CCLXXXin ff.). In den „letzten Jahren in Göttingen" (CCLXXXVIU ff.) wurde Haller noch von der Feindseligkeit Gottscheds empfindlich ge- troffen. In der Göttinger gelehrten Zeitung hatte er Gottscheds „Grundlegung der deutschen Sprachkunst" einer strengen, aber wür- digen Kritik unterzogen und „die gedrungenen Dichter" in Schutz genommen. Daraus entwickelten sich Kämpfe, welche Hirzel näher verfolgt. Die Arbeit Hallers an der Göttinger gelehrten Zeitung in jenen Jahren hat er aufs anziehendste dargestellt. Das tiefe Interesse Hallers an der schönen Litteratur, sein unbefangener Blick, seine gerechte Kritik, das sichere aesthetische ürtheil, seine Freude an der Entwickelung der deutschen Litteratur wie an der Hebung dos deutschen Bewusstseins treten uns aufs überzeugendste entgegen. An dem „Hermann" Schönaichs, der Haller so unwürdig und ungerecht angriff (vgl. CCCXXXVIf.), lobt er im Jahre 1752 trotz den Schwächen des Gedichtes den Muth, der einen Hermann dem von fremden verachteten und fast zertretenen Deutschland anza* wünschon sich nicht scheut (s. CCCXI). Dass Haller auch später für deutsche Art und deutsches Wesen gegen die welsche lebhaft eingetreten ist in einer Zeit allgemeiner Verachtung der Deutscheu, das zeigt besonders die treffliche Vorrede vom J. 1757 zu Hösels Geschichte der Frösche : diese ganze Darlegung wird kein Deutscher ohne tiefe Bewegung lesen können (bei Hirzel CCCLXXVIII — CCCLXXXI1). 1) Durch Hinela Darstellung in Verbindung mit J. J. Bäblers Schrift über Henzi gewinnt man ein anschauliches Bild von Henzi auch als Schriftsteller. Digitized by Google Jaooby, Ana. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, bggb. v. L. Hirtel. 133 Wie würdig fasste Haller das kritische Richteramt auf! Die „billige" Kritik, sagt er 1748, „schreckt den elenden Soribenten von der Federu — ein Mahnruf, wie mir scheint, für den jungen Les sing1), der allgemeinen Duldung des schwachen und elenden entgegenzu- treten! — ; „sie zwinget den mittelmassigen, sich anzugreifen; sie warnet den grossen, sich selbst nichts zu schenken, und nichts un- vollkommenes, nichts übereiltes zu liefern. Sie breitet in ganzen Landein den Geschmack aus." Wenn Haller auch noch mit seiner Zeit in dem Banne der einseitigen Anschauung stand, dass an dich- terische Leistungen der moralische Massstab angelegt werden müsse — das „docere cum delectatione" in Scaligers Poetik blieb im wesent- lichen noch in Geltung — ,. der richtige Zug einer genialen Natur ^waug Haller dazu, den freieren Aufflug eines Klopstock, Lessing, Wieland, Herder mit seinem Beifall zu begrüsseu. Seiner reli- giösen Ueberzeugung gemäss wurde er nicht müde, Voltaires Schriften auf allen Gebieten zu folgen und bei aller Anerkennung „der Stärke seines Geistes" ihn zu bestreiten. Mit Rousseau be- schäftigte er sich seit dem J. 1753, als er dessen preisgekrönte Ab- handlung über den Einfluss der Künste und Wissenschaften recensierte (vgl. CCCLXXIVf.). Die englischen Dichter wie Young, Richard- son, Fielding waren ihm sympathisch. — Dass Haller übrigens für die Göttinger gelehrte Zeitung nicht 12000 — wie „einer alten Tradition zufolge11 auch Hirzel nach einer Angabe Heinzmanns er- wähnt (CCXLVII1) — , sondern 1200 Recensionen verfasst hat, zeigt überzeugend Heinrich Rohlfs Deutsch. Archiv für Gesch. der Med. III. Bd. 2. Heft (1880) S. 270 f. Aus einer Biographie Hallers von Blumenbach 1785 ist der Druckfehler in andre Bücher übergegangen. Blumenbach aber in seiner 1786 veröffentlichten Literaturgeschichte sagt, . . „duoenas supra mille recensiones profectas ab Hallero" . . — Im Jahre 1753 wurde Haller als „Rathhausammana in die Heimat be- rufen. Die seiner unwürdige Stellung konnte er durch Hinweisung auf ehrende Berufungen des Auslandes — er schwankte zeitweise, ob er sie annehmen solle — bald verbessern. Friedrich der Grosse suchte ihn (1755) durch Leonhard Euler für Halle zu gewinnen, v. Münchhausen ihn wieder nach Göttingen zu ziehen. Der Weltruf Hallers als Mann der Wissenschaft nicht nur, auch als Dichter kam hinzu. S. den Abschnitt „Stimmen der Zeit": Urtheile von Leasing, Friedr. Nicolai, Mendelssohn, Kant; Verhält- niss zu Uz und besonders Wieland. Auch in der untergeordneten 1) Man vergl. übrigens die bekannte Stelle in Leasings „Briefen antiq. Inhalts" II. Theil 1769 (Lachm.- Maitz. VIII 194): „gelinde und schmei- chelnd gegen den Anfanger; mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel be- wundernd gegen den Meister; abschreckend und positiv gegen den 8tümper" u. s. w. Digitized by Google 134 Jacoby, Anz. v. Halle« Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. HirzeL Stellung aber hatte Haller für Bern segensreich gewirkt: sie hatte ihm überdies Zeit zu grossen wissenschaftlichen Arbeiten gelassen (vgl. CCCLXIX f.). Schon 1758 wurde Haller Director der Salzwerke von Bex in der Waadt. So konnte er auf dem Schlosse zu Roche bis zum 1. Oct. 1764 in Zurückgezogenheit, aber mit dem würdigsten be- schäftigt, ruhig leben. Denn nicht bloss für die Wissenschaft war er thätig: Fünf weitere Bände seiner Physiologie, botanische und meteorologische Studien. Wie später Goethe seinen Faust wirken lässt, so half Haller dem Landvolk durch die ärztliche Kunst, so Hess er sumpfige Gegenden urbar machen und in gute Aecker und Wiesen wandeln. Dabei aber blieb der „Verkehr mit den Zeitge- nossen" (vgl. CCCLXXXVIf.) nicht unterbrochen. Mit dem jungen Lausanuer Arzte Tissot, mit Charles Bonnet in Genf besonders wechselte er Briefe. Gegen Rousseau reizte ihn Bonnet; 8. dessen Brief vom 18. Juni 1762, an welchem Tage der pacte social und Emile von Henkershand verbrannt wurden, „cette sentence si jtiste a ete aussitöt executee. Und Haller: je ne lui accorderais jamais de liberte qu'il ne donnat caution de ne plus ecrire que sous la censure d'nn corps sense de theologiens (CCCXC)! Mit Voltaire, der den Berliner Hof verlassen hatte, hat Haller auch nicht eben freund- liche persönliche Berührungen gehabt im J. 1759. Durch eine Schmähschrift war Voltaire höchst erregt und forderte Hallers Bei- hilfe zur Unterdrückung des Libells, ihn an seinen Handel mit La Mettrie erinnernd. Haller erwiderte, er habe nie ein Verbot von König Friedrich und den Behörden zu erwirken gesucht; und er gab Voltaire fein zu verstehen, dass ein Philosoph mit mehr Ruhe einem Aristophanes l) oder Anytus gegenüber sich benehmen sollte (CCCXCVII f.). Das rege Interesse für Voltaires Schriften blieb jedoch Haller, wiewol er ihn oft bestritt. Hervorzuheben ist, dass er in einer Recension des J. 1764 (G. G. A.) bemerkt, die „wunder- schöne" Athalia Racines habe vielleicht nur deshalb Voltaires böse Laune fühlen müssen, weil sie aus dem Alten Testamente sei. Shakespeare nimmt er gegen ihn in derselben Recension in Schute und weist in demselben Jahre ein andermal auf Wielands Ueber- setzung des von ihm „oft gelesenen" Shakespeare hin.2) 1) Die DichtcrgrÖssc des Aristophanes hat Haller so wenig ge- würdigt, wie die Dichter lateinischer Dramen des IG. Jahrh. sie ge- würdigt. Wie diese zog auch er dem Aristophanes den glatten Terenz vor. S. aus dem „sermo Academicus" (Beilagen III, 386) „obscoeni Aristophanis" . . „Est ... in Terentio infucata quaedam simplicitas suaiu servans elegantiam ..." 2) Das Urtheil über Moliero vom J. 1769 (G. G. Z.), vgl. S. CCCXCIX, zeigt, dass Haller diesem Dichter nicht gerecht geworden ist. S. auch Digitized by Google Jacoby, Adz. v. Hallen Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. 135 Nach Ablauf des Aufenthaltes in Roche dachte Haller wieder ernstlich an die Rückkehr nach Göttingen. Seiner Familie zu Liebe ('Brief an den Sohn CDVII), und weil seine eigenen Stimmungen wechselten, blieb er in Bern. Man übertrug ihm die wichtigsten und einflus8reichf«ten Aemter, aber — was er sehnlich wünschte — der obersten Behörde, dem „kleinen Rathe", hat Haller nie angehört Und doch liess der alternde Dichter in wiederholten Aeusserungen es nicht an „unterthänigster Ergebenheit'1 gegen den Rath von Bern, wie Hirzel sich ausdrückt, fehlen. Die Bestrebungen der Schweizer Vaterlandsfreunde, die sich in der Helvetischen Gesellschaft zu Schinznach versammelten, schienen ihm für den bestehenden Staat und die bestehende Religion gefährlich: dem stets aristokratisch gesinnten Haller waren die Anhänger des verhassten, demokratischen Rousseau verdächtig. Indessen blieb sein Dichterruhm unverniiudert (vgl. CDXX f.). Die 10. Auflage der Gedichte erschien 1768 in Druck; die Widinuug an die Königin Ulrike Luise vo'n Schweden, die Schwester Fried- richs d. Gr., welche bereits die 9. Aufl. (1762) enthielt, war wiederholt. Während Friedrich den Gelehrten hochschätzte, um den Dichter aber sich nicht kümmerte1), hatte die geliebte Schwester sich an Hallers Gedichten stets erhoben und erfreut. Die ein Jahr nach Gellerts Tode (f 1769) erschienenen „moralischen Vorlesungen" zeigten, wie sehr Jlaller von Geliert zu allen Zeiten geliebt und geschätzt wurde. Klopstock hatte schon 1759 neben Luther und Opitz auch Haller als Sprachschöpfer gepriesen; durch diese drei Männer seien die Deutschen an den Unterschied der prosaischen uud poetischen Sprache erinnert worden. Herder wies in den „Fragmenten zur d. Litt" (1767) wie in den „Krit Wäldern" (1769) wiederholt auf Stellen in Hallers Gedichten hin. Und der junge Goethe erhielt in den sechziger Jahren in der Vaterstadt durch sie damals die ersten Anregungen. Der scharfsinnige Lichtenberg, der seit 1763 in Göttingen studierte, hat später hervorgehoben, wie das Gedicht „Die verdorbeneu Sitten" (S. 87). Urtheile aus dem „Tage- buche" führt A. Frey (a. a. 0. 43) an, die uoch wegwerfender sind. Aber den philisterhaft befangenen Kritiker überall in Haller zu sehen, ist nach Hirzela Buch nicht mehr möglich. 1) Nachdem Friedrich in seiner Schrift de la litterature allemande (1780) Leiboiz gerühmt, führt er lort: Je pourrais grossir cette liste des noms de Thomasins, de Bilfinger, de Haller et de bien d'autres: niais le teinps präsent m'impose silence . . u. s. w. (oeuvres de Fr. Berlin 1847, VII, 118). Vom Dichter Haller sagt Friedrich freilich nichts. Vgl. die Schrift des Ref., die auf Vollständigkeit keinen An- spruch macht: Friedrich der Gr. u. die deutsche Litt Vortrag. (Basel, Schweighanser 1875.) S. 12 u. 29. Digitized by Google 136 Jacoby, Anz. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. sehr Haller auf Leute von Geist und Nachdenken eingewirkt habe, während Klopstocks Bewunderer meist „unausstehliche Pinsel4' waren. Auch in den späteren Jahren hat Haller trotz seinen gelehrten Arbeiten die litterarischen Erscheinungen der Zeit eifrig verfolgt. Aus den Beiträgen zu der Göttinger gelehrten Zeitung erweist eich der lebhafte Antheil an Ossians Gedichten; besonders verdient aber Hallers kurze Recension des Lessingischen „Laokoon44 Be- achtung. Haller vertheidigt seine eigenen Ver6e aus den ,, Alpen": der Dichter könne Eigenschaften, die inwendig liegen, besser als der Maler ausdrücken. Selbst sichtbare Schönheiten könne der Dichter malen, die einem Maler unbekannt bleiben . . „Von dieser Art ist die Perle, die von einer Feye an das Ohr einer jeden Schlüsselblume beim Shakespear angehängt wird14 (s.1 CDXXXIV). In dem Briefe an Gemmingen März 1772 — „Beilage" V S. 403 — richtet sich Haller ähnlich gegen das XVII. Capitel des „Laokoon". Als Dichter trat Haller noch in seinen „Romanen" auf: ,,Usong" 1771M,Alfred"1773,„FabiusundCktou1774(CDXXXIX-CDLXIV). Gegen Rousseaus Ideen besonders wollte erzeigen, welche Folgen die übertriebene Lehre von der Gleichheit der Menschen haben könne. Aus dem „Usong" ertönt die Mahnung an die Fürsten, statt despotischer Willkür zu fröhnen, ihren grossen Pflichten und Aufgaben gerecht zu werden. Dass er in der Gestalt des Oel-Fu Züge aus seinem eigenen Leben eingewoben, hat Hinsel gezeigt: Haller selbst — Brief an Gemmingen — , dass er auch theil weise au den Philosophen Ch. Wolf gedacht habe. Nicht bloss gewisse Zustände in den europäischen Monarchien schwebten ihm vor; auch die einheimischen Schäden seines Vaterlandes hat er im Auge ge- habt. Das bezeugen jene von Goethe als Motto zu seinem „Gott- fried von Berlichingen" gewählten Worte: „Das Uebel (Goethe: Un- glück) ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Koth getreten und keiner edlen Begierde mehr fähig". Im „Alfred" beleuchtet er die constitutionelle Monarchie, wie sie in der englischen Staatsver- fassung sich ihm vorstellte, im „Fabius und Cato" die aristokratische Republik, die er verherrlicht. „Wenn ich irre, so ist es kein Eigen- uutz, keine Nebenabsicht, die mich verleitet.44 Die jüngere Gene- ration, deren Stimmung eine Recension der Frankfurter GeL Anz. wiederspiegelte — sie steht auf S. CDXLIX — , nahm die Romane kühl auf.1) Wenn auch Ch. Dan. Schubart, der sonst Haller hoch- hielt, den „Alfred" langweilig nannte, so ist doch, wie mir scheint, bemerkeuswerth, dass die Vorrede Hallers zu dem letzten Roman, in welcher es u. a. heisst2): „Vielleicht ruft die wiederholte Stimme 1) Jetzt abgedruckt in Deutach. Litt. Denkm. Nr. 7 und 8 S. 86 f. Vgl. EinleituDg S. LXXIX von Scherer, der wie Hirzel die Gründe für Goethes Autorschaft nicht für triftig hält. 2) Haller äusserte in ihr, dass Föneions und Montesquiena Er- Digitized by Google Jacoby, Ans. r. Hai lere Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirzcl. 137 der Wahrheit die Fürsten von der Jagd, von den Tänzen und der Musterung zurück in den Verhöreaal und zur Arbeit eines Fürsten44 — dass sie die Farben zu Gemälden wie in Schubarts „Fürsten- gruft41 gegeben hat: z. B. die das Gewissen . . . „durch Trommel- schlag, durch welsche Trillerschlager und Jagdlärm übertäubt1', — Die Angriffe von Mauvillou und Unzer gegen Hallers Dichter- grösse (1771 u. 72) waren die Vorboten ungerechter Geringschätzung durch die Dichter des „Sturmes und Dranges41. Ihnen musste Haller aach durch seine religiösen Ansichten als ein zurückgebliebener er- scheinen: „Briefe Uber die wichtigen Wahrheiten der Offenbarung14 1772 und „Briefe über einige Einwürfe noch lebender Freigeister gegen die Offenbarung44 1775 — 77 3 Bde. Einem Goethe inussten die jetzt von Haller verfochtenen Sätze von der ursprünglichen Ver- derbnisB der Menschennatur unsympathisch genug sein. Wie konnte er anders als gegen Haller die „stolzen Weisen44 in Schutz nehmen, welche glauben — weh die Anzeige der Schrift Hallers in den Frankfurter Gel. A. 4) — , diese Welt sei in den Augen Gottes noch etwas mehr als das Wartezimmer des künftigen Zustandes? Und doch ist der Ton Goethes gegen Haller versöhnlicher als die Crtheile von Theologen ans jener Zeit. Die Zeit des Greisenalters kam, in welcher Haller sich ein- samer fühlte denn je: seine Freunde Werlhof und Münchhausen starben; eine neue Welt — so schreibt er 1774 an Gemmingen — steigt empor, die ich nicht kenne (CDLXIX). Was sollte er für Gemeinschaft haben mit dem Kreise der geistreichen Julie Bondeli in Bern, iu welcher Wieland und Rousseau hoch gerühmt wurden? Auch mit vielen Erscheinungen der Litteratnr in Deutschland war er unzufrieden. Sulzors Angriffe gegen die Anakreontiker waren ihm aus der Seele gesprochen. Einer der besten Anakreontischeu Dichter, J. G. Jacobi, hatte, wie Hinsel zum ersten Male hervorhebt, gegen Haller mehrere kleine Schriften veröffentlicht, in denen er für Voltaire eintrat und gegen Hallers Emst sich wendete. Haller schwieg nicht (vgl. CDLXXIII ff.). In dem Briefe an Gemmingen, in der neuen Ausgabe der kleinen Schriften 1772 (Beilage S. 397 f.), gab er eine Vergleichung zwischen Hagedorn und seinen eigenen Gedichten; seine wahre Absicht aber, wie er selbst in einem von tnahnungen auf die Gemüther der machtigen nicht ohne jede Einwirkung geblieben seien: auf deutsch aber seien sie noch nicht oft genug, nicht lebhaft genug gegeben worden (s. CDXLI). — Scbubart und nach ihm Schiller gaben sie mit aller Leidenschaft ihrer Feuerseelen. 1) Vgl. Deutsch. Litt. Denkm. a. a. 0. S. 174 f. v. Biedermann spricht die Recension Goethe ab; Minor findet Herderschen Einfluss in ihr an mehreren Stellen (Studien zur Goethe-Philologie S. 110); Scherer denkt an Schlosser (a. a. 0. S. LXXX). Digitized by Google 138 Jacoby, Anz. v. Hallen Qediohten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirzel. Hirzel zuerst veröffentlichten Briefe an Geinmingen bekennt, war, den Anakreontikern die Wahrhoit zu sagen. Seine Opposition gegen die „fröhliche Secte" soll nicht „das Murren eines Sauertopfes44 sein; er will jedoch nicht, dass sie alle „ernsthafte Dichtcrey verdringe" und ,.mit der Duldung nicht zufrieden, zur Verfolgerin" werde. — Wie Wieland, wurde ihm bald auch Lavater zuwider, über den er früher nicht ungünstig geurtheilt. In seinem Todesjahre (1777) spricht er in einem Briefe an Gemmingen seine Unzufriedenheit mit dem 3. Theile der physiognoraischen Fragmente aus. Charakteristisch die folgende Aeusserung: „Selbst Spinoza ist bei ihm ein frommer, religiöser Mann. Wieland, Goethe, Friedrich etc. werden ange- bet bot". Goethes Werther aber hatte er zwei Jahre vorher ein „Werk voll Feuer und Leben" genannt und nicht wie so viele andere eine Absicht Goethes gewittert, den Selbstmord zu entschuldigen. Auch über Clavigo äusserte er sich günstig; einige Auftritte fand er zu lang; „Carlos, der Verführer des Clavigo, ist wohl geschildert44 In der „Claudine" rühmt er „viele Scenen voll Munterkeit und Leben"; der Held ein „wohlgezeichneter, besonderer Charakter". Durchaus nicht sauertöpfisch, um seinen Ausdruck zu gebrauchen, urtheilt er über Werke der „Stürmer und Dränger": ich verweise z. B. auf die Worte über „Julius von Taren t" von Leisewitz, über Wagners „Kindermörderin" (CDLXXXVI). In seiner Aeusserung in einem Briefe an Gemraingen vom 8. März 1777: „die unbelohnten, verachteten Deutschen thuu in Werken des Witzes Wunder, wenig- stens in höheren lyrischen Gedichten41, spiegelt sich die herzliche Freude über den Aufschwung unserer Litteratur. Viele Trauerspiele wollen ihm nicht gefallen, aber in „diesem Genre" ist es „freilich besser, man rühre und erhitze, als dass mau einschläfere". — Die Briefe an Gemmingen wird Hirzel uns hoffentlich bald ganz vorlegeu können: sie werden den Antheil des greisen Dichters an allen grossen Fragen der Zeit gewiss überraschend darlegen. Von der Stimmung, in welcher Haller die eilfte Ausgabe seiner Gedichte (Bern 1777) besorgte, zeugen mehrere auf S. CDXC angeführte Aeusserungen au Gemmingen. Nicht nur formelle Aenderungen nahm Haller vor; Alter und körperliche Leiden vermehrten seine religiöse Verdtisterung: ein Buch wider die Schrecken des Todes erbittet er sich von dem Theologen Less in dem letzteu Briefe an Heyne nach Göttingen vom 7. December. Am 17. Juli hatte ihn Joseph II. durch seinen Be- such geehrt; am 12. December schon schloss er die Adleraugen für immer, welche, wie Zimmermann im „Deutscheu Museum'4 sich aus- drückte, den unermesslichen Raum des Wissens durchforscht hatten. In dem letzten Abschnitte der „Einleitung44, „Stimmen der Nachwelt", zeigt Hirzel, wie wenig das Vaterland die Grösse seines Sohnes auch nach dem Tode zu würdigen wusste. Durch die „Unordnung und Sorglosigkeit auf der Berner Stadtbibliothek44, wo die Handschriften Digitized by Google Jacoby, Anz. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, bggb. v. L. Hirzel. 139 der Briefe an Haller aufbewahrt wurden, giengen viele Originale verloren. In Deutschland blieb dagegen die Verehrung für Haller. Möser sagte 1781 das bedeutsame Wort: Haller war unser erster Dichter, wir hatten vor Haller nur Versemacher. Bedeutendere Männer in Schwaben — auch der Herzog Karl von Württemberg — wie im übrigen Deutschland, besonders Herder (s. sein Gespräch „Gott" 1787), Engel, Manso, Hottinger, selbst der Gottsched-Verehrer Adelung, erneuerten sein Andenken. Von den Dichtern zeigte Friedrich Matthisson grosse Vorliebe für Haller (DXVI ff.); die Freundschaft mit Hallers vertrautem Freunde Bonnet verstärkte sie. Die reifere Epoche der neunziger Jahre wurde Haller nicht minder gerecht. Herder sprach in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1793), in welchen er die Ode auf die Ewigkeit so hoch stellt, auch voii den grossen Verdiensten, die Haller sich durch seine Prosa erworben, „dass ihm auch die deutsche Kritik vielleicht den ersten Kranz reichet". Und Schiller hat in seiner Abhandlung über naive und sontimentalische Dichtung bekanntlich über Haller feinsinnige und tiefe Bemerkungen gemacht. „Er lehrt mehr, als er darstellt"; gross, kühn, feurig, erhaben, habe sich Haller selten oder niemals zur Schönheit erhoben. In der Vereinigung des naiven und sentimentalischen hatte Schiller das Ideal des grossen Dichters erkannt. Die „pathetische Satire" Hallers, bemerkt Schiller, fliesst aus einem glühenden Triebe für das ideale. Seit der Jugend hatte Schiller die Gedichte Hallers geliebt. Das 1795 verfasste Gedicht „Columbus" ist ein schönes Zeugniss, wie der Geist Hallcrs1) Schiller dichterisch eutzünden konnte. Mit Recht sagt Hirzel: „auch nur dies eine Beispiel dürfte hinreichen, die tiefe Verwandtschaft vou Schillers Geiste mit demjenigen Hallers zu erweiseu und es zu begründen, wenn man . . . (Lemcke Gesch. d. d. D. I, 453) Schiller den Fortsetzer und Vollender von Hallers grossem Stile genannt hat." Die zahlreichen Rerainiscenzen au Haller in Dichtungen Schil- lers aus der Jugend und aus späterer Zeit hat Hirzel wiederholt hervorgehoben, für das einzelne auf Boxberger verweisend: „Schiller und Haller, Erfurt 1869". A. Frey (a. a. 0. 205 f.) hat einige Nachträge geliefert. Ich hebe hervor, dass die berühmten, im 18. Jahrh. oft nachgeahmten Verse Hallers: „Unselig Mittelding von Engeln und von Vieh" von Schiller nicht bloss in seiner Jugend- abhandlung (über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen) angeführt werden.2) Ihre Wirkung 1) S. das Gedicht „Vernunft, Aberglauben" u. s. w. S. 46: Eiu for- schender Columb .... Das Meer ist seine Bahn, sein Führer ist ein Stein, Er sacht noch eine Welt, und was er will, mnss sein. 2) Der erste, der das bemerkt hat, war Danzel, Lessing 1860. 1, 127. Digitized by Google 140 Jaeoby, Anz. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. anf Schiller bezeugt eine andere Stelle überzeugend. In der 2. Sc. des I. Actes der „Räuber" hiess es ursprünglich1): (Moor) „nenn es SchwUche, dass ich meinen Vater ehre — es ist die Schwäche eines Menschen, und wer sie nicht hat, muss entweder ein Gott oder ein Vieh seyn, lass mich immer mitten inne bleiben." — Ursprünglich sprach Franz. in seiuem Monolog gegen Schluss der 1. Scene noch die Worte: „Seichte Träumer mögen sich un der Schaale mästen, mögen in .den Vorhöfen der Wahrheit niedersitzen , höhere Geister dringen auf den Kein und die Quello". Es ist Franz, der über die bescheidenen Worte des grossen Haller höhnt: Ins innre der Natur dringt kein erschaffner Geist, Zu glücklich, wann sie noch die äussre Schale weist! Wie sehr Hallers Gedicht „über die Ewigkeit" Schiller ergriffen und stellenweise beeinflusst hat, ist gezeigt worden (s. bei Hirzel DX1). Man vergleiche aber auch Hallers Verse: „Er sah dem Spiel der Welt noch beut geschäftig zu ; Die Stunde schlägt, der Vorhang Rillt, Und alles wird zu nichts . ." u. s. w. (S. 151) mit dem ganzen Schlüsse des Gedichtes „Melancholie an Laura" von Schiller: „Wie der Vorhang an der Trauerbühne Niederrauschet bei der schönsten Scene, Fliehn die Schatten — und noch schweigend horcht das Haus". Dieselbe Ode Hallers hat noch auf ein Bild in einem Ge- dichte Schillers vom J. 1795 Einüuss gehabt, was bisher meines Wissens noch nicht bemerkt worden ist.2) Ich raeine „die Ideale": in demselben Jahre war das oben erwähnte Gedicht „Columbus" ent- standen. Mau denke an Hallers Darstelluug der Ewigkeit: Ich häufe uugeheure Zahlen u. s. w. (S. 152) mit dem Schluss: „Ich tilge sie, und du liegst gauz vor mir". Die Stelle schwebte Schiller offenbar vor, wenn er die „Beschäftigung" rühmt, „die zu dem Bau der Ewigkeiten Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, Doch von der grossen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht". — Bei dem Nachweis der Einwirkung Hallers auf den jungen Schiller hätte auch der politisch-pathetische Zug in Hallers Gedichten mehr betont werden sollen, für welchen Schiller vou so reizbarer Em- pfänglichkeit war. Sehr treffend sagte Hottinger in einer Würdi- 1) s. A. Cohn „Ein Bogen der I. Ausgabe (der Räuber) in unter- drückter Fassung" im Arch. f. Litt." 1880, IX, 277 ff. 2) Boxberger citiert die bezeichnende Stelle aus einem Briefe Schillers an Lotte vom Jahr 1789: „Es geht mir damit wie mit Hallers Ewigkeit — ich ziehe einen Tag, eiue Woche nach der andern von dieser traurigen Zeitsumme ab und sie bleibt immer ganz vor mir liegen" (bei Frey a. a. 0. 202). Aber er zieht keinen Schiusa daraus für das Gedicht „die Ideale4'. Auch Frey erwähnt nur richtig, dass Schillers Verse . . „hinab ins Meer der Ewigkeit" an Hallers „furchtbares Meer der ernsten Ewigkeit" erinnern (a. a. 0. 209). Digitized by Google Jacob? , Anz. v. Hailera Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirzel. 141 guDg Hallen; (bei H. DXIV) : „Die Gallerie von schlechten Regen- ten, welche er in den 1 Verdorbenen Sitten' aufstellt, ist . . unstreitig ein Meisterstück von satirischer Darstellung. Jeder Hieb ist tödt- lich; jeder Schlag zermalmend.'* .Und wie werden Schiller jene Stellen in den „Alpen" hingerissen haben, wo Haller das Glück eines freien Volkes preist, „wie Teil mit kühnem Muth das harte Joch zertreten, Das Joch, das heute noch Europens Hälfte trägt" (S. 33)1 In seinem „Don Kariös" hatte Schiller ursprünglich die Absicht, wie er 1783 an Reinwald schreibt, in der Darstellung der Inquisition die „prostituierte Menschheit" zu rächen. „Ich will einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie bisher nur gestreift hat, den Dolch auf die Seele stossen." Die gewaltigen Verse in HallerB „Vernunft, Aberglauben und Unglauben" — s. besonders S. 49 u. 53 — sind wie ein Motto zu diesem ursprünglichen Plane des Werkes. Sollte Hallers Einfluss auf Goethe nicht erkennbar sein? Hirzel bat schon 1877 geäussert, selbst noch bei Goethe fände man Anklänge an Haller. Mit einer trefflichen Würdigung der dichterischen Persönlich- keit Hallers und seiner Stellung in der deutschen Litteratur schlicsst die „Einleitung". Es folgen die Gedichte; der „Nachlese" fügt ' Hirzel die „Bibliographie" bei (241—293). Die Ausgaben werden verzeichnet sammt den Vorreden, auch den in französischer Sprache in der französischen Uebersetzung der Gedichte, die von V. B. v. Tscbarner herrührt, dann die . Nachdrucke, die Einzeldrucke, die Handschriften (S. 280 „Morgengedanken 21 Mart. 1725" — Hand- schrift in der Brera zu Mailand — S. XXIV gibt Hirzel aus inneren Gründen als Datum den 25. März an). Wichtig besonders die erste Auflage von 1732, die nur 10 Gedichte enthielt, die zweite von 1734, 9 Gedichte nebst Zueignung an Steiger und 3 „neue Stücke"; in „ungebundener Rede" noch 3. Dazu neu „Ursprung des Uebels". Abgesehen von der Verbesserung der „Sprach-Pehler" Veränderun- gen zur Abwehr des Argwohns , „als pflichtete ich denen . . Säzen der Freygeister bey". Die HI. Auflage von 1743, 20 Gedichte: XII. „Der Ursprung des Uebels", XX. „Unvollkommene Ode über die Ewigkeit"; die IV. von 1748 Göttingen; die VI. von 1751, 28 Ge- dichte; die IX. „vermehrte und veränderte" 1762; die X. 1768 und die XI. 1777, die letzte von Haller selbst besorgte, welche Hirzel seinem Texte zu Grunde gelegt hat. Die Lesarten der früheren Auflagen und die „Nachweisungen" S. 293—346. Wie viel kann man aus Hallers Aenderungen im Laufe der Jahre — soweit sie nicht ans schwächlicher Rücksicht auf die „hohen Herren" vorgenommen sind — für die Kenntniss des veränderten Geschmacks in Deutsch- land im 18. Jahrh., wie viel für das Verständniss poetischer Technik überhaupt lernen ! Digitized by Google 142 Jacoby, Anz. v. Hallers Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. Zu den Anmerkungen, welche Haller selbst zu seinen Gedichten unter dem Text gegeben, hat Hirzel sachliche und sprachliche hinzu- gefügt: an vielen Stellen brauchte er auf seine Einleitung nur zu verweisen. Haller hat mit der Sprache gerungen; der Ueberfluss der Wörter, sagt er selbst, fehlte mir völlig, und im Briefe an Gemmingen erklärt er (S. 402), gegen Ch. Günthers Leichtigkeit fühle er eine gewisse Armuth im Ausdruck. Die sehr „unreine Mundart", die in seinem Vaterlande selbst die Gelehrten sprechen, klagt er an: oft aber erhält sein Ausdruck gerade durch die Mund- art eine frische Unmittelbarkeit. Viele Formen erinnern ganz an das ältere Deutsch: so S. 7 derTacht vgl. 73 (des Lebens kurzer Tacht), mhd täht, Luther das Tocht, Günther Docht und Dacht (Weigand DW. I, 376); S. 25 die Hüft = Hüfte, mhd die huf; S. 30 ein Gems, mhd gamz, aber fem.; S. 37 eine Bach wie noch Luther und Opitz; S. 6G die March, das alte Wort für Grenze vgl. 90 und 106 „die Marchzahl-Tafer, auch 152; S. 69 den gestrupften Arm (Hirzel = verschrumpft) : der Strupff = geschlungener Kuoten bei Schotte- lius, und unter „strupfen" bei Weigand II, 841; S. 89 das fahn, ohne Grund, mhd der vane wie S. 141 das Punct, mhd der punete; S. 92 den aufgehabnen Geist, das alte richtige Particip von auf- ' heben; S. 111 es (das Schicksal) zückt uns seine Gaben « reisst hinweg, so mhd zücken, früher lautete die Stelle bei Haller anders, s. Lesarten S. 324. Ein norddeutscher Leser besonders wird oft Mühe haben, Haller ganz zu verstehen; die Erklärungen Hirzeis werden ihm willkommen sein; S. 106 „bricht ihm und andern ab" (bei H. nicht erklärt) =» „spart sich ab" versteht nur ein Schweizer gleich. Dass der Anhang Gottscheds nicht selten mit Unrecht an Hallers Sprache krittelte, hat Hirzel hervorgehoben CCCXXXVI ff. Im übrigen gebraucht Haller auch niederdeutsche Ausdrücke, z. 13. S. 46 in der Anmerkung der Schlick = Schlamm. Eine genauere Untersuchung der Eigentümlichkeit von Hallers Sprache, als sie bisher angestellt ist (Material bei Frey a. a.O. 62 — 91), hält Hirzel mit Recht für nothwendig, s. Vorwort S. 3. Sehr sorgfältig sind die Erklärungen Hirzeis zu den satirischen Gedichten, diesen Ergüssen tiefgehendster Eindrücke Hallers in seiner Jugend; viele Anspielungen erhalten erst durch sie volle Klarheit. Im Beginn der „verdorbenen Sitten", wo Haller von der Vergeblichkeit der satirischen Dichtung spricht, — „Stellt Falsch - mund, wann ers liest, sein heimlich lästern ein?" — verlangen die folgenden Worte eine Erläuterung: „Und stünde Thessais Bild..." (S. 88). Ein Hieb gegen einen gehässigen Neider! Offenbar ist mit Thessalos der in Neros Zeit lebende, nicht unbegabte, aber anmas- sende und dünkelhafte Gegner des Hippokrates gemeint, der sich den laxQovUrjg nannte. Kurt Sprengel, welcher die Zeugnisse der alten anführt, spricht von seinem pöbelhaften Stolz und seiner Ver- Digitized by Google Jaeoby, Anz. v. H allere Gedichten u. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirzel. 143 achtung aller von den alten gemachten Entdeckungen (Pragm. Gesch. der Arzneikunde Halle 1823. II3 42 f. vgl. Haeser Gesch. der Med. I3 270). Zu einer Stelle in den „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben" fehlt auch in der Einleitung, wo Hirzel so sorg- fältig das Verhältniss zu Lessing behandelt, der Nachweis, dass die Klage Hailers, „die gelehrten Sterblichen" wissen zwar alles, aber sie kennen sich nicht und begehren sich nicht zu kennen (S. 46 und 47), auf L es sing tiefen Eindruck gemacht bat und dass dieser die Verse Hallers in einer Jugendschrift citiert: „Ach! eure Wis- senschaft ist noch der Weisheit Kindheit, Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Blindheit". Ich meiue das merkwürdige Frag- ment: „Gedanken über die Herrenhuter" (vom Jahr 1760, wie K. Hebler in den Lessing-Stndien S. 22 f. gezeigt hat). Man stelle sich vor, führt er dort aus, ein Mann stünde zu unsern Zeiten auf, der gegen „unsere so gepriesenen Weltweisen" auszurufen wagte: Ach! eure Wissenschaft u. s. w., der uns lehrte, die Stimme der Natur in unsern Herzen lebendig zu empfinden, was würden unsere Philo- sophen mit dem Manne anfangen? (s. Ausg. von Lachm.-Maltz. 11, 1, 26 f.; und Hempel 14, 209 *), wo auch nicht angeführt ist, dass Lessing Verse von Haller citiert). Einer der Hauptsätze Lessings in diesem Bruchstücke lautet: „Der Mensch ward zum Thun und nicht zum Vernünfteln erschaffen"; in seiner Bosheit und Verwegen- heit, wie die Geschichte der Philosophie und Theologie zeige, hänge er diesem mehr als jenem nach. Ebenso Haller gegen Ende des I. „Buches" des Gedichtes Ursprung des Uebels (S. 124): Doch wo gerath' ich hin? wo werd' ich hingerissen? Gott fordert ja von uns zu thun und nicht zu wissen! Sein Will ist uns bekannt, er heisst die Laster fliehn Und nicht, warum sie sind, vergebens sich bemühn u. s. w. In den „Beilagen" von welchen die Briefe an Bodmer mit ihren zahlreichen interessanten Einzelheiten, ferner der sermo aca- demicus nebst der Vergleichung zwischen Hallers und Hagedorns Gedichten oben erwähnt sind, finden sich noch neben der Vorrede zu Werlhofs Gedichten die Prosastücke aus der Jugendzeit. In der Schutzschrift (Nr. 2) vom J. 1733 setzt Haller, in demsolben Ge- dankengang wie 22 Jahre später Lessing, klar auseinander, dass ein Dichter nicht wie „ein Weltweiser" zu verfahren habe. „Ein Dichter", sagt er u. a., „wählet einen gewissen Vorwurf, nicht eine vollständige Abhandlung davon zu machen, sondern einige besondere 1) Erich Schmidt in seinem 1884 erschienenen „Lessing'* Bd. I. erwähnt in der Analyse des Lessingischen Aufsatzes ebenfalls nichts davon; den Einfluss Hallers auf Leasing stellt er sorgsam dar S. 96 ff. Digitized by Google 144 Jacoby, Ana. v. Hallen Gedichten n. Tagebüchern, hggb. v. L. Hirtel. Gedanken darüber anzubringen. Also soll es ihm frey stehen, so weit zu gehen, als er will, und stille zu stehen, wo es ihm gefäit" (S. 370). Vgl. oben S. 128. Die Ausstattung des Werkes ist vortrefflich; der Druck correct. Ausser den bereits von Hirzel selbst bezeichneten Druckfehlern habe ich von nennenswerthen folgende angemerkt: CIV mnss es fatiles heissen; Gedichte S. 41 andrer (Plage); S. 352 Hochedler. Im Abdruck französischen Textes S. CLXXIX l'estime; CCXLII amuse (statt amusue) und (qu'on a) faite (statt fait); CCCLXXXIX le Pacte und executee; CCCXC accorderais. Am Schlüsse (S. 411—423) ein zuverlässiges „Naniensverzeichniss" (zu „Aristophanes" gehört noch S. 386, zu Mylius noch 202), welches das 8tudrara des Baches wesentlich erleichtert. Berlin. Daniel Jacoby. Digitized by Googl Ueber ein neugefundenes mittelhochdeutsches Handschriften- brnehstfick der Freiberger Gymnasialbibliothek and über das Gedicht von der vrouwen tnrnei. Von Eduard Heydenreich. Bei einer Durchmusterung der alten Drucke, welche die Bibliothek des Gymnasium Albertinum zu Freiberg in Sachsen besitzt, fand ich in einem dicken Bande einer sehr alten un- datierten Ausgabe des Thomas von Aquino, welche mit der Bibliothekssignatur „Cl. VII. 8" bezeichnet ist, ein grosses Per- gamentblatt. Es war auf der Innenseite des alten, starken Einbande8 aufgeklebt und zeigte zwei Columnen mittelhoch- deutscher Verse. Mit einiger Vorsicht gelang es leicht, das Pergamentblatt von dem Einbände vollständig loszuschälen und dadurch auch die beiden Columnen auf der Rückseite des Blattes blosszulegen. Die Schrift ist klar und gut leserlich, die Liniierung deutlich sichtbar, der gegebene Raum möglichst ausgenutzt Indem ich zur leichteren Citierung Ziffern, welche in der Handschrift fehlen, beifüge, gebe ich im folgenden den buchstäblichen Wortlaut meines Fundes: Ni so hohen pris gewau Wan daz wir unse ere Behalden wn unse wipheit Swelh vrouwe disse cronen treit Di beiaget also hohen pris 5 Daz ector noch paris gowan Si ininne iren üben man Vn habe in mit triuwen wert Des prises man von vrouwen gert Archiv ». Litt.-G»sch. XIII. 10 Heydenreich, Der vrouwen turnoi. Di vrouwen ian an ir wort Di erste sprach aber vort: Wold i mir ein gelubede tu Ich brenge iz harte wol darzu Daz wir lop irw'ben Ev dan wir irst'ben Ich wil uns irtrachten ein spil Davon gewinne wir eren vil Swa man iz vorneme Daz iz uns wol anzeme Di vrouwen sprachin alle san Swa mite wir in u gen Ion intvan Di des nicht Wolde loben Di wolde ouch w lichin toben Di erste sprach aber vort Dit habet ir vrouwen wol geho't Von einer si zu der andern gi Ir alr gelobede si intvi 50 scire du daz geschaoh 51 hup ub un sprach Wol ub ich habe gedacht Daz iz w'de volbracht Wir teilen uns inzwei Un machin einen turnei Siiit wir 8us eine sin Un inlazen niman h'in Si hizen di burc zu slizen Un daz man davor lize Torwarten un wechtere Di begonden uns zumere In allen landen besagen Nu hezt daz harnasch h'tragen Un ouch die ros bereiten Hir in ist nicht lenger beiten Du sprach ein vrouwe wol gezogen Iz ist seiden me gefplogen Iz inzemt nicht guten wiben Wir lan den tornei bliben Wi begonde ich des ich ni began Solde ich riten als ein man Daz wer unwiplich getan Wir sullen von der rede lan Di erste sprach aber vort Daz hat ir vrouwen wol gehört Sw* hi widerspricht Heydenreich, Der vrouwen turnei. 147 Un sine triuve brichit 55 Den Glinde ich meineide Un triuvelose beide Sin mochte nichhein rat sin Man brachte daz harnasc darin Set du wapende sich san 60 Manie vrouwe wol getan Ouch wart indi hosen geschut Manie vrouwe wol gemut Is was ein selicliche hant Di disse rimen alle bant 65 Sint im zu griven dar geschah Da maninc ebenture lach Ir iclieb hatte ein senstenir So wol gesteppet huffenir Begreif ui mannes hant 70 50 man han den vrouwen v *) 51 waren schire bereit Un di helme ufgeleit Un schiden sich inzwei Sus hup sich der turnei 76 Daz eine daz solden Sachsen sin Daz ander di h'ren üb* rin Di vrouwe hup sich ab dar Di den turnei meisterte g . r ') Uli sprach ir sult uch nennen 80 Daz man uch mnge irkennen lelich vrouwe nach ir man Dabi man si irkennen can Si worden is zurate Un nanten sich vildrate 85 Di vrouwen gemeinliche g.r Ouch was ein maget ald . r Di was üb' ir tage Gegangen sunder clage Zen iar oder me W 1) Hinter dem letzten v des 71sten Veraea ist das Blatt abgeschnit- ten, so dass der Reim zu Vera 70 fehlt. 2) Die Lücken in den Versen 79. 86. 87. 91. 92. 98. 99 (dur.) liegen aämmtlich auf einer starken, das ganze Blatt senkrecht durch- ziehenden Leimhnie, die wol durch Buchbinderarbeit entstand. Einzelne Buchstaben reichen über dieselbe hinaus, hinter dem Schluas-n aber von Vers 99 ist das Blatt abgeschnitten, so dasa auch hier, wie im Vers 71, der Reim fehlt. 10* Digitized by Google 14S Heydenreicb, Der vrouwen turuei. Si conde sich vil wol vers... Si was wol gewachsen un .T.t Un ou hovisc gemut Ir vat' ginc daz gut abe Im was intrunnen di habe Iz was ir also comen Der si e hette genomen Der Hz iz sin du.ch daz g.. Sus ginc di maget dur. di n.. Nu geloubet mir der mere Swi arm ir vat' were Sin ros stunt da vil gereit Sin wapen Colone dabi geleit Da gebrach nicht eines rimen vane Daz tet di iuncvrouwe ane Di andern vrogeten si sere Wi ir name were Si begonde denken um einen namen Si miste sich des sere schämen Daz ir vat' daheime lac Un ouch ir mage nichhein inpflac Turneiis nach dem si sich nente Nu dachte si sere um einen naroin Des si sich nicht dorfte schamin Swa man iz vorneme Daz iz ir wol anzeme Si sprach einen namen wil ich haben Der h'zoge walraben D' is von linporc genant Davon so w de ich wol bekant Her is der besten ritter ein Den di sunne i beschein Bebalde ich hüte sjuen namen Ich inwil mich uimmer sin gescam Si wart des namen harte vro Uf bunden si di helme do Di iuncvrou gap ir guten trost Si vur uz an einir schost Si wart da wol bestanden Un stach mit ir wizzen handen Ein sper so ritt liehe inzwei Daz allez daz uf dem velde schrei Za linporc za Di tornei wil zusamen sla Di iuncvrou rante darzusa loo lor» 110 115 120 125 ISO 135 Digitized by Google Hejdenreich, Der vrouwen turnei. 149 Un tet iz also gut da Daz .nan wunder an ir sach Diz .olc gemeinliche sprach Daz .er h'zoge walrabe1) Alda den pris muste haben HO Si rifen linporc über al Mangen ungevugeu8) val Machte si von den pferden Nider zu der erden Uch mochten sere irbarme3) 145 Der meide blanken arme Den vrouwen tet der tornei we Wan si in begondens ni me Di iuncvrou hette sin gerne me Man horte da nicht wan klinc a clinc 150 Un sah da nicht wan drinc a drinc Ir cunst da ritt 'liehe irschein Harte manic wiziz bein Daz wart da vil sere irschalt Du di ros mit gewali 155 Gein ein ander drungen Di helme sere klungen Du des gnuc was getan Du musten si darabe lan Un inkesten sich gar 160 Si lizen heimelichin dar4) Daz harnasc da si iz namen E di h'ren quamen 8i hatten schone sich getwagen Un iz insolde niman sagen 165 Di h'ren wordens doch gewar Wan di ros waren sweizzic gar Der vrouwen vil da lagen Di h'ren begonden v ragen 1) In Vers 139 ist hinter daz eine Lücke von einem Buchstaben, ebenso Vers 137 und 138, da das Pergament hier zerrissen ist. Von dem in V. 137 verlorenen m ist noch n erhalten, das v vou volc aber und das d von der fehlen; jedoch könnte es der Schrift nach V. 139 eher daz .or heissen. 2) Zwischen ungevugen V. 142 und val steht ein durchgestriche- nes schal. 3) Hinter irbarme V. 146 folgt anscheinend noch ein n, durch Rasur halb beseitigt. 4) Über dar V. 161 ist interlinear tragen geschrieben. 150 Heydenreich, Der vrouwen turnei. Ir deinen kemerere Di sageten in di rnere Wi ein di andern nider stach Un daz da maninc sp' zubrach Du di heren daz vornamen Un si zusamene quamen Si lachten derre raere Uti iz dachte si doch vil swere Daz di vrouwen iz hatt.. getan D. sp..ch un.. in ein man1) 170 175 Diese 179 Verse sind ein Theil des 412 Verse zählenden Gedichtes „der vrouwen turnei", dessen Text bisher nur un- genau aus der Coloczaer Handschrift abgedruckt2) und von von der Hagen in fehlerhafter Weise bearbeitet worden ist5); und zwar entsprechen diese Verse der Freiberger Handschrift den Versen 100—288 der Zählung von der Hagens. Dabei ist Vers 1 oben am Rande nachgetragen und entspricht dem Vers 105. Vers 2 aber ist mitten aus dem Zusammenhang gerissen. Derselbe wird verständlich durch Mittheilung der 3 nächstvorhergehenden Verse, welche sowol im Coloczaer Codex als in der Heidelberger Handschrift 341 gleicher Weise also lauten : Interpunction und Unterscheidung lauger und kurzer Vocale fehlt im Freiberger Bruchstück. Zum Verständniss des mitgetheilten Fundes empfiehlt es sich, von dem ganzen Gedichte eine Inhaltsangabe4) zu machen. Den in dem Freiberger Fragment enthaltenen Theil hebe ich dabei durch cursiven Druck hervor. 1) Vere 178 f. sind zerfressen; die punetierten Buchstaben fehlen; hatt.. V. 178 ist wol hatten, V. 179 wol so zw ergänzen: Du sprach unt' in ein man. 2) Koloczaer Codex altdeutscher Gedichte. Herausgegeben von Joh. Nep. Grafen Mailäth und Johann Paul K Offinger. Pest 1817. Seite 76—87. 8) Von der Hagen, Gesammtabenteuer. IterBand, Seite 367 — 382. 4) Eine kurze Inhaltsangabe ßndet sich auch bei Gentbe, Deutsche Dichtungen des Mittelalters II, 1841. Seite 236. 237. Ein ander vrowe die was wls Die sprach waz sol uns höher prts Zu dirre werlde mere. Digitized by Google Heydenreich, Der vrouwen tarnei. 151 In einer Oberrheinischen Burg wohnten zusammen vierzig ritterliche Bürger mit den ihrigen, unter einem erwählten Hauptmann, der jede Zwietracht schlichtete, so dass alle ein- ruüthig für einen standen und so überall gefürchtet und be- rühmt waren. Sie gewannen auch in manchem Turniere den Preis, während ihre Frauen daheim ebenso eintrachtig lebten. Die Ritter griffen dabei gewaltig um sich, fanden aber einst einen machtigen Gegner, und nach mannigfaltigen Kämpfen und Verheerungen wurde ein Tag zur Sühne vermittelt, zu welchem man ungewafihet kommen sollte. So begaben sich die Ritter an einem Sonntage nach dem bestimmten Orte. Ihre Frauen giengen unterdessen auf eine lustige Aue vor der Burg. Da gedachte eine derselben, kühner als die übrigen, des Ruhmes ihrer Männer und wünschte den Frauen auch ihr Theil. Eine andere dagegen verwies sie an ihren Beruf für das Haus, und die übrigen stimmten bei. Jene aber fuhr fort, die Frauen müsstcn sich doch Lob erwerben, wozu sie ein Spiel er- dacht habe, und alle stimmten ihr ebenfalls bei. Sie licss es jede einzeln geloben und schlug hierauf ein Turnier vor. Widerspruch tvurde nun für Meineid erklärt Die Thore wurden geschlossen, die Wächter ausgespcni , Rüstungen und Rosse wurden hervor- gesogen, und die Frauen wappneten sicfi vollständig. So angc- than theilten sie sich in zwei Scharen, als SacJtsen und über- rheinische; jede nahm überdies einen Rittersnamen an. Da war auch eine stattliche und kluge Jungfrau, schon in reifen Jahren, deren Vater zwar arm war, jedoch ein treffliches Ross und Rüstung hatte, womit angethan sie daherkam. Sie wählte sich den Namen des Herzogs Walrabe von Limburg, als des besten Ritters, den je die Sonne beschien. Das Turnier hub an, und sie brach im Lanzenrennen ihren Sper ritterlich und sprengte im Getümmel so kräftig umher, dass sie manche zu Boden rannte und alle in ihr Feldgeschrei „Limburg*1 einstimmten. Sie behauptete bis zu- letzt das Feld, während viele hart zerschlagen, zerstossen und zerquetscht niederlagen und das Spiel bereuten. Am Ende brach- ten sie alles wieder an seine Stelle, wuschen sich und gelobten Verschtciegenheit. Als aber die Männer heimkamen, fanden sie die Rosse sehweissig, fragten, und ihre kleinen Knappen erzählten ihnen die ganze Geschichte. Die Ritter lachten; einer rieth zwar, 152 Heydenreich, Der vronwen turnei die Frauen für ihre Verkehrtheit zu züchtigen; ein anderer meinte jedoch, man sollte ihrer Jugend das Ritterspiel zu gute halten und ihnen nicht doppelt wehe thun, sondern sie baden lassen; und alle stimmten hei. Die Kunde von dem Frauen- turnier erscholl aber weitumher im Lande, und so erfuhr auch der Herzog von Limburg, wie ehrenvoll die Jungfrau dort seinen Namen geführt hatte. Er kam danach an ihrer Burg vorbei und fand draussen, an einem Montage, die Frauen fröh- lich beisammen. Er ritt näher und wünschte die ritterliche Jungfrau zu sehen. Sie trat ehrerbietig hervor; der Herzog dankte ihr und verhiess ihr den schuldigen Lohn. Er Hess ihren Vater kommen, Fragte, warum er die rüstige Tochter nicht längst schon ausgestattet hätte, und als er dessen Dürf- tigkeit vernahm, gab er selber ihr zur Ausstattung hundert Mark, dazu Ross und Pferd und verheiratete sie einem reichen Manne, mit dem sie danach in allen Ehren manches Turnier gewann. Der Dialekt, in dem die Handschrift geschrieben, ist ohne Zweifel der mitteldeutsche. Als Beweis hierfür mag eine Zusammenstellung einiger besonders charakteristischer mittel- deutscher Formen dienen. Un verschobenes t zeigt das für das Mitteldeutsche (md.) charakteristische dit Vers 25 für diz, eine Form, deren T-Laut in Ripuarien durchaus herrscht, aber auch aus Meissen, Thü- ringen und Hessen, überhaupt aus ganz Mitteldeutschland be- legt ist (siehe Karl Weinhold, mittelhochd. Gramm. § 467, S. 469); die Form du (für dö, tunc), welche md. geradezu als Regel gilt, ist häufig (Vers 44, 155 u. ö.), und nur ein einziges Mal Vers 126 ist dö dafür eingetreten, Vers 129 da (vgl. Weinhold a. 0. § 88); die Form üch Vers 80 für iuch ist md. (Weinhold § 456, S. 451), ebenso die Form derre für dirre (Weinhold § 468). Nicht minder ist das t, welches für e in Suffixen, Flexionen und Praefixen steht, md., so in der Vorsylbe in (Vers 21. 32. 35 u. ö.), in sprächw V. 20, werlichw V. 23; machw V. 33; spricht V. 54; bricht V. 55; namin: schamin 113, 114; wiziz V. 153; heimelichtn 161(Weinhold §41); dermd. nom. mscl. di tornei vergleicht sich der damit gleichbedeuten- den Form de, welche älter als der ist (Weinhold a.0., Seite 462); Digitized by Google Heydenreich, Der rrouwen turnei. 153 ntman für niernan V. 165 ist ebenfalls md. (Weinhold S. 477) und vergleicht sich Formen wie: di (V. 5, 11 u. ö); ni V. 70; si V. 72 u. ö.; stvi V. 101; ferner sind md. unse ere und unse wipheit V. 2. 3 (Weinhold § 462); o für u z. B. worden V. 84; txwnämen V. 174 für veraamen (Weinhold § 274); zemt für zimt V. 46 (Weinhold § 32); han und her für an und er V. 71. 121 (vgl. Weinhold § 44 und Seite 34. 204) u. s. f. Um das Verhältniss dieses mitteldeutschen Bruchstückes zu dem bereits bekannten Text des Heidelberger und des Co- loczaer Codex festzustellen, war es nötbig, diese beiden Codices neu zu vergleichen. Denn gegen die Zuverlässigkeit der hand- schriftlichen Mittheilungen von der Hagens wurden bald nach dem erscheinen der Gesammtabenteuer gewichtige Zweifel laut1), und von Laien in Germanistik und Diplomatik wie Mailäth und Köffinger konnte von vornherein ein fehlerfreier Abdruck des Coloczaer Textes nicht erwartet werden. Meiner Bitte aber um Übersendung der genannten Handschriften wurde sowol seitens des Grossherzoglich Badischen Ministe- riums des Inneren als auch von Seiner Eminenz Herrn Cardinal Erzbischof Dr. Haynald in Colocza mit grösster Liberalitat entsprochen, und verfehle ich nicht hierüber auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank auszusprechen; derselbe gilt nicht zum wenigsten auch den Herren Ober- bibliothecaren Prof. Zangemeister in Heidelberg und Hofrath Förstemann in Dresden, deren gütige Vermittelung in dieser Angelegenheit mir von höchstem Nutzen war. Die Collation der Heidelberger Handschrift durch von der Hagen erwies sich im grossen und ganzen als zuverlässig. Doch waren Berichtigungen einzelner Wortformen zu notieren: so steht V. 11 nicht vierzig in der Heidelberger Hdschr., son- dern vierzick; V. 171 nicht enzwei, sondern enzwey; V. 175 nicht huop, sondern hub; V. 199 nicht armuot, sondern armut; V. 200 nicht gieng, sondern gienge. Dagegen haben die Her- ausgeber des Coloczaer Codex so unzuverlässig gearbeitet, dass sie z. B. im Frauenturnier nicht bloss Wortformen, die im 1) Pfeiffer in seiner Recension der Gesammtabenteuer in Münchner Gel. An*. 1861. Digitized by Google 154 Heydenreich, Der vrouwen turoei. Codex gar nicht stehen, wie künden V. 12 für konden, sehent V. 18 für sehet, macht V. 70 für mocht, genummen för ge- numen V. 198, ist für is V. 218, tan für lan V. 269 und vieles andere an zahlreichen Stellen als Lesarten der Handschrift ausgeben, sondern auch die Verse 403—406 Nft noch nimmer mere erwirbet grözer ere So die iuncvrow gewan mit irem vil lieben man ganz wegliessen. Da nun selbst die hervorragendsten Vertreter unserer ger- manistischen Wissenschaft nicht in der Lage waren, den Codex einzusehen, sondern sich auf den Abdruck von Mailath und Köffinger verlassen mussten, so wird es von Interesse sein, die Unzuverlässigkeit desselben noch durch Mittheilung weiterer Lesarten, die im Abdruck durch andere ersetzt sind, zu charak- terisieren. So steht z.B. in der „goldnen Schmiede" V. 1 nicht doch, sondern wol; V. 2 nicht herzens mitten, sondern herzen smiten; V. 6 nicht kaiserin, sondern keiserin; V. 9 nicht us, sondern uz; V. 19 nicht uberhohen, sondern getrennt über hohen; V. 25 nicht dinem, sondern sinem; V. 28 nicht hin nider, sondern hie niden; V. 32 nicht vunde, sondern funde; V. 40 nicht duennen, sondern dünnen; V. 41 nicht stahlin, sondern stehlin; V. 47 nicht bis, sondern biz; V. 47 nicht grund, sondern grünt; V. 51 nicht gezeit, sondern gezelt; V. 54 nicht kenins, sondern keines; V. 58 nicht Stetigkeit, sondern stetikeit; V. 60 nicht niayen, sondern meyen; V. 63 nicht flehten, sondern vlehten; V. 65 nicht sprochen, sondern spru- chen; V. 71 nicht entzwisshen, sondern entzwisschen ; V. 73 nicht niayen, sondern meyen; V. 74 nicht frow, sondern vrow; V. 85 nicht kränze, sondern krantze; V. 86 nicht glänze, son- dern glancze; V. 87 nicht gemuet, sondern gemuet; V. 89 nicht oygen, sondern cregen; V. 90 nicht dovgen, sondern tougen; V. 95 nicht suzzer, sondern suzer; V. 97 nicht strazzburk, son- dern strazburk; V. 99 nicht vorchte, sondern worchte; V. 104 nicht bute, sondern bute; V. 113 nicht dazz, sondern daz.; V. 114 nicht shonne, sondern schone; V. 114 nicht stund, son- dern stunt; V. 115 nicht steke, sondern stecke; V. 122 nicht Digitized by Google Heydenreich, Der vrouwen turnei. 155 gute, sondern gute; V. 124 nicht ev, sondern nu; V. 125 nicht lihn, sondern lihe; V. 125 nicht hernach, sondern getrennt her nach; V. 131 nicht gauch, sondern gouch; V. 139 nicht ichzz, sondern ichz; V. 141 nicht magd, sondern magt; Y. 143 nicht wieselosen, sondern wiselosen; V. 145 nicht Hecht, son- dern lieht; V. 146 nicht jeze, sondern ie ze; V. 150 nicht tone, sondern done; V. 164 nicht war, sondern var; V. 166 nicht sinerz, sondern swerz; V. 172 nicht schatten, sondern schaten; V. 175 nicht tiefen, sondern tieffen; V. 176 nicht hund, sondern hunt; V. 178 nicht nacht, sondern vacht; V. 185 nicht Zyprian, sondern Cyprian; V. 196 nicht crisen, sondern krisen. Desgleichen in „der Wiener Meerfahrt" lies V. 17 nicht tewer, sondern tewer; V. 18 nicht gehe wer, sondern ge- hewer; V. 28 nicht hoveriicher, sondern hovelicher; V. 49 nicht winnen, sondern wienen; V. 52 nicht lit, sondern llt; V. 73 nicht winne, sondern wiene; V. 78 nicht dinich, sondern dinch; V. 80 nicht manch, sondern manch; V. 85 nicht seltsame, son- dern seltsene; V. 91 nicht zu, sondern ze; V. 118 nicht sauer, sondern sour; V. 119 nicht siner, sondern sinen; V. 123 nicht abend, sondern abent; V. 133 nicht gebene es, sondern bloss gebene; V. 138 nicht brage, sondern präge; V. 143 nicht küh- len, sondern kulen; V. 147 nicht wege, sondern wegen; V. 149 nicht pruzen, sondern prüzen; V. 158 nicht geschah, sondern geschach; V. 173 nieht darumbe, sondern getrennt dar umbe; V. 178 nicht dabei, sondern dabi; V. 179 nicht schiere, son- dern schire; V. 200 nicht gefiel, sondern geviel. Desgl. im „Pf äff Amys" V. 25 nicht enphie, sondern enpfie; V. 58 nicht sine, sondern sin; V. 58. 131. 147 nicht bischof, sondern bis- schof; V. 61 nicht eit, sondern nit; V. 72 nicht gevern, son- dern gewern; V. 108 nicht muz, sondern müz; V. 112 nicht mast, sondern müst; V. 122 nicht er, sondern her; V. 174 nicht sin, sondern sie. Desgleichen im „Armen Heinrich" V. 46 nicht unahe, sondern unnahe; V. 91 nicht suze, sondern suzze; V. 92 nicht fuze, sondern fuzze; V. 151 nicht donnerslac, sondern donerslac; V. 153 nicht morgensterne, sondern morgen sterne; V. 164 nicht sieh heit, sondern sieh hait; V. 166 nicht etsliche, sondern ettliche; V. 184 nicht meister, sondern maister; 156 Heydenreich, Der vrouwen iurnei. V. 189 nicht vorgeleit, sondern getrennt vor geleit. Desgleichen im „Reineke Fuchs" V. 39 nicht zun, sondern czun; V. 49 nicht der zum, sondern den tzun; Y. 68 nicht meinen, sondern minen; V. 79 nicht entringen, sondern entriegen; V.. 96 nicht ruwic, sondern ruwic; V. 101 nicht vlouch, sondern vloch; V. 102 nicht trouch, sondern tröch; V. 105, 110 nicht schantekler, son- dern schantecler; V. 113 nicht ruwet, sondern reuwet; V. 115 nicht trewe, sondern trSwe; V. 125 nicht vru, sondern fru; V. 146 nicht vergelden, sondern vergelten. Das Verbältniss des Coloczaer zum Heidelberger Codex ist zwar vielfach besprochen, aber immer noch nicht völlig ins reine gebracht worden. Ausgeraacht ist die grosse Überein- stimmung der beiden Handschriften; ob aber die Ungarische Handschrift eine Abschrift der Pfalzer oder ob beide von einer gemeinsamen älteren Handschrift copiert sind, ist noch nicht klar. Die Herausgeber des Coloczaer Codex meinen in der Vorrede S. VI, dass er einst nach dem Heidelberger zu Rom oder in Deutschland selbst für die Corvinische Bibliothek zu- sammengeschrieben wurde. Ebenso nennt von der Hagen *) den Coloczaer Codex eine Abschrift des Heidelberger. Auch Wacker- nagel bezeichnet2) die Heidelberger Handschrift als das Origi- nal der Coloczaer. Zweifelhaft drückt sich J. Grimm aus3): „da der Col. Cod. jenem Pfälzer äusserst ähnlich ist"; bestimmter äussert er sich im Sendschreiben an Lachmann4), wo er beide Handschriften als Copien einer älteren annimmt. Unbestimmt drücken sich aus K. A. Hahn5) und W. Grimm.6) Gegen die Annahme aber, dass der Coloczaer Codex aus dem Heidelberger copiert sei, sprechen verschiedene Umstände: 1) Von der Hagen, Minnesinger IV S. 901. Vgl. von der Hägens Germania II S. 90 und Gesammtabenteuer III S. 758 ff. 2) Wackernagel in Maasmanns Dnkml. d. dtscb. Spr. und Ltr. I S. 106. 3) J. Grimm, Keinhart Fuchs S. CLXXX. 4) Sendschr. an Lacbmann S. 9. 6) K. A. Hahn, Vorrede zur Ausgabe kleiner Strickerseber Gedichte S. XIX und in der Vorrede zu Konrads von Wörzburg Otto mit dem Barte 8. 38. 6) W. Grimm, Vorrede zur goldenen Schmiede S. VI. Digitized by Google Heydenreich, Der vrouwen turnei. 157 die einzelnen Gedichte sind nicht genau in derselben Folge in beiden Handschriften enthalten; auch stimmen die Anfänge der einzelnen Stücke keineswegs in dem Masse überein, wie man es bei einer Copierang der einen Handschrift aus der anderen erwarten müsste. ') Der Coloczaer Codex enthält ferner eine geringere Anzahl von Gedichten als der Heidelberger.2) Die Oberschriften weichen ebenfalls sehr von einander ab.3) Schliesslich enthält der Coloczaer Codex nicht zu entbehrende, nothwendige Verse, die in dem Heidelberger fehlen.4) Ich nehme daher mit J. Grimm und Haupt5) an, dass der Coloczaer Codex (C) keineswegs eine Abschrift des Heidelberger (H) ist, sondern dass vielmehr beide aus einer gemeinsamen Quelle ge- flossen sind. Dieser durch HC vertretenen Bearbeitung des „Frauen- turniersa steht nun der Text der Freiberger Handschrift (F) mit einer Anzahl bemerkens werther Abweichungen gegenüber. Während F in mitteldeutschem Dialekt geschrieben, ist der Text von HC sehr mit oberdeutschen Formen durch- setzt Auch in orthographischen Abweichungen zeigt sich der Gegensatz von F zu der Gruppe HC. So steht in F Vers 4 disse mit Consonanten Verstärkung8) gegenüber dise in HC, ebenso gein für gegen V. 156 u. a. Hieher ist auch der Name des Ortes zu stellen, an dem das Gedicht spielt: HC schreiben beide Limburk, F aber Linporc7) Der Gegensatz von F zu der Gruppe HC ist ferner daraus ersichtlich, dass 2 Verse 1) Vgl. R. Schaedel, Die Wiener Meerfehrt. Progr. Clausthal. 1842. 2) Fr. Ade Taug, Altdeutsche Gedichte za Rom S. 226. 3) Lütke in von der Hagens Germania V S. 123 f. 4) Pfeiffer in Münchner gel. Anz. 1851. Nr. 84. S. 679. 5) Hanpt, Lieder u. B. und der arme Heinrich von Hartmann von Aue S. IX f. 6) Weinhold, Mhd. Gramm. S. 471. 7) Die Verschiedenheit, mit der dies Land geschrieben wird, ver- dient Beachtung, da es so manche Vielgestaltigkeit in Namensformen übertrifft: während man als Singularität 33 Namensformen der Stadt Quedlinburg zusammengestellt hat (nouv. traite* de Diplom, par deux rel. Benädictins etc. tom. IV S. 606), verzeichnet Ernst (histoire de Limbourg 1 S. 6 Note 2) allein über fünfzig Formen des Namens Lim- bourg. Die im Freiberger Fragment sich fmdeude ist dabei nicht mit genannt Digitized by Google 158 Heydenreich, Der vrouwen tarnei. (71 und 72), die in HC gänzlich fehlen, in F Oberhaupt zum ersten Male vorliegen, dass gewisse Verse in F in anderer Reihenfolge als in HO erscheinen und dass eine nicht geringe Anzahl Verse von HC in F nicht wiederkehren. Vers 51. 52, desgl. 55. 56 stehen in umgekehrter Ordnung wie in HC, doch ohne Sinnesstörung. Die Reime der Verse 148 f. stehen in umgekehrter Folge von HC, womit eine abweichende Gestal- tung beider Verse in F einer-, in HC anderseits zusammen- hängt. Die Verse 177. 178. 183. 184. 239. 240. 251. 252. 254. 256. 258 der von der Hagenschen Zählung fehlen in F, stehen SHinmtlich sowol in C als auch in H. Ueberhaupt aber er- weist sich der Text in F von dem in C und H gemeinsam sich findenden sehr verschieden. Aeusserst häufig werden in F andere Synonyma oder andere synonymische Wendungen an- ge wandt, als HC gleicher Weise bieten. Eine Auswahl wird dies genügend darthun. So steht in F beiaget V. 5 für be- neidet in HC; höhen pris V. 1 für grozen pris; da von eren vil für damite lobes vil V. 17; schiden sich inzwei für riten von einander enzwei V. 74; hette sin gerne me für wold sin dannoch ine V. 149; Si lizen für und legeten V. 161; Wi ein di andern für wie jeniu (jene) dise V. 172; di begonden uns besagen für die beginnent von uns sagen V. 39 f.; wir län den tornei bliben für lazt den turnei bliben V. 47; di (sie!) tornei wil zusamen sla für der tornei begonde (begunde C) zesamen slän (zla C) V. 134; aldä den pris muste haben für wil (hie) den pris behaben V. 140. — Wenden wir uns nun speciell zu F, so zeigen auch die Reimverhältniss-e den mittel- deutschen Charakter des Gedichtes. Mitteid. ist z. B. die Ver- schweigung des h vor t in geschüt, das V. 62 auf gemüt reimt.1) Reime wie geschach: lach V. 66/67, d. i. von ch = g, sind md. ebenfalls nichts ungewöhnliches.3) Auch kann man hieher ziehen die apokopierten Infinitive tü V. 12, sla V. 134, irbarme V. 145. Daneben finden sich Infinitive auf -n : loben toben V. 22 f., besagen : tragen 40 f., bereiten : beiten 42 f., vragen 169, sin 58. 76, nennen : irkennen 80 f. Zweifelhaft 1) Wein hold, Mhd. Gramm. S. 206. 2) Weinhold, Mhd. Gramir. § 219 Nr. «?. Digitized by Google Heydenreich, Der vronwen turnei. 159 ist zu slizen : lize V. 36 f., weil es nahe liegt, in zu slize zu ändern. Der Coloczaer Codex hat hier liezen; die Verbindung von man mit dem Plural des Verbums ist freilich selten.1) Zweifelhaft bleibt ferner die Ueberlieferung in F, V. 139 f. Daz [d]er herzöge Walrate Alda den prfs muste hafccw. Der Nom. Walrabe ist V. 383 der Hagenschen AuBgabe Sprach der herzöge Walrabe: Mit hundert marken ich sie begäbe durch die Gruppe HC überliefert. Ebenso aber auch der Nom. Walraben V. 320 (Hagen) Iz enwart niht also begraben der herzöge Walra6en. In der That sind beide Nominativ formen gleich richtig.8) Zweifellos dagegen sind die ungenauen Reime vort : gehört V. 24 f., 52 f., tröst : schost V. 127 f. und getan : man V. 178 f. Hierzu scheint auch noch V. 98 f. zu kommen, da kaum anders als so zu erganzen sein wird: Der liez iz sin du[rjch daz g[ut] Sus ginc di maget dürfen] di nfdtj. Es ist dies ganz dieselbe Ungenauigkeit, wie wenn z. B. Roth. 49. 108 und Ernst 2, 10 not : guot reimt.5) Erweiterter Reim liegt vor in irwerben : irsterben V. 14 f.; gezogen : gepflogen V. 44 f.; genant : bekant V. 119, 120.4) Für einen gebildeten, guten Mustern nachstrebenden Dichter wäre5) der rührende Reim nie : me V. 148, 149 unerträglich. Allein man kann sich nicht des Verdachtes entschlagen, dass, wie z. B. ev für er (e) V. 15 verschrieben ist, ebenso auch hier nur ein Ver- sehen des Abschreibers vorliegt. Denn statt des Reimes we* : me : me findet sich in der Heidelberg- Coloczaer Ueberlie- ferung die folgende Anhäufung des Reimes in den Versen 253 ff. (Hagen): 1) Mhd. Wb. II, 32 a. 2) Förstemann, Namenbach I, 1245. 3) Bartsch, Untersuchungen über das Nibelungenlied S. 10. 181. 4) W. Gr im in, Zur Geschichte des Reimes, S. 601. 6> W. Grimm a. a. 0. S. 630. 160 Heydenreicb, Der vroawen tarnei. Was ir gesche alao wi Sölden siz alrest bosie Si begonden sin nimmer me In tet der turney also we Di iuncyrow wold sin dannoch me Tr tet nirgen kein ßlac we 253) geschehe C. — 254) siez H. bestene H. — 255. sie C. — 257) die HC. — 258) iungvrow H. — 258) slack H. V. 104 f. = 205 f. (von der Hagen), wo F den rührenden Reim vaue : ane hat, steht in HC vielmehr Do gebrach niht eines rieraen an. Daz leget die iuncvrowe dö an. Tonmalerisch ist der Reim V. 150 f. Ganz reimlos ist V. 112 = 213 von HC, wo der in F weggelassene Vers er- halten ist da bl man sie erkente. Dass auch V. 1 und 5 in F nur durch ein Versehen des Ab- schreibers reimlos geworden sind, zeigt die Ueberlieferung in HC. Auch die Anhäufung des Reims zä : slä : sa : da V. 133 — 136 ist durchaus nichts regelwidriges.1) Der Versbau des Freiberger Bruchstücks ist, wie die Sprache, ebenfalls mitteldeutsch, da die doppelten Senkungen, welche ziemlich zahlreich in demselben auftreten, als ein be- sonderes Kennzeichen mitteldeutscher Poesie angesehen werden können. *) In F wechseln miteinander, wie dies der Gebrauch der mhd. Dichter guter Zeit ist, Verspare mit vier Hebungen und stumpfem Reime und solche mit drei Hebungen und klingen- dem Reime. Also ist z. B. V. 9 des prises man von vröuwen gert metrisch gleich werthig zu setzen dem V. 19 daz iz uns wöl anzeme. Der Auftact fehlt häufig, z. B. V. 1 Ni so höhen pris gewan. 1) W. Grimm a. a. 0. S. 621. 2) Amelung in ZUchr. f. dtflch. Philol. 1871. III 8. 263 ff. Digitized by Google Heydenreich, Der vroawen turnei. Nicht minder häufig fehlt eine Senkung, z. B. V. 23 Di wolde ouch werllchin toben. Selten fehlt in einem Verse mehr als eine Senkung. Wenn V. 133 zj\ Linpörc zu sogar alle Senkungen fehlen, so liegt dabei die Absicht zu Grunde, das laute, stossweise hervorbrechende Sieg^sgeschrei zu kennzeichnen. Auch fehlt zuweilen Auftact und eine Sen- kung zugleich wie V. 22 Di des niht wolde loben. Auftact und die erste Senkung fehlen V. 74 ünn echiden sich inzwei. Auftact und 2 Senkungen fehlen V. 90 zen wir öder mo. Zweisylbiger Auftact begegnet z. B. V. 39 Di begönden uns zum6re. Zweisylbige Senkungen, nach Amelung a. 0. das besondere Kennzeichen des mitteldeutschen Versbaues, begegnen nicht selten. So können z. B. in folgenden Versen zweisylbige Sen- kungen angenommen werden. V. 764. 19 Bl. 4°. - In Oldenburg. Nach Weller, An- nalen I, 65 und II, 513, in Berlin und München. Den Stoff entnahm Kolb ohne Zweifel der in Cyriacus Span- genbergs Jagteuffel, Frankf. a. M. 1562, Bl. 8Gb— 01a, nach Johannes Justini an us aus Greta gegebenen Schilderung. Dem Gedichte geht eine poetische Widmung an die „Er- barn, Achtbarn weisen Herren, Bürgermeister vnnd Rathver- wanten, der Löblichen Stedt Lübeck, Hamburgk vnd Lüne- A neu iv f. Litt.-Gkm^i XIII 12 ■ Digitized by Google 178 Holstein, Hans Kolb. burgk" voraus. Dann beginnt der Verfasser fast wie in seinem ersten Gedichte mit folgenden Versen: Eyn groß vnd Ritterliche That Sich jtzt in kttrtz begeben hat, Dauon wil ich die warheyt sagn Wie sichs hat newlich zngetragn. Der Erbe der kaiserlichen Krone, Maximilian, Konig von Böhmen, Ein tapffer küner junger HELD Dem ehr vnd Tugent wol gefeit, Ein Teutscher Achilles mit der That Des Alexandri tugent hat, begibt sich während seines Aufenthaltes im Königreich Granada mit grossem Gefolge auf die Jagd. Das Jagdgebiet ist ein weit sich erstreckender Wald, von dem der Dichter folgende liebliche Schilderung macht: Es was ein schöner grüner walt Darin das wildt so mannigfalt Sein wonung hatt in grosser zal Des spüret mau viel vberall, Man sagt daß viel der wilden schweyu Viel wolff vnd Beren groß vnnd kleyn Auch hirschen, binden, Rehe mit macht Hasen vnd füchs in kleyner acht, Die aller Schönsten gemsen auch Da ließen auch die Marder rauch Von wilden thieren, was ein man Auff erden nur erdeucken kan Die fandt man fast in diesem waldt. Dazu die vögelein mannigfalt Sungen, lobten den lieben GOTT Darzu er sie geschaffen hat Zu preisen schon den Namen sein Mit ihren hellen Stimmelein, Voran ß die liebe Nachtigal Sehr lieblich iu dem walt erschall. Man thet auch hin vnd wider schawen Im holtz viel schöner grünen Awen, Da stunden hübsche blümeleyn Gepflanzet an die bechleyn feyn, In welchen auch gefunden wardt Köstliche fisch mancherley art, Digitized by Google Holstein, Hans Kolb. In den schönsten frischen quellen Fandt man griintling vnd forellen. In Summa ein halbs Paradeiß Wen raanns beschreiben solt mit fleiß. Bei der Verfolgung eines Hirsches entfernt sich Maximilian vom Jagdgefolge und irrt in einem tiefen Walde so lauge umher, bis er mitten in der Nacht an einen bewohnten Schaf- hof gelangt. Seine Bitte um Aufnahme wird ihm gewährt. Der wirdt der war ein gottloß man Die köstlich kleidung balt sach an, Beschawet auch daß schöne pferdt Meint er hett gelt vnd geldes werdt Von Habsucht geleitet, beschliesst der Hirt mit seinen beiden Söhnen, den vornehmen Herrn zu ermorden. Aber Gott macht die Pläne der bösen Menschen zu Schanden. Ein junges Mäd- chen, das den ruchlosen Plan vernommen — bei Spangenberg ist es „des Sones Weib, die noch eine junge Braut, vnd neuwlich heimgeführet war" — wird die Lebensretterin des zu- * künftigen Kaisers. Heimlich begibt sie sich zum König und macht ihm Mittheilung, indem sie warnend hinzufügt, dass in diesem Hause schon mancher Mann sein Leben habe ein- büssen müssen. Ich bit mit fleiß wolt mich nicht melden Dann ich müst hören fluchen, scheiden, Keyn guten tag hett in dem Hauß Ach GOTT wer ich geblieben drauß, Thut euch fürsehen, ich thus euch sagen. Nach dem Essen wird nun der König in eine enge Kammer geführt uud trifft alsbald die geeigneten Vorsichtsmassregeln, indem er eine schwere Kiste vor die Thür stellt. Als der Wirth in der Meinung, sein Gast sei bereits eingeschlafen, die Thür öffnen will, leistet sie Widerstand Unter Lärmen begehrt er Einlass, da er in der Kammer etwas zu schaffen habe, aber der König weist ihn ab und vertröstet ihn auf den kommenden Morgen. Da haut der Wirth ein Loch in die Lehm- wand und sucht durch dasselbe in die Kammer des Königs zu ge- langen. Aber dieser ersticht ihn, und als der ältere Sohn denselben Versuch macht, wird er vom König erschossen. Der Schuss erschreckt aber den andern Sohn — bei Spangenberg ist es 12* Digitized by Google 180 Holstein, Hans Kolb. der grosse Schäferknecht, und der Hirt hat überhaupt nur einen Sohn — so sehr, dass er verzagt vom Versuche, in die Kammer zu dringen, absteht. Am andern Morgen wird das nächste Dorf allarmiert, der fremde wird gefangen in den Thurm geführt. Sie namen jn gefangen an Er sprach, werdt mir ein leidlein thun Ir solt warlich erfaren das Daß ichs nicht vngerochen laß. So jr mir werdt ein herlein krümmen Soll euch fürwar nicht wol bekommen Ich wils euch sagen rundt eben Es wirdt euch kosten leib vnnd leben. Den Tag über muss der Konig im Gefiingniss bleiben. Am andern Morgen sprengen Reiter ins Dorf und forschen nach einem Ritter in vornehmer Kleidung und mit schön geziertem Pferd. Da die Beschreibung auf den vermeintlichen Mörder passt, so lassen sie sich nach dem Gefängniss führen, sprengen dasselbe, erkennen alsbald in dem gefangenen ihren vermiss- " ten Herrn, und nun folgt die Bestrafung. Das Dorf wird niedergebrannt, der Schafhof bis auf den Grund zerstört, der zweite Sohn des Wirths gefangen genommen und später hin- gerichtet. Die Jungfrau aber, die dem König das Leben ge- rettet, wird königlich belohnt und einem tapfern, ehrlichen Manne vermählt. Dem Gedichte folgt eine Nutzanwendung: „Waß man auß dieser Historia lehrnen soll". Diese geschieht thun zeygen an Daß GOTT die sein erretten kau Auß der gefahr vnnd grossen noth, Fürwar es ist ein solcher GOTT Don. er darnach wil hoch erhebn Den nidriget er zuuor, merckts ebn, Demuth thut jm gefallen wo 11 Ein jeder das betrachten soll, u. s. w. An Beispielen, die der heiligen Schrift entnommen sind, wird das walten Gottes in der Geschichte der Menschheit nachgewiesen und das ganze nach Art der Gedichte jener Zeit mit einem Gebet geschlossen. Digitized by Google Holstein, Hana Kolb. 181 Der grossen Sünd der jugendt mein Wobt HERR nicht eingedencken sein, Das bit ich Dich von hertzen grundt Woht mir vergebn all meyne Sünd. Uirmit wil ich beschliesen thun Vnd weiter GOTT so ruffen an, Verley vns HERR ein salig stundt Wenn sich scheydet die Seel vom mundt Durch JESVM Christum vns gegebn Der verley vns alhi das ewig lehn. Amen Amen das werde war Das wünscht Hans Colb der Christenschar. Der Schluss erinnert an die Sitte der Meistersänger, mit ihren Namen das Gedicht zu endigen. Auch sonst finden sich in dem Gedfcht Anklänge an den Geist und die Form des Meistergesanges, wie sie sich auch bei den nichtzünftigen Dichtern zeigen, z. B. in der Anwendung von Sprichwörtern und sprichwortlichen Redensarten: Man sagt ein Sprichwort vnd ist recht Gleich wie der HERR so auch der knecht Gleich [wie] die Fraw so auch die Magdt Das wird für ein sprüchwort gesagt, oder in der Schilderung von Tag und Nacht: Man sagt, die Nacht ist niemand freundt Sonder des Menschen rechter feindt, Der tag von GOTT gegeben ist An dem wandern soll ein Christ Außrichten sein Vocation Vnd was ein jeder hat zu thun. Von GOTT die Nacht darzu geschaffen Darin man ruhen soll vnd schlaffen, oder in der Schilderung des Judas- Kusses: Als Man sagt, gute wort, arge tück Geberd sein gut, im hertz böß stück. Der Judaskuß ist he wer nit new Sehr gute wort vnd falsche trew, Lach mich vorn an, verath mich hinden Solchs wirstu allenthalben finden, oder in der Schilderung des guten und des bösen Gewissens: Sein hertz entfiel jin, wart verzagt Das böß gewissen jn da jagt Digitized by Google Holstein, Haoö Kolb. (Auf erden nichts erger ist Denn der damit beladen ist, Ein gut gewissen vmb vnd vinb Das ist ein recht Conuiuiuin). Endlich verräth das Gedicht als ein Erzcugniss der Refor- mationszeit einen polemischen Charakter. Es werden nicht nur die beiden Erbfeinde der Christen, die Türken und Moscoviter, genannt, die sich mit grosser Macht erregen (vgl. die Reihe der gegen die Türken gerichteten Lieder bei Goedeke, Grund- riss I, 202. 2(53), sondern auch die katholische Kirche mit ihrem Oberhaupt und der antievangelischen Lehre wird der Gegen- stand des Angriffs. CHRISTVS der HERR der ist der weg Die warheyt vnd der Himmel steg. Hir habt jr ein sehr kurtz bericht Der Touffels Babst zu Rom ist nicht, Sonder ist der widerchrist. Der verloren Sohn wie man list Alles was nur Christus der HERR Lehrt, dasselb verkeret er, Verbcuth die speiß von GOTT geschaffen Die Ehe verdammen seine Pfaffen, Das Hochwirdige Sacrament Prophanirt er, ist gar verblent. Erhebt sich wider GOTTES geboth Vnd treumbt er sey oin jrdisch GOTT. Er ist der recht verdampte Sohn Darfür warnet vns PAVLVS schon, Wöllen sie warheyt hören nicht Erwarten müssen Gottes gericht. Das dritte, noch völlig unbekannte Gedicht von Hans Kolb versetzt uns nach Halle. Hier hatte der Erzbischof Sigismund im Jahre 1564 dem Itathe das Franciscanerkloster übergeben. Im folgenden Jahre wurden die letzten drei Mönche, mit einem Zehrgeld von 100 Joachimsthalern versehen, nach Halberstadt gebracht, und aus der Vereinigung der sämmt- lichen Parochialschulen entstand das Halliscbe Stadtgymna- sium, welches am 17. August 1565 in das Franciscanerkloster verlegt wurde. Die Einweihungsfeier beschreibt Hans Kolb. Hundert Jahre später wurde das Jubilaeum gefeiert, von welcher Digitized by Google Holstein, Hans Kolb. 183 Feier der Superintendent Gottfried Olearius eine Beschreibung lieferte. *) Kolbs Gedicht erschien unter folgendem Titel: Ein sehr schöner Lob- | spruch, des Herrlichen Einzugs, in | die Newe Schulen, zu Hall inn Sachsen, | Welche ein Erbar, Achtbar Wohveiser | Rath daselbst, nun ins Barfusser | Kloster gelegt. | Sanipt einer feinen Histo- rien, Von | dem Künstreichen Mahler | Appelle. | In Reim verfast vnnd beschrieben, | Von Johanne Colbio. Gantz | lustig zu lesen. | (Bild in buuter Malerei, dar- stellend einen Lehrer, seine Schüler unterrichtend.) M. D. LXV. 11 Bl. 4°. - In Oldenburg. Die Widmung des Verfassers, „Johannes Kolbius Steinbachius Fraucus, Studiosus Witebergensis gilt „den Erbam, Acht- barn, Wolweisen Herrn, Bürgermeister vnd Rathsuerwanten, Sampt allen Einwonern der Loblichen vnd weitberümbten Stadt Hall in Sachssen". Das Gedicht beginnt mit einer Anrede: HOrt zu jhr HErren gros vnd klein Ihr werden Christen in gemein Hört zu jhr Frawen vnd jhr Man Was ich euch nun wil zeigen an Zu Hall der werden schönen Stadt Warhafftig sichs begeben hat. Von ungefähr zieht der Verfasser durch die Strassen ü bei- den Markt, da hört er einen schönen vierstimmigen Gesaug, der ihn in seinem Herzen erfreut, Dann ich der Musicken bin holdt Für Süber vnd für rotes Goldt Dann sieht er eine Menge Schüler in geordnetem Zuge auf dem Markte stehen und erfahrt von einem Bürger, dass heute die Einweihung der vom Rathe der Stadt errichteten neuen 1) Christliche Schul Freude, oder Schul -Jabel-Fest, wegen glück- licher Einführung vnd hundertjähriger Erhaltung des Gymnasii oder der Stadtschulen zu Hall in Sachsen, auf E. E. Uochweisen Raths daselbst Verordnung hochfeyerlich gehalten den 17. Augusti im Jahre Christi 1665 vnd auf Begehren kfirtzlich beschrieben vnd zusammengetragen durch Godofredum Olearium, ü. Superintendenten! etc. daselbst, Rudol- stadt A. 1666. 4°. 184 Uolstein, Hans Kolb. Schule stattfände. Der gnädige Herr Erzbischof habe zu Gottes Ehre das Barf'üsserkloster hergegeben: Das sült Man brauchen zu der Lehr Wie es zuerst gestifftet wehr Zu nutz der Stadt vnd der Gemein Das man die kleine Kinderlein Solt informiren an dem orth Mit freyeu Künsten vnd Gottes Wort Welches vertunckelt durch die list Des Bapst zu Rom des Antichrist Der ist der recht verdampte Son Die rote Braut zu Babylon. Vor dem Kathhause singen die Schüler „Allein zu Dir, Herr Jesu Christ", dann bewegt sich der Zug der Schüler mit den acht Lehrern, den Stadtgeistlichen, dem Stadtrath und vielen angesehenen Bürgern nach der neuen Schule. Hier hält nach dem Gesänge des Psalm „Wo der Herr nicht das Haus baut" der Rector Mag. Michael Jering die Einweihungsrede, dem der Syndicus Dr. Kilian Goldstein mit einem Mahnwort an Lehrer und Schüler folgt. Kolb bemerkt, dass er selbst die Stadtschule zu Halle unter dem gelehrten Rector M. Emericus Sylvius besucht und daselbst sein „Fundament" gelegt habe. Nach G. Ludovicis Schulhistorie II, 56 führte OD ' der genannte Sylvius zweimal das Rectorat, zuerst 1541 — 1545, nachher etwa von 1548 — 1551. Nun bezog Kolb die Univer- sität Wittenberg im Sommer 1550, wo er sich am 14. Juli als „Johannes Kolbius Steinbachensis" in das Album einzeich- nete (Förstemann, Alb. Acad. Viteb. S. 258). Nehmen wir an, dass Kolb als zehnjähriger Knabe etwa 1542 die Hallische Schule zu besuchen anfieng, so hatte er 1565, als er sein Ge- dicht schrieb, ein Alter von 33 Jahren, und wäre demnach 1532 geboren. Vermuthlich studierte auch sein Vater in Wit- tenberg. Wir finden unter den studierenden des Jahres 1521 „Joannes Kolb de Schenpach Aysteten. dioc." (Förstemann a. a. 0. S. 104). Danach gehörte Steinbach zur Dioecese Eichstädt. An die Beschreibung der Einwaihungsfeier schliesst nun Kolb noch einen Meistergesang von dem Maler Apelles. Er führt denselben mit der Mahnung an die Eltern ein, dass sie ihre Kinder die freien Künste lehren möchten, denn diese Digitized by Google Holstein, llamt Kolb. 185 helfen aus dem Unglück auf und bringen wieder Geld und Ruhm. Als Beispiel führt er den Apelles, den berühmten Maler des Alterthums, den Zeitgenossen Alexanders des Grossen, an. Dieser beabsichtigte einst eine Heise nach Aegypten zu unternehmen. Zu diesem Zwecke kaufte er ein Schilf und nahm viel Geld mit. Aber das Schiß' strandete, er wurde an eine ihm unbekannte Küste getrieben, und Räuber nahmen ihm all sein Geld und seine Kleidung. Nur ein schlechtes Gewaud, „ein Haderlump voll Leuse", gaben sie ihm. Apelles wandert nun in dem unbekannten Lande — es ist aber Aegyp- ten, wohin er gewollt — in der Absicht weiter, sich durch die Malerkunst sein verlornes Geld wieder zu verschaffen. Er kehrt in einer grossen Stadt bei einem Wirthe ein. Indessen kam eiu Edelmann, in Sammt und Seide gekleidet, mit einer goldenen Kette angethan. Er thet stoltz prechtiglich geberu Als dar pflegen solch grosso HErrn Wie man sagt, gut macht vbermuth Vnd vbermuth thut selten gut. Er bemerkt den Apelles und, indem er sich für einen Abge- sandten des Königs von Aegypten ausgibt, ladet er ihn spöt- tischer Weise zur königlichen Tafel, die um fünf Uhr ihren Anfang nehme. Apelles geht auf den Seherz ein und, der Einladung folgend, begibt er sich zur bestimmten Zeit in das Schloss, aber er wird von den Wächtern abgewiesen. Ein spöttisch antwort sie jm gaben Sagten wiltu die Peitzschen habn Trolle dich bald du loser Tropff Du wirst geschnürt vmb deinen Kopff. Aber während sich Apelles auf die ihm gewordene königliche Einladung beruft, kommt ein höherer Schlossbeamter und fragt, wer ihn zur königlichen Tafel eingeladen habe. Apelles er- klärt, dass er den Herrn nicht nennen könne, dass er aber sein Bild malen wolle. Man bringt eine Tafel, auf die er nun des Edelmanns Bild so treu malt, dass der Schlossbeamte und die Wächter augenblicklich den obersten Hofschranzen in dem gemalten erkennen. Das Bild gelangt nun zum König. Dieser erkennt die hohe Kunstfertigkeit des im Bettlergewaude Digitized by Google I 186 Holstein, Hans Kolb. erschienenen Malers, fragt nach seinem Namen und erfahrt das Unglück des Apelles. Nachdem dieser mit besserer Klei- dung versehen, wird er zur Tafel gezogen. Dann beschäftigt ihn der König mit grossen Werken, ernennt ihn zum Hof- maler, und nach zwei Jahren kehrt Apelles, mit Ehren über- schüttet und mit Gütern reich ausgestattet, nach Griechen- land zurück. Kein schönem schmuck auff Erd man find, Dann zucht, Ehr, Kunst, vnd Tugeudt sind. Mit diesen Worten endet Kolb seinen Gesang vom Maler Apelles. Es folgen noch eine „Precatio", ein Gebet zu Christus um Schutz wider die Feinde der Kirche, Türken und Mosco- witer. Zum Schluss: Amen das werde alles war • Wünscht Hans Kolb der Christen schar Sonderlich eira Wolweisen Rath Zu Hall der weitberümbten Stad Bürgern, Ein wonern in gemein Den Grosgünstigen HErren sein. Qui cupit in lecto lucem vidisse diei, Vtilitas et honor raro sequentur eum. Weisheit vnd Kunst, Ist nicht vmb sunst. Wer sie gern het, Suchts nicht im Both. Es gehört darzu, Fleis vnd gros mühe. Vnd gnad von Gott, Dann hats nicht noth. Zuletzt folgt noch „Ein Schön kurtz Gebetlein, gestellet von Johan. Colbio". In diesem werden, wie in dem eben au- geführten Schluss, Halbverse zu zwei Hebungen verwendet, wie sie sonst nur in lyrischen Gedichten sich finden, ein Be- weis, dass der Verfasser mit der Handhabung des Verses vertraut war. Der Anfang lautet: 0 Gottes Sohn Dich ruff ich an HERR Jhesu Christ Der du hier bist Ans Creutz geschlan Genug gethan Wasch ab von mir Mein Sündt, Ich dir Gesündiget han HERR nim mich an u. s. w. Digitized by Google Holstein, Hans Kolb. 187 Wenn auch der Werth der dichterischen Leistungen des „Studiosus" Kolb nur ein geringer ist, so verdienen sie doch die Beachtung des Literarhistorikers. Uebrigens nennt Gocdeke, Grundriss I, 185, 88, Hans Kolb aus Steinbach als Bearbeiter des in Kolers Hausgesängen 1, 23 und in den Nürnberger 760 Psalmen S. 112 abgedruckten Psalm 23: „Der herr ist mein getreuer hirt", und führt a, a. 0. I, 281, 33 ein Spruchgedicht an, dessen Anfang lautet: Maß vnd auch weyß so nent man mich Reden vnd schweygen leren ich Wer mich in züchten üben thut Der wirdt vor schaden wol behut. Am Ende: Johannes Kolb hat mich für war Sein kinderu zu eim newen Jar In seiner schul zu eern bedacht Von dem lateyn zu teutsch gemacht. Nürnb. J. Gutkn. 8 Bl. 8. In Berlin. Vgl. Allg. Deutsche Biographie XV T, 460. Aus dem Schlüsse des Gedichtes folgt, dass der Verfasser einer Schule vorstand. » Digitized by Google Ungedruckte Briefe Wielands an Isaak lseliii. Mitgetheilt von Jakob Kelleu. Die folgenden, bisher nicht veröffentlichten Wieland-Briefe stammen aus dem Nachlass des seiner Zeit in Deutschland, Oesterreich und Frankreich als „Menschenfreund" hochberühm- ten Basler Rathsschreibers Isaak Iselin (1728—1782), dessen Urenkel mir die Publication mit dankenswerther Zuvorkom- menheit gestattet hat. Nicht bloss auf das Bild des Mannes, der sie geschrieben, fallen durch sie einige neue Lichter, son- dern auch auf die ehrwürdige Gestalt des Adressaten selber, den man in der neueren Zeit ausserhalb seiner Vaterstadt in völlig unberechtigter Weise litterargeschichtlich zu vernach- lässigen pflegt. Wenn auch Hettner, Mörikofer, Mias- kowski, E. Meyer u. a. in seiner socialpolitischen und paeda- gogischen Bedeutung ihn der Hauptsache nach gewürdigt haben, so fehlt doch bis zur Stunde eine annähernd erschöpfende Darlegung dessen, was er gewollt und was er geleistet. Die Briefe an ihn sind Denkmäler und Wegweiser dafür. Alle seine Schriften hat nicht einmal der fleissige und gewissen- hafte Miaskowski in Basel mehr zu Gesicht bekommen können. — Dass die folgende Sammlung der Wieland-Briefe mit Ausnahme der sofort auffälligen Lücke vollständig sei, möchte ich nicht behaupten: der Verkehr der beiden ist offen- bar ein unstätiger gewesen, und durch diese Thatsache wird die Beantwortung der Frage schwer. Jedesfalls umfasst die Sammlung alles, was der Nachlass noch bietet. Ich habe keinen Anstand genommen, auch drei Entwürfe von Iselins brieflichen Aut Worten an Wieland betreffenden Ortes zum Ab- druck zu bringen: dieselben lassen sich ungesucht unter der Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. 189 Ueberschrift der ganzen Mittheilung einreihen. Orthographie und Interpunction der letzteren sfnd etwa so verbessert, wie wenn eigentliche Iselin-Briefe vorgelegen hatten. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass bei den Stücken aus Wielands Feder nichts weggelassen und nichts hinzugefügt worden ist. 1. Zürich d. 8. October 1758. Woblgebohrner Hochzuehrender Herr und Gönner Ich darf mir selbst nicht erlauben, Ihnen so stark und lebhaft als meine Empfindungen sind, zu sagen wie sehr ich in Ihuen den Freund des Menschlichen Geschlechts, den Liebhaber der Tugend, den Patrioten und den Günstling der Musen bewnndre und liebe. Sie haben in Ihren Briefen an meine Freunde1) allzu vortheilhaft von mir gesprochen und allzu günstige Gesinnungen für mich ge- zeigt, als daß ich wenn ich meinem Hertzen in Ihrem Lobe den Lauf ließe, das Ansehen vermeiden könnte, als ob ich Ihre Gesin- nungen für mich durch ahnliche bezahlen und Lob mit Lob erwie- dern wollte. Sie sind über alle eitle Ruhmsucht hinweggesetzt, und ich hoffe ich bin es auch. Ich wünsche mir die Liebe der Tugend- haften und ich schätze mich am glüklichsten, wenn ich ihnen die meinige dadurch zeigen kan, daß ich ihnen nacheifere, und soviel an mir ist, ihre edeln Absichten und Unternehmungen zu befördern trachte. Gleiche Neigungen und Absichten haben lange ehe wir von einander wußten, unsre sympathetischen ') Seelen vereiniget. Sie können sich sch wehrlich vorstellen wie erstaunt ich war als ich in den Patriotischen Traumen3) das erstemal meine eigensten Ideen und einen guten Theil von solchen die ich noch niemals der Welt bekannt zu machen Gelegenheit gehabt, fand. Diese Konformität unsers Geistes und Hertzens würde uns allem Ansehen nach auf eine sehr ähnliche Art handeln gemacht haben, wenn wir auch in ganz verschiednen Zeiten oder in weit entfernten Ländern gelebt hätten. Itzt aber da uns die Vorsehung so nahe zusammengebracht hat, ist es billig, und wird es mir höchst angeuehm seyn, daß wir mit zu- sammengesetzten Kräften alles Gute, so wir können, befördern weil es nicht in unsrer Macht steht, soviel Gutes zu thun als wir wollen. Unser ehrwürdiger Freund, Hr. Bodmer hat mir von einem Project gesagt, welches Sie ausgeführt zu sehen wünschen, und wozu Sie durch den Patriotischen Traum eines Eidgenoßen veranlaßet worden.*) Ew. Hochedelgebohren sind so gütig gewesen dabei an mich zu denken und mich geschikt zu halten, zu dessen Ausführung etwas beyzutragen. Ich kan Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre mir unendlich scbäzbare Achtung nicht anders zeigen, als daß ich mich Digitized by Google 190 Briefe Wielands an Iselin, niitgetheilt von Jak. Keller. erbiete, zu Realisierung dieses Projects alles zu thun was ich kan, ob ich gleich empfinde, daß dieses sehr wenig ist. Finden sich noch zwey oder drey Mitarbeiter, welche in aller Absicht sich zu mir schicken, und finden sich junge Leute, die sich zu Tugendhaften Menschen und wahren Patrioten wollen bilden lassen, So solleu ihnen meine Dienste gewidmet seyn. Ew. Wohlgeb. kennen mein Project einer Academie5); ich sende Ihnen hier auch meine Gedanken von dem Vorschlag eines Eidgenoßschen Seminarii. Was weiter zu thun sey, darüber erwarte ich Ihre Befehle. Ich nehme die Freyheit, Ihnen eineu Auszug aus einem Briefe des Herrn Ebert in Braunschweig ß) an mich, zu senden. Es ist angenehm rühm würdigen Leuten zu gefallen. Erlauben Sie auch, wehrtester Herr, daß ich Ihrer Gewogenheit und Protection die Frau Ackermann7) empfehle, deren Talente und gute Eigenschaften sie eines bessern Loses würdig machen, als ihr zugefallen ist. Sie ist mit allen Talenten fürs Theater aus Noth und ungern eine Ac- trice. Ich habe ihr meine Achtung nicht besser zeigen können, als dadurch daß ich ihr die Role der Johanna Gray zu spielen ge- geben, der sie soviel Ehre macht, als sie von ihr immer erhalten kan.8) Ich habe die Ehre mit der vollkommensten Hochachtung und Er- gebenheit zu seyn, Ew. Wohlgebohren unterthäniger und gehorsamster Diener [Adresse:] ä Monsieur Wieland. Monsieur Iselin Secretaire de I'illustre Republique de *Bale a Bäle. 2. Zürich den 9. Nov. 1758. Hochedelgebohrner Hochzuverehrender Herr, Herr Prof. Bodmer hat die Gütigkeit gehabt, mir ein Schreiben von Ew. Hochedelg. zu communicieren, in welchem der Project noch weiter ausgeführt ist, der den Inhalt des Schreibens ausmachet, wo- mit Sie mich den 13. Octob. beehret haben. Da Ihnen Herr Bodmer seine Gedanken *) ohuezweifel selbst gemeldet haben wird, so werde ich bloß für mich selbst reden. Für mich liegt darinn keine Schwierig- keit, daß dieser neue Project von dem Plan des vorgeschlagnen GemeinEidgenössiscben Instituti in etwas abweicht, nnd die durch das letztere intentionierte Hauptabsicht nicht sonderlich zu erreichen scheint. Denn es wird vorausgesetzt, man müsse im kleinen anfangen Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. 191 und gewissermaßen diejenigen erst erziehen, welche künftig die Be- förderer und Ausfuhrer des Großen Instituti seyn sollen. Wenn aber richtig wäre, daß der von HErrn Baltas. publicierte Project würklich unüberwindliche Schwierigkeiten hätte, So könnte auch das kleinere Prryat-Institutum nicht als eiu Mittel zu künftiger Aus- führung des grossem angesehen werden, und fiele also würklich der beträchtlichste Nutzen desselben weg. Diesem zufolge wäre unser Privat- Institutum nicht viel mehr als eine jede andre gute Privat- schule, worinn die Jugend zu alleu ihr conveuablen Studien und Übungen angehalten wird ; und da es weder den Evangelischen noch den Catholicken an dergleichen oder doch ähnlichen Anstalten fehlt, so scheint es nicht wahrscheinlich daß man auf unser Project Re- flexion machen würde. Die ganz entsetzliche Nachlässigkeit die man in Absicht auf die Erziehung zeigt, und die fast durchgängig ein- gewurzelte Persuasion, daß ein Seckel voll Louisdor mehr Realität habe als alle Wissenschaften zusammengenommen, bestärkt mich in dieser verdrieslichen Vermuthung. So wie ich unsere Leute kenne, werden wir nicht Sechs Familien finden, in denen man auf die Edu- cation eines Sohnes, ich will nicht sagen 85 Ducaten, sondern nur 50 jährlich verwenden würde. Tanti Sajuctitia non emitur. Und wenn sich ja außerhalb Zürich, einige wenige finden sollten, die sich eine solche Summe nicht reuen Hessen, So ist eine Frage ob sie nicht lieber davor einen eignen geschikten Privatlehrer halteu werden, dessen Sorge und Fleiß ihre Kinder nicht mit andern theilen müssen. Indessen möchte die Sache noch eher angehen, wenn bey unserm Instituto wenigstens die Lehrer nicht besoldet werden müsten, welches die Kosten merklich verminderte. Allein da ist die Schwierig- keit, daß mir an meinem Theil meine Umstände solches schlechterdings unmöglich machen. Die Uneigennützigkeit ist mir ebenso natürlich als das Athemholen, wie alle wissen, die mit mir jemals zu thun ge- habt. Aber ich kan nicht wie der Paradiesvogel deben. Es ist übrigens sehr zu besorgen, wenn das von Ew. Ilochedelg. entworfne Project publiciert würde, So würde die Verschweigung der Nahmen der Entreprenneurs nicht verhindern daß man nicht das Etablisse ment des Lehrers und die ihm zugedachten 100 Ducaten für die HauptSache und also den ganzen Vorschlag als ein moyen de par- venir ansehen würde, welches unsrer Absicht ganz zu wieder ließe. Dieser Scrupel würde wegfallen, wenn es mir eben so möglich wäre, als es mir angenehm seyn würde, die edle Großmuth nachzuahmen, mit welcher Ew. Hochedelg. Selbst sich erboten haben, an der In- struction theil zu nehmen. Alles was ich thun könnte, wäre mich mit einer weitgeringem Summe zu begnügen, als Sie mir zuge- dacht haben. Alle diese Betrachtungen machen mich glauben, daß es beßer wäre, wenn man diesen Project erst durch Briefe an Freunde in Digitized by Google 192 Briefe Wielanda an Iselin, mitgetbcilt von Jak. Keller. verschiednen Cantons golaugeu ließe und durch ihre Beyhülfe die nöthige Anzahl von Subscribenten zu bekommen trachtete, als wenn man einen Plan drucken ließe, der allem Ansehen nach ohne Nutzen wäre. Ich überlaße aber alles dem Gutachten Ew. Hochedelgeb., welche nähere Gelegenheit gehabt, die Denkart Ihrer Compatrioten kennen zu lernen. Ich habe die Ehre mit der vollkommensten Hochachtung zu seyn, Ew. Hochedelgebohren gehorsamster und ergebenster Diener Wieland. 3. Zürich den 4. Januar 1759. Hochwohlgebohrner Herr, Theuerster Freund und Gönner, ich würde dero höchst verbindliches Schreiben1) nicht so lange unbeantwortet gelaßen haben, wenn ich nicht vorher die Entwik- lung etlicher Umstände hätte erwarten wollen, die, wenn sie anders ausgefallen wäre, einige Veränderung in meiner Situation gemacht hätte.2) Ich bin von der liebreichen Vorsorge, die Sie für mich äussern, und von dero mir so schmeichelhaften Wunsche, mich in Ihre Vater- stadt zu ziehen, äußerst gerührt. Da ich Zürich veranlassen (sie) muß, Zürich, wo ich meine ersten und besten Freunde gefunden, wo ich gerne, wenn es nur möglich wäre, so lange bliebe, biß ent- weder alle die ich liebe, mir, oder ich ihnen allen, die Augeu zu- gedrükt hätte, — da ich eine nur sehr dunkle Aussicht in die vor mir liegende Zukunft habe, und auf jeden Wink der Vorsicht be- gierig acht gebe, So muß es mir nothwendig ungemein erfreulich seyu, daß ich m Basel einen edelmiithigen Freund habe, der mir in dieser Stadt eine Art von Asyle zu finden Hofnung macht Der angebohrne Zug zu meinem kleinen uud unscheinbaren Vaterland, und die Liebe zu den besten Eltern, deren annäherndes Alter zu versüssen, raeine angenehmste Pflicht und mein lebhaftester Wunsch ist, machte mir zwar den Auffenthalt in Biberach vor allen andern Orten in der Welt vorzüglich. Allein es ist sehr ungewiß ob ich überall ein etablissement daselbst erhalten kau, und wenn ich eines erhalten hätte, ob ich nicht in einer ganz zerrütteten, halb- papistischen kleinen Reichsstadt in weniger Zeit das Opfer eines von niemand unterstüzten Eifers werden würde, den ich doch schwehr- lich zurükhalten könte. Diese Umstände machen daß es ein grosses Glük für mich wäre, wenn ich auf eine andre Art und durch die anständige Arbeit etlicher Jahre, und sollten es gleich 10 oder 15 seyn, mich in den Staud setzen könnte, mein übriges Leben, wofern Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. 193 ich länger leben soll, in einer freyen und philosophischen retraite zuzubringen. Ew. Hochwohlgeb. würden mich ausnehmend verpflichten, wenn Sie mir eine bestimmte umständlichere Eröfnung3) darüber geben wollten, wie Sie glaubten, daß ich in Basel, Ihrem letzten Vorschlag nach, leben könnte. Das nützliche Vorgnügen, mit Ihnen an dem gleichen Ort zu seyn, wäre allezeit einer der stärksten Reitze, die mich dahin zögen. Wenn meine Wünsche und die Wünsche aller Redlichen, welche mit Ihrer Person oder Ihren Schriften bekannt sind, erfüllt werden, So werden Sie eine lange Reyhen von Jahren in dieser Welt, wel- cher Sie so nützlich sind, glüklich seyn, und es endlich nur auf- hören zu seyn, um in einor bessern Welt noch glüklichor zu werden. Ich verharre mit dankvollester Ergebenheit Ew. Hochwolgebohren, uuterthliniger und verbundenster Diener [Adresse:] a Monsieur Wieland. Monsieur lselin Secretaire d'Etat de la Repub- lique de Btile, et franche. a Bäle. 4. Hochwolgobohrner Herr, Theurester Freund und Gönner, Die immer stärkern Proben Ihrer Freundschaft für mich, welche ich wohl in mehr als einer Bedeutung unverdient nennen mag, machen mich immer uufUhiger Ihnen auszudrücken, wie Sehr ich mich Ihnen für So liebreiche und großmüthige Gesinnungen verbun- den achte. Nichts würde mich mehr betrübeu als wenn ich durch meine freye Eröfnung meines Hertzens nur den Schatten des Ge- dankens, als ob ich nicht den gantzen Werth Ihrer Fürsorge für mich empfände, erwecken würde. Doch ich beleidige das Groß- müthigste Herz durch eine solche Besorgnis! Soll ich es Ihnen also sagen? Mein erster Gedanke nach dem ich Ihren gütigen Brief gelesen hatte, war dieser daß ich Sie be- daurte, genöthiget zu seyn in B. zu leben, unter Leuten, die allem Ansehen nach sehr schlecht verdienen einen solchen Mitbürger zu haben.1) Was für einen Begriff geben Sie mir, (ohne wie es scheint die Absicht zu haben,) von ihren Landesleuten, wenn ich mich bey selbigen nicht öffentlich rühmen darf daß Sie mein Freund, ja wenn es mir hinderlich ist, wenn Sie nur Mine machen, daß Sie es seyen? Welch ein Glück könnte mir den Auffenthalt in einer solchen Stadt reitzend machen? ARCniv p. Litt.-Obrch. XIII. 13 Digitized by Google 194 Briefe Wielands an Isclin, mitgetheilt von Jak. Keller. Ausser dem scheint es daß ich die Ehre habe Ihren Gelehrten So wohl als Ihren Staatsgliedern So bekannt zu seyn, daß es eine Menge Umstände, Zubereitungen, Empfehlungsschreiben, ja so gar die Empfehlung eines Kaufmanns braucht, um mir endlich die Er- laubnis zu verschaffen, in Basel Luft und [sicj zu athmen, und Ihre jungen Bürger Weisheit zu lehren. Es brauchte kaum halbsoviel mich völlig zu Überzeugen, daß ich von denenjenigen nicht übel be- richtet worden, welche mir den Esprit Ihrer Stadt beschrieben haben. Vielleicht hat mich das Schiksal noch nicht genug gedemüthiget. Aber ich kan mich itzt noch nicht zwingen, daß es mir vorkommt eine Zuflucht in B. unter Solchen Bedingungen könne nur alsdann gesucht werden, wenn man durch ein hartnäkiges Unglttk ge- nöthiget ist, einen verzweiffelten Entschluß zu uehraen. Zu allem diesem komt noch daß eben die Umstünde, welche mich noch immer abgehalten haben, mich um eine academische Stelle in Deutschland zu bewerben, mir in B. zuwieder wären. Die Anhänglichkeit von Studenten, die Tadelsucht und die Mißgunst der Halbgelehrten, die Schicanen, die man von ihnen erwarten müßte, und wozu man ihnen auch wider seinen Willen, beständig Anlaß giebt, weil ihnen alles Aulaß giebt, — dieses allein ist schon genug mich zu vermögen, eher auf alles andere zu denken, als auf etwas das einem acade- mischen Lehrer gleicht.2) Hier in Zürich hatte ich nicht ein eintziges von den Desagremens, deren ich erwähnt habe. Als ich hieher kam, wurde ich bey verschiedenen der vornehmsten StandsGliedern bestens aufgeuomen und gar bald mit einer grössern Achtung beehrt als ich mir zu verdienen schmeichle. Die Freundschaft eines Br. u: B. war mir vielmehr förderlich als nachtheilig. Das Amt eines Privatlehrers von 3 oder 4 jungen Leuten aus guten Familien hat anstatt mich verächtlich zu machen, mir in vielen ansehnlichen Familien und bey Personen, denen ich sonst unbekannt geblieben wäre, einen Zutritt verschafft, wo ich nicht höflicher könnte tractiert werden, wenn ich schon Adel und Reichthum als Titel Hochachtung zu erwarten, auf- zuweisen hätte. Kurz, ein Fremder kan an keinem Orte mehr Achtung und Wohlwollen und politesse genießen, als ich in Zürich von allen die ich kenne, empfangen habe. Und ich gestehe es daß ich ohne die äusserste Noth eine so glükliche Situation nicht mit dem humilianten Zustand vertauschen möchte, von einer Ringmauer voll reicher Kaufleute, üppiger Stutzer und geblähter Pedanten de haut en bas tractiert zu werden. Vergeben Sie, mein theuerster Herr und Freund daß ich mit einer Freymüthigkeit, die wo sie nicht unhöflich ist, doch sehr nahe an die Unhöflichkeit grenzt, von einer Stadt zu sprechen [wage], von der mir die Patr. Tr. und andere An- zeigen keinen vortheilhaftern Begriff gemacht haben. Ich zweiffle nicht daß es Leute von Verdiensten in genügsamer Anzahl daselbst habe; aber nach dorn was ich aus dero Vorsehlägen und Insinuationen Digitized by Google Briefe Wielands an Iaelin, mitgetheilt von Jak. Keller. 195 schließe, ist dennoch der Unterschied zwischen B. u. Z. weit größer als es seyn sollte. Je mehr Ähnlichkeit der Esprit einer Stadt mit. dem Esprit von Amsterdam hat, desto weniger kan der Wunsch in mir aufsteigen, mich dahin zu begehen, und für einen Ankömling aus dem Monde angesehen zu werden. Das einzige waB alle diese desagremens würklich überwäge, würe das Glück bey Ihnen zu seyn! Aber nach dem was Sie mir andeuten, würde es noch zweiffelhaft seyn, ob dieses mir unschäz- bare Glück nicht sehr verbittert und der Genuß desselben auf man- cherlei Art gehemmet würde. So wenig mir indessen die vorgeschlagenen Bedingungen ge- fallen, (welche gewißlich die besten sind, die Sie thunlich fan- den) So Sehr bin ich Ihnen dafür verpflichtet, daß Sio mich a tonte condition bey Sich zu haben wünschen, und Sich auf eine so edle Art erbieten mir Dienste zu leisten. In beidem bewundre ich Ihren großmüthigen Character, und das erste sehe ich besonders als den stärksten Beweis von der Lebhaftigkeit Ihrer Freundschaft gegen mich an. Lehren Sie mich, wie ich selbiger immer besser würdig werden könne, und hören Sie nicht auf mit derselben zu beehren, Ew. Hochwolgebohren gehorsamsten und verbundensten Zürich den 248t*D Jenners Diener 1759. Wieland. 5. Iselin an Wieland (Entwurf). Hochzuehrender Herr Teuerster Freund Sie nöthigen mich durch Ihr letztes Schreiben mich gegen Sie zu rechtfertigen. Ich habe nicht, um mich Ihrer Außdrückung zu bedienen Sie a toute condition bey uns haben wollen. Ich habe noch vil minder geglaubet, Ihnen etwas vorzuschlagen das Ihrer Philo- sophie oder Ihrer Denkungsart unwürdig würe. Ich hoffte durch meinen Entwurf meinem Vaterlande und Ihnen nützlich zu sevn. Ich bin weit entfernet zu so löblichen Absichten unanständige Mittel zu gebrauchen. Wenn ich ihnen angerahten habe sich mit Empfeh- lungsschreiben hieher zu begeben so war es nicht weil 8ie hier nicht wol bekant sind. Es war weil diejenigen die uns in der Welt am meisten Dienste leisten, es selten im Ansehen der Verdienste tuhn die Sie an uns zu finden glauben. Die Empfehlung eines Freüudes, die Begirde demselben Dienste zu leisten oder zu zeigen, das mau im Stande ist Dienste zu leisten und Hundert andre meistens eitle Triebrüder sind es insgemein was dieselben zu unserem Vorteile neiget. Sich die Eitelkeit und die Leidenschaften der Menschen zu Nuze zu machen um dieselben oder die Ihrigen Weisheit zu lehren 13* Digitized by Google 190 Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. und also zu beßern hat die Philosofie niemals Ihrer unwürdig ge- achtet. Die Erapfehluug eines Kaufmanns von dem Charakter Herrn Director Schulteißen würde niemals keinen Weisen entehren. Ich habe nie daran gedacht sie zu einem Verläugner meiner Freundschaft zu machen. Da ich aber geglaubet es sey für Ihre und meine Absichten nöhtig daß Sie bey allen meinen Mitbürgeren gleich beliebt seyen, so war mein Endzweck nur denenienigeu die gern alles niederreißen wollen, was andre bauen, und solche Leüte gibt es in Zürich und Biberach wie in Basel, allen Anlas zu benehmen, den sie wider unsre guten Absichten aus dem Grunde hätten ergreiffen können, das ich der einige Ursächer Ihrer Herkunft sey. Ich glaube nicht das weder Sie noch ich jemals an einen Ort in der Welt kommen werden da es nicht eine menge Leüte geben wird, die sich ein Ver- gnügen machen werden, unsre Entwürfe und Absichten zu zernichten. Wo ist der gebohren, welcher allen wohl gefält; Und woraus besteht die Welt? Meistenteils aus Dohren. Sie irren sich wenn Sie sich vorstellen, das Sie nicht von vielen und auch von den Angesehnsten Leüten allhier mit einer so beson- deren Achtung und Höflichkeit würden aufgenommen worden seyn, als in Zürich. Es gibt mitten in unserem, obgleich sehr kleinen, Amsterdam, noch Leüte die die Verdienste zu erkennen und zu schetzen wissen und unsere Gelehrte sind nicht so aufgeblühete Pe- danten das sie nicht den Wert anderer geschickter Leüte zu be- stimmen, und derselben Vortreffliche Eigenschafften zu lieben fähig wären. Bey der großen Verderbnus under deren wir seüfzen ist doch noch nicht so sehr alles Gute von uns verbauet, das ein ver- stündiger Mann sich nicht änderst als durch die äußerste Demütigung bewegen laßen könne bey uns zu wohnen. Ich bedaure sehr daß mir eine Hofnung fehl geschlagen, die mir in vilen Gesichtspunkten eine so schöne Aussicht versprach. Ich wünsche Ihnen von Hertzen ein Ihnen würdiges Glücke und überlaße was ich hier die Freyheit ge- nommen Ihnen aufrichtig und mit reiner freundschaftlicher Vertrau- lichkeit zu schreiben Ihren Betrachtungen. Ich habe die Ehre mit Hochachtungsvoller Ergebenheit zu seyn Meines Hochzuehrenden Herren und Basel den 9. Hönnings Teüresten Fretindes 1759. gehorsammer Diener [Isaak Iselin] 6. Hochedelgebohrner Herr Hochgeschäztester Herr und Freund Ich bin ganz beschämt daß ich es so lange habe anstehen lassen, Ihnen von der Veränderung Nachricht zu geben, die in meinen Digitized by Briefe Wielands an Iselin, niitgetheilt von Jak. Keller. 107 Umständen vorgefallen ist. Vielleicht sind Sie schon durch andere Freunde davon berichtet worden *), und bleibt mir also nichts übrig als zu melden daß der Tag meiner Abreise der Eilfte dieses Monats seyn wird. Es wurden mir zwey Vorschlüge gethan; der letzte den ich annahm, war von Herrn Landvogt Sinn er von Interlacken. Ich werde seine beyden Knaben nebst zween andern die ich zu Bern selbst auslesen soll, unterweisen und so lange biß ich eine andre anständige pension finde, wo ich für mich selbst ungezwungen leben kan, mich in seinem Hause aufhalten. Die Bedingungen waren so anständig, und der Character den man mir von diesem Herrn Sinner machte, so schön, daß ich kein Bedenken fand, einen Vorschlag an- zunehmen2), der mir Anlaß gab, mich einige Zeit in Bern aufzu- halten. Ob dieser Aufenthalt dazu dienen werde, mich dem eintzigen Glück, welches ich ambitioniere, einer freyen und sorgenlosen re- traite für die Zukunft, näher zu bringen, wird die Zeit lehren müssen. Es ist mir ungemein erfreulich, daß ich länger in einem Lande bleiben kan, wo Sie, raein theuerster Herr und Freund, leben, und wo ich mir immer mit der Hofnung, Sie persönlich zu sehen, Bchmei- cheln kan. In Ermanglung dieses Vergnügens habe ich dasjenige mit Ihrem Geiste zu conversieren und hoffe es noch öfter zu habeu, wenn die Geschäfte womit Sie überhäufft 6ind, Ihnen, wie ich wünsche, ferner erlauben die Welt zu belehren und zu bessern. Ich habe mich durch meine Nachläßigkeit der Ehre Ihres Brief- wechsels unwürdig gemacht. Aber erlauben Sie mir Sie zu ver- sichern daß niemand Sie mehr bewundert und liebet als ich, und daß einer meiner eifrigsten Wünsche ist, Ihres Bey falls und Ihrer Freundschaft immer würdiger zu werden. Sie Sind So gütig gewesen3) mich auf die verbindlichste und liebreichste Art zu Sich einzuladen, da Sie aus einem Briefe des Herrn Dir. Schulthess schlössen daß ich nach Basel kommen würde. Hätte ich dem Triebe meines Herzens folgen können, So wäre ich unverzüglich zu Ihnen geflogen. Aber es war nicht einzurichten. Ich habe nur nicht einmal Zeit gehabt, meine Freunde in Winter- thur zu besuchen, die so nahe in Zürich leben. Die Glük- seligkeit alle seine wahren Freunde allezeit bey Sich zu haben, wird ein Theil des himlischen Lebens seyn, auf welches wir hoffen. Sie wären für das gegenwärtige Leben zu groß. Wenn Sie Zeit finden über den Cyrus, wovön ich Ihnen die 5 ersten Gesänge sende, einige Anmerkungen zu machen, die mir dieneten ihn näher zu derjenigen Vollkommenheit zu bringen, die ich ihm zu geben wünschte, So wür- den Sie mich unendlich verpflichten.4) Leben Sie gesund und glüklich, mein theuerster Herr und Freund! Die lebhafto Empfindung die ich von Ihren Verdiensten und von Ihrem vortreflichen Caractcr habe, macht Ihre Gesundheit Digitized by Google 198 Briefe Wielands an Iselin, mitgeÜieilt von Jak. Keller. zum Gegenstand meiner feurigsten Wünsche. Alles übrige was zur Glükseligkeit gehört wird Ihnen Ihre Tugend geben! Möchte ich die Fortsetzung Ihrer Gewogenheit noch durch etwas mehrers verdienen können, als durch die aufrichtige Hochachtung und Er- gebenheit, womit ich die Ehre habe zu seyn Ew. HochEdelgebohren unterthäniger und gehorsamster Diener Wieland. 7. Monsieur et tres honore Patron, «Tai recu de Mr Fellenberg1) Vagreable present, dont Vous avös bien voulü mo regaler2), et qui comme une marque de Votre gracieux souvenir a un double prix ä mes yeux. Je felicite, Mon- sieur, Votre patrie et le Public de cc nouveau fruit de Vos loisirs, et je remercie le Ciel de tout mon coeur, de ce qu'il Vous a con- servc une vie que Vous emploies si noblement ä avancer la Verite et le bonheur des Humains. J'ai 6t6 charmö de Vous voir au sein de cette belle rotraite, dont Vous uous donnes un tableau si inte- ressant, Vous occuper du Sujet le plus beau, le plus sublime et le plus important, sur lequel l'Esprit humain puisse s'exercer; et ma satisfaction etoit d'autant plus grande, que jy avois un interet parti- culier, ra'ayant proposc depuis quelque tems de m'essayer sur le Probleme de la meilleure legislation3), problerae dont la Solution semble au dessus de la portee de l'Esprit humain, mais qui me paroit susceptible d'une espece d'approximation, qui rend la Solution la plus simple et la plus satisfaisante qu'il est possible de donner equiva- lente ä la veritable. Je prendrai la liberte, Monsieur, de Vous en donner une Esqnisse. Mon but dans 1' Essai en question sera de prou- ver, que Dieu est et peut seul etre le Legislateur des Etres intelli- gens, comme de la Nature en general; que les Legislateurs, qui crcent des Loix, en cr6ent des mauvaises, que tout est deja fait et qu'il ne leur reste autre chose, que d'interroger la Nature et d'etu- dier les Loix du Monarque de 1' Univers gravees en caracteres tres lisibles a tout etre qui pense, et derivees immediatement de la Con- stitution, de rEnchainement et des causes finales de tons les Etres; que tous les Legislateurs actuels et pretendus ont manque le vrai but par l'ignorance volontaire ou involontaire de ces loix; que l'Etat qu'ils donnent aux hommes est comme dit Montesquieu un Etat de guerre, et qu'au Heu de former des hommes, ils ne forment que toute sorte de Caricatures, de monströs moraux, et que ce n'est que dans l'Etat de la Nature, que l'homme est parfait et heureux, parceque ce n'est que dans cet Etat qu'il est homme; que la plupart des Philosoplies se sont tromp6s sur l'Etat de la Nature et que nous navons «le cet Etat de perfection qu'une connoissance tres ob- Digitized by Google Briefe Wielands au Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. 199 seure, ainsi que de la maniere dont nous en somro.es dcchus, et dont nous trouvons quelques traces presqu' eteintes chos quelques Nations sauvages aucieunes et modernes; que toutes nos Sciences, nos Arte, nos Vertus, ne sont que des foibles restes qui nous mon- treut ce que nos facultes auroient etö dans le Veritable Etat de la Nature; que Pythagore et Piaton unt ete les seuls parmi les Philo- sophes, qui ont devinu la Nature bumaine et le veritable Sisteme de l'Univers; que la Religion de Jesus-Christ est la meilleure et l'uni- que legislation qui convient a nioinme degrade; que la source de presque tous nos maux est dans la contradiction entre nos Loix, constitutions, moeurs et coutumes et le Chris tianisme, c'est ä dire la Nature, VEtat et la Destination des hommes; que tous les Carac- teres d'une legislation teile qu'on a cherche en vain jusqu'ici sc trouveroient reunis dans celle qui seroit foudde sur le Christianismc joiut a la saine philosophie; que par une teile legislation les horo- mes arriveroient rapideinent ä un degrc de perfection physique et inorale incroyable ä nous qui en comparaisou de ce que l'Homme pourroit etre, ne sommes ä peine ce que les Caffres sont en com- paraison des Grccs et des anciens Romains. Toutes ces propositions avec plusieurs autres relatives au Sujot seront prouvees d'une maniere tres claire, simple et appuyee autant quil est possible sur des faits et des observations qui meriteront P attention des Philosophes. Apres etre convenu, que la reforrae du Genre Humain sur le plan d'une Legislation chretienne ne sera l'ouvrage d'un Mörtel, je tacherai de faire voir, que cet Essai peut servir au moins, a donner la veritable raison de l'insuffisance de toutes nos Loix, Projets, Siste- mes de Morale et de Theologie et de tous nos etforts pour ameliorer la Societe Civile; a faire renoncer Messieurs les Philosophes, Deistes, Pantheistes, Epicureens et Stoiciens de notre tres philo60phique siecle, ä leurs vaines tentatives de remedier aux maux du Genre hu- main et a convaincrc les Gens de bien que l'Avancement du Chri- stianisme est tout ce qu'on peut faire de plus raisonnable pour le bien rGel de ce bas-nionde; ä quoi j'ajouterai quelques projets d'une execution tres Simple sur les moyens dont on se pourroit servir avec le plus de succes pour amener peu a peu les Horumes ä un Etat moinä miserable et plus approchant de celui des Etres rai- sonnables. Voila, mon eher Monsieur le plan de l'ouvrage que je me pro- pose d'executer des que l'edition de tous mes ouvrages poetiques, qui m'oecupe ä present, sera arrangee. Je coneois toute la difficulte de cette entreprise, aussi je ne me propose pas d'en donner qu'une esquisse qui servira peutelre a auimer des Horames plus habiles et plus savans que moi, a traiter cette raatiere avec toute l'etendue et avec cette profunde eruditiou, qu'elle demandc. Peutetre qu'avaut Digitized by Google 200 Briefe Wielands an Iselin, uiitgclbeilt von Jak. Keller. que d'entreprendre l'execution de cette ouvrage, je me mettrai ä coroposer quelques Essais preliniinairos sur diverses matieres rela- tives ä mon sujet qui servirout a le prcparer, et dans lesquels je m'etcndrai sur plusieurs articles, quo le plan de rouvrage principal no permettra que d'effleurer. Je serois charme si les idees que je viens de Vous proposer, Monsieur, se trouveroient dignes de Votre approbation, et je le serois d'avantage, si par vos sages reflexions vous daigneries les rectifier ou perfectioner en maniere quelquonque. Vous aves eu la bonte, Mon eher Monsieur, de demander a Mr. F. de mes nouvelles.4) II ne falloit pas les 9 semaines que j'ai pass6 dans la Maison de Mr. S. pour m'ouvrir les yeux sur une Situation qu'ou m'avoit present6e dans un trop beau jour lorsque j'etois encor a Zuric. Je ne me trouvai pas destine ä passer mon tems ä faire apprendre de petits enfans les premiers elemens de la grammaire; mille circonstances concouroient ä me rendre cette Situation insup- portable; le conseil de mes amis m'encouragea dans la resolution que j'avois prise de m'en affranehir; enfin je fis ma proposition a Mr. S. il gouta d'abord mes raisons, mais quelques jours apres il changea de langage et de conduite et se montra tres pique d un procedö que tous les gens iinpartials trouvoient tres naturel et tres raisonnable, principalement parceque je ne m'etois jamais engage a Mr. S. de rester quelque tems determine avec lui: Je souhaiterois de pouvoir vous mettre au fait de la moindre circonstance de toute eette affaire; mais je vois bien qu'il faudroit un volume pour cela, et c'est ce qui m'oblige de remettre ma justification aupres de Vous a quelque occasion, ou j'aurai le bonheur de Vous voir. En general je me trouve extremement deplace ä Berne, c'est un monde tout nouveau pour moi, mais ce monde n'a pas l'honneur de me plaire, et je ne trouve pas mauvais qu'il me rend la pareille. Je Vous avoue que sans quelques amis5) de coeur, qui me consolent de l'eloigue- ment de mes amis de Zuric et de Winthertour, j'aurois suecombe a la tristesso noire et accablaute, qui s'avoit empare de moi du pre- mier moment de mon Sejour ici et que ni le bon accueil qu'on nie fit de toute part, ni les plaisirs (|u'on se disputa a me procurer, ne puren t distraire que pour quelques momens. Depuis que j'ai quitte la maison de Mr. S. j'ai pris de nouveaux arrangemens , ou je suis beaueoup mieux a tous Egards. Je suis en pension cbes Mr. le Professeur Wilbelmirt), homme d'un merite distingue, je doune quelques heu res des lessons a quelques jeunes Hommes de bonne maison, et j'ai raison d'esperer de pouvoir passer ass6s agreable- ment le tems, que je sorai oblige de rester i^i. Au reste je n'ai pas besoin de Vous dire quo pendant ces 14 semaiues, que je suis ici, je u'ai pas eu ni assüs de toms ni asses de liberte et de tranquilito pour continuer mes ouvrages commences ou en entreprendre de nou- veaux; mais je me ra»sure sur l'biver proebain, qui me procurera, Digitized by Google Briefe Wielands an lsclin, mitgetheilt von Jak. Keller. 201 ä ce que j'espere, uue Situation approcbante de cette delicieuse soli- tude, ou j'ai passe au milieu de Zuric les plus belies annees de raa Vie. J'ai l'honneur d'etre avec un Kespect et un de- vouement parfait, Monsieur, Votre tres humble et tres Berne ce 2. Octobre 1759. obeissant Serviteur Wieland. ä Biberach, ce 9. 8bre 1764. La chere et precieuse marque de Votre Souvenir1), Monsieur et tres honore Patron, que vous aves bien voulü me donner il y a quelque tems par l'entrcmise de notre ami commun, Mr. Zimmer- mann, m'inspire asses de contiance en cette amitie que vous me conservez si graciousement et dont la continuation fera toujours une partie essentielle de mon bonheur, pour oser recourir ä Vous, le seul ami que j'ai a Baale, dans une occasion ou ce n'est que par le moyen dun ami dans Vos contrües que je pourrois rendre quelque service a un Seigneur d'un Merito distingue et auquel je suis attache par les Liens de la reeonnoissance autant que par estime personelle. Je preuds ce recours a Vous avec d'autant moins de timidite, que c'est peutetre Vous offrir l'occasion de rendre Service a votre tour ä quelqu'un que vous trouves digne de Votre protection. Vous ver- ri s Monsieur, par la Notte, que je prends la liberte de joindre, qu'il s'agit d'un Medecin pour la personne d'un Seigneur allemand. Je comprend tres bien que la Recherche de quelque Esculape, tel qn on le souhaite, n'est pas une commission convenable ä un Homme d'Etat; aussi je suis bien eloigne de presumer de Vous en charger directe- ment; tout ce que j'ose Vous prier c'est de communiquer cette Notto a quelque habile Medecin de Vos amis, et de Vous servir de Votre credit aupres de Lui, pour le disposer a chercher et a me proposer s'il est possible un sujet tel qu'on desire et a qui cette place puissc convenir. 11 m'est bien permis de Vous confier 6ub rosa que le Seigneur dont il s'agit est le Comte regnant de Stadion- Warthansen, Grand-maitre de la Cour Electorale de Mayence, Vieillard egalement respectable par Ses merit«s, quaimable par le feu de son esprit et les agremens de son commerce qu'il conserve encor dans un age ou mille autres ne font a peine que vegeter en- core. J'ose garantir a un Homme de merite qu'il trouvera bien des agremens dans cette place, qui me semble convenir preförablement a un Homme qui aime les Lettres et le loisir philosophique. S'il est auteur, et par consequent de cette classe d'Humains, qui amant neraus etc. etc. tant mieux pour Lui; il trouvera a W . . . une cam- pagne charmante, des jardins et des promenades faits pour la reverie Digitized by Google 202 Brief« Wielauds au Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. et la meditation, une bibliotheque choisie, et uiie petite Societe de personnes eclairees, amis de la bonue lecture, et dans laquelle il ne dependra que de lui de se faire des amis particuliers. ün eoncert d'asses habiles Musiciens, qui se fait tous les soirs pendaiit d une heure, est uu agrement de plus pour un Amateur de la Musique. En An il uy a rien de parfait dans ce monde, et tout etat dans la Societe a ses peines; inais je n'hesite point d'assurer que cette place que j'offre ä tout Medecin habile et honnet-homme qui n'est pas en- coro place ou qui ne Test pas plus avantageusement, est celle que je prefererois a tout autre etabliasement, si j'etois Medecin. Que je serai charme, Monsieur, si par une heureu se combinaison des circonstauces ce pourroit etre pour Vous ou pour quelqu un de Vos amis l'occasion de Servir quelque Homme de Merite! C'est dans cette esperance que je Vous supplie de vouloir bien prendre la peine de Vous informer par Vos amis, s'il y a ä Basle ou dans quelque autre endroit de Votre connoissance un Medecin, qui auroit envie d'aeeepter cet etablissement — et de m'informer du resultat de Vos recherches, aussitöt que Votre convenance le permettra. La religion ne fera point de difficulte; qu'il soit bon Medecin, qu'il aime Dieu et son prochain et on le dispensera tres volontierement d'aller ä la Messe. Le Comte deteste rien au de la de l'intolerance et de la Superstition et il a dans le pais de Würtemberg une seigneurie con- siderable avec une petite ville, dont tous les habitans sont prote- stans, et bien charmes de l'avoir pour maitre. Vous etes trop habitue ä trouver du plaisir a Vous employer au bien d autrui, pour que je ne croyasae Vous offeuser en Vous demandant pardon de la liberte que je prends de m'addresser a Vos bons Offices dans cette occasion. Pui^sies-vous trouver des occasions ou Vous ine pourres rendre asses heureux de Vous etre bon a quel- que chose; je le soubaite avec ardeur et Vous nie trouveres toujours entierement ä Vous. Mr. La Roche2), Eleve, Favori et premier Baillif du Comte de Stadion, un des hommes les plus eclaires, les plus sages et des plus hommes-de bien, qu'il y a, et qui jouit de cette reputatiou partout ou il a vecü avec »on Maitre et Ami, assure le respektable et aimable auteur der Geschichte der Menschheit de son estime par- ticuliere; l'eloge qu'il me fit un jour de cet ouvrage me donna foccasion de lui apprendre le nom de lauteur et de son Merite personnel. Adieu, Monsieur et eher Patron, vives, vives, puisque vous ne pouves etre immortel, aussi longtems que le terme de rHumanitö le concede, pour le bien de Votre Patrie et celui des Hommes en general, et n'oublies jamais parmi Vos amis et adniirateurs les plu6 zeles Votre tres h[umble] — et tres devoue Wieland. Digitized by Google Briefe WielauuB an Isclin, mitgcthcilt von Jak. Keller. 203 - P. M. Un Seigneur, demeurant a la Campagne et retire du Grand- Monde, ou il a passe la plus graudc Partie de sa Vie, souffrant beau- conp de Nerfs, de flatuosite, de courte haieine etc. symtomes d'une Maladie chroniqne qui le travaille depuis plus de vingt ans, mais qui neanmoins ä Tage de 74 ans jouit d un temperament robuste et dont les parties nobles ne sont aucunement attaques, souhaiteroit detablir dans sa Terre et autour pres de 8a personne un habile Medecin, dont la Science et l'Experience seroit en etat de porter quelque soulagement a ses maux personeis, a soigner en raöme tems la santo du nombreux domestique de Sa maison et de la Seigneurie entiere. Quant aux qualites independantes de l'art salutaire et perso- nelles de ce Medecin, on desireroit qu'il no fut point mari6, qu'il fut ami des ScienceB, d'une humenr comportable, point yvrogne, d'un Caractere social, compatissant et humain. Ses dovoirs se concentrent lmo et priucipaleraent a la personal du Maiire, a employer tous les ressors de son scavoir pour soulager ses incommoditt'S et lui conserver ses jours. 2do ä porter les mOaes attention« ä Sa famille et a tous ceux qui sont attaches a Son Service. 3tio a ne point s absenter de Nuit et se trouver regulieremcnt tous les soirs a 9 heures ä la maison et d'assister au Coucher du Maitre; moyennant quoi 4to il aura la pratique de Son Art libre non seulement en onze villages, qui appartienuent a la Seigneurie, mais aussi dans tout le paYs d'alentour et particulierement dans une ville Imperiale qui n'est qu'a une demie lieue du Chateau Seigneurial ou il y a deux bon- nes Apothicaireries mais de tres mediocres Medecins. 5tü II sera oblige pourtant de determiner a son choix une ma- tinte de la semaine, qu'il donnera gratis aux Sujets NI3. pauvres de la Seigneurie, bien entendu que les autres le payeront selon la taxe etablie dans le paSs. Ses Gages feront 460 Florins d'Empire, payes a chaque echeance de Quartier. II sera bien löge, ayant sa chambre meublüe au chateau. II aura la Table du Maitre, feu et chandelle francs, avec bien d'autres douceurs et agreraens trop longs a detailler. II ne viendra qu a lui de se conserver tous ces avantages par les soins qu'il donnera ä la Conservation du Maitre, mais si Dieu diposeroit de ses jours et que par conseqnent la table cesseroit au Chateau ; II auroit outre les 450 Florins et le logement, 8 Malter Seigle, 4 Malter de froment, grosse mesure du paSs, et un Eymer de ViD, mesure de Würtemberg — etablissement assure pour toute sa vie, corrobore du Pere et du Fils et tres avantageux pour un habile homme, dont la Pratique pourra facilement doubler le fond des Gages qu'il tire de la Seigneurie. Digitized by Google 204 Briefe Wielands an heim, mitgethcilt von Jak. Keller. II trouvera cn outre pour ses amusemens une Bibliotheque norabrcuse et cboisie de Philosophie et de belles-lettres, une collec- tion complette d'Instrumens de Physique experimentale, Tagrc-ment de la chasse, bonne compagnie, et tous les moyens de passer une vio douce, sans qu'il soit oblig6 a la moindre depense eu habits ou autres provisions de Luxe. On ne veut ni Francois ni Italien; qu'il soit Suisse ou Alle- niand; s'il entend des langues etrangeres, taut mieux. Qu'il ait etudie en bonne ccole et pratique son art sous d'habiles maitres. Qu'il soit dans un age raisonnable, applique a Sa Science, particu- lierement dans ce qu'on appelle des Maux chroniques; qu'il s'attache u Son Maitre et Bieufaiteur, et il aura un sort digne d'envie. 9. Erfurt den 12. May 1772! Mein Theurster Herr und Freund. Unser neuangekomniener Regierungsrath und Professor Sprin- ger1) giebt mir die angenehme Versicherung, daß Sie noch immer mit Freundschaft sich meiner erinnerten. Dies macht mich so dreiste mich in einer Angelegenheit2) an Sie zu wenden, deren Beschaffen- heit Sie aus beygelegten Nachrichten an das Publicum zu ersehen belieben werden. Der Eyfer womit, ausser meinen Freunden in engerem Verstände, viele Personen vom ersten Rang in Deutschland sich die Beförderung dieser Sache angelegen seyn lassen, Übertrift meine Erwartung. Ich sage dies nicht als ob ich glaubte, eiu Freund und Günstling der philosophischen Muse, wie Iselin, habe eine andre Aufmunterung, um selbst ein Beförderer eines solchen Vorhabens zu seyn, vonnöthen, als den Antrieb Seines eigenen edlen Herzens. Ich gestehe Willig, daß der Gedancke, von dem Debit meiner Schrif- ten, der bisher nur den Buchhändler bereichert hat, endlich auch einmal einigen Vortheil zu ziehen, der erste Beweggrund ist, der mich zu dieser Subscriptions-Sache vermocht hat; und ich bin nicht albern genug, diesen Beweggrund der Welt für edel und uneigen- nützig aufschwatzen zu wollen. Aber die Betrachtung, daß es den Liebhabern meiner Schriften gleichgültig seyn müsse, ob sie mein Buch einem Buchhändler oder mir selbst abkaufiTen, oder vielmehr, daß der Verfasser des Agathon ihnen nicht so gleichgültig seyn könne, um den Vortheil, den sonst die Sosiasten3) von seinem Wercke ziehen würden, lieber ihm selbst zuzuwenden, — diese Betrachtung läßt mich hoffen daß der bessere Thcil des Publici diese Unter- nehmung meines vortrefflichen Jacobi4), welche mich zu nahe an- geht, um nicht auch die Meinige zu seyn, in keinem widrigen Liebte betrachten werde. Ein glücklicher Erfolg derselben würde mich in den Stand setzen, künftig mit mehr Muße zu studieren, und weni- ger aber besser zu arbeiteu; und ohnezweifel würde das Publicum Digitized by Google Briefe Wielanda an Iselin, mitgefcheilt von Jak. Keller. 205 hiebey am meisten gewinnen. Aber die Anzahl derjenigen, welche unter den Edeln und Begüterten unter meiner Nation edel genug denken, um an der Beförderung der Litteratur, des Geschmacks und der Philosophie unter derselben mit einiger Wärme Antheil zu nehmen, ist noch so klein, daß ich mir nur einen sehr mittelmäßigen Erfolg versprechen kan. Indessen, da ich nun einmal über den Rubicon gegangen bin, so kan ich nicht umhin, allenthalben so weit die deutsche Sprache reicht, alle meine Freunde um ihren Beystand in dieser meiner Angelegenheit zu erbitten. Sollten Sie, mein Liebenswürdiger Freund, in Basel oder sonst unter Ihren Bekannten in der Schweiz einige Liebhaber für unsern Agathon zusammenbringen können, welche lieber ein dem Nationalgeschmack Ehre machenden Vorhaben befördern helfen, als auf einen wohlfeilem Nachdruck (der von niederträchtigen Buchhändlern vermuthlich bald genug zu mei- nem Schaden wird veranstaltet werden) warten wollen: So bitte ich die Nahmen derselben mir oder meinem Jacobi (wie es Ihnen am gelegensten ist) bekannt zu machen. Ich habe, ausser der Orell und Geßnerischen Buchhandlung6), mich sonst noch an niemand in der Schweiz gewendet. Ein Geschäfte dieser Art muß wenn es nur einigermaaßen reüssieren soll mit einiger Lebhaftigkeit betrieben werden ; und dies ist gerade, was ich Ihnen, Meiu Verehf enswerther Freund, in Rücksicht Ihrer eigenen wichtigen Geschäfte und andrer Umstände, nicht zumuthen kan. Aber vielleicht finden Sich unter Ihren Freunden einige, deren sie Sich hiezu bedienen können. Ich Uberlasse Dies alles lediglich Ihrer Neigung und Convenienz. Sollte Ihre Verwendung auch ohne allen Erfolg bleiben, so habe ich doch genug gewonnen, wenn diese Gelegenheit die Eindrücke der freund- schaftlichen Gesinnungen wieder in Ihrem Herzen anfrischet, womit Sie mich vor vielen Jahren beehrt und aufgemuntert haben. In dem Meinigen wird die aufrichtigste Hochachtung uud zärtlichste Liebe, — Gesinnungen, welche Sie Sich längst von allen das Walire uud Gute liebenden Menschen erworben haben — nie erkalten, wo- mit ich immer gerne bin und immer bleiben werde Ihr ganz eigener Wieland. * 10. Iselin au Wieland (Entwurf). Mein theuerster Herr und Freund Herr Regierungsrath Springer läßt raeinen Gesinnungen gegen Sie Gerechtigkeit widerfahren, wenn er Sie versichert daß ich noch immer von Hochachtung und von Freundschaft gegen Sie erfüllt bin. Ich bewundrc in Ihnen das Genie welches der deutschen Lit- teratur am meisten Ehre machet und jede Begebenheit die Ihr Glück Digitized by Google 20G Briefe Wielands an laelin, mitgetheilt von Jak. Keller. und Ihren Wohlstand vermehret ist mir höchst erfreulich. Auch würde ich mit dem lebhaftesten Vergnügen an dem Geschäfte Theil nehmen zu dem Sie mich neben aridem auffordern, wenn ich mich berechtiget glaubete nur der Stimme der Freundschaft und der Be- wunderung allein zu folgen.1) Ich siehe mich aber durch höhere Betrachtungen geuöthiget, eine Ehre zu verbitten die mir höchst kostbar ßeyn würde wenn ich sie annehmen könnte. Mit einem Manne den ich hochschätze und verehre soll ich billich ohne Um- schweife reden. Ich kann mich nicht entschließen an der Ausbrei- tung und an der Beförderung von Schriften Theil zu nehmen deren Geist und deren Thon bey den meisten Lesern eine uach meinen einfaltigen Begriffen sehr schädliche Gleichmütigkeit für die Grund- sätze veranlassen müßon die für die wahre Glückseeligkeit des Men- schen von der größten Wichtigkeit sind. Ich bewundere den Agathon und alle Ihre neueren Schriften. Ich empfinde bey der Lesung der- selben ein Vergnügen das demjenigen ähnlich ist, welches ich bey der Lesung der Werke eines Voltaire und eines Rousseau em- pfinde.2) Allein mein Vergnügen wird dabey immer durch den Ge- danken verbittert, daß eben diese Zauberischen Reize die mich ent- zücken für andre und für viele andre der Zunder verderblicher Gesinnungen und allzu heftiger Leidenschaften werden könne. Viel- leicht ist diese Furcht übertrieben, allein so lange ich sie für gegründet halte, kan ich nicht anders als derselben gemäß handeln — und wer weiß ob nicht eine Zeit bevorstehet da Sie selbst auf diese Weise denken werden. Immer aber werden wir einander lieben können, wenn schon unsre Denkungsart immer ungleich bleiben sollte. Ich verharre mit der lebhaftesten Bewunderung und Ergebenheit gehorsamster Diener Isaak Iselin. 11 (Entwurf). Basel den 10*° Angst 1773. An Herrn Hofrath Wieland in Weimar. Sie verlangen verehrungswürdiger Freund den Recensenten'des goldnen Spiegels1) zu kennen. Ich sehe zwar nicht daß diese Ent- deckung Ihnen sonderlich angelegen seyn solle. Da mir aber Herr Nicolai2) meldet daß Ihnen solche einiges Vergnügen machen würde so mache ich mir kein Bedenken Ihnen zu sagen daß ich es bin. Ich hoffe Sie werden darinn den Mann nicht verkennen der seit mehr als zwanzig Jahren Ihr Genie bewundert, Ihre Person liebet und Ihre Schriften immer mit der wärmsten Thoilnehmung liest; obgleich eben so wenig als die kühnen Ausflüge welche 8ie ebmals bisweilen in das Empyrium thaten er die kleinen Aus- Digitized by Google Briefe Wielands an Iaelin, mitgetboiU von Jak. Keller. 207 Schweifungen nach seinem Gescbmacke findet, welche Sie seit einiger Zeit in die Gärten der Epicureer gewaget haben. — Aus diesen Ge- sinnungen die Ihr edels Herz wenn sie mich auch zu IrrthUmern verleitet hätten nicht misbüligen kann floß die Wärme mit deren ich dasjenige an Ihrem vortrefflichen Werke tadelte, das mir daran bedenklich schien. Wahrheit in den Mejuungen und Richtigkeit in den Gefühlen sind die einzigen Quellen der höheren Glückaeeligkeit der Menschen. Mir scheinen dieselben in dem g ldnen Spiegel hin und wieder verletzet; und wie höher in meinen Augen der Mann stand von welchem die Verletzung herrührte: desto dringender fand ich die Pflicht sie zu bemerken und meine Nebenmenschen davor zu warnen. Ich gestehe Ihnen indessen gerne daß ich mit mir selbst Uber verschiedene Stellen in dem Schluße dieser Anzeige ziemlich unzufrieden bin. Ich hätte meine Empfindlichkeit Uber einige Züge durch welche Sie über mich sich lustig zu machen schienen viel- leicht ganz unterdrücken wenigstens nicht so lebhaft zeigen können. Allein Ihr eigenes Gewissen wird bey Ihnen entscheiden ob ich ganz unrecht gehabt habe oder nicht So weit über unser Verhältnis als Verfasser und als Recensent die unmöglich — durchaus gleich den- ken können. Lasset uns nun als Freunde mit einander reden. Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück daß die Vorsehung Sie in eine Lage versetzet hat wo Sie für die Glückseeligkeit vieler Menschen unter den Augen einer weisen und erleuchteten Fürstinn an der Vervollkommnung der Erziehung hoffnungsvoller Prinzen arbeiten können. Der Himmel wolle ihre Bemühungen mit den glücklichsten Erfolgen bekrönen und er lasse Sie auf dieser Bahn lauter Rosen finden. Ausser das meine Gesundheit merklich gelitten hat hat sich seit vielen Jahren in meinen Umständen nichts geändert und auch nichts au den hochachtungsvollen Gesinnungen mit denen ich immer gewesen bin , _ Verehrungswürdiger Freund Ihr Ergebenster I. I. Erläuterungen. 1. 1) StadUchreiber S. Hirzel, J. K. Hirzel, der Stadtarzt, J. J. Bodnier — doch enthält der Nachlasa Iselins nur einen einzigen Brief von diesem. 2) Wieland lebte der Ueberzeugung, er habe dieses Wort unter den Deutschen zuerst angewendet (Brief an Zimmermann vom 12. Juni 1759). Er täuschte sich freilich darin. Digitized by Google 208 Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt vod Jak. Keller. 3) Iaelins „Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes" waren im nämlichen Jahre 1758 bei Orell, Gess- ner & Comp, in Zürich zum zweiten Mal aufgelegt worden. 4) Staatsrath Franz Urs Balthasar hatte 1744 eine, die Rege- neration der Schweiz besprechende Schrift „Patriotische Träume eines Eydgnossen, von einein Mittel, die veraltete EydgnoßHchaft wieder zu verjüngen" geschrieben, und Iselin das Munuscript im Spät- sommer 1758, ohne damals noch den Verfasser zu kennen, in der Nähe von Basel drucken lassen. Es war darin eine gemeinsame Schulanstalt zur Erziehung talentvoller Patricierk nahen vorgesehen, die genauere Einrichtung derselben jedoch nicht ausgeführt. Iselin fand deu Vorschlag seiner feurigsten" Zustimmung würdig und theilte Wielanden und Bod- mern, die er zur Ausführung des Planes für sehr geeignet hielt, im Spät- sommer 1758 des genaueren seine Ansichten mit. Er wollte die „Pflanz- schule" (Semiuarium) in Basel haben und das ganze Unternehmen durch Privatcor,respondfnz einleiten, wie es selber denn auch nicht Staats- angelegenheit werden dürfte. Wieland hätte die jungen Leute in den Studien zu unterrichten gehabt, „die den tugendhaften Menschen und den guten Bürger bilden" (Ungedr. Corresp. Iselins mit Salomon Hirzel). Ursprünglich hatte Iselin daran gedacht, Bodmern die „Erklärung der allgemeinen nnd Eydsgenüß. Geschichte" an der projectierten Anstalt zu überlassen; später trat der Gedanke ihm nahe, dieses Fach selber zu übernehmen. 6) Wielands „Plan von einer neuen Art von Privat-Unter- weisung"*), ein Bogen in Quarto (Stadtbibliothek Zürich Var. Gal. Ch. 45), datiert vom 12. Hornung 1754. Das Schriftstück ist bei Goedeke nicht verzeichnet. „Ich publicirte", berichtet Wieland am 20. Februar 1759 an Zimmermann mit Bezug auf den Zcitpunct, wo er das Haus Bod- mers zu verlassen dachte, „ohne Nahmen, einen lange zuvor, ohne Ab- sicht auf Zürich, aufgesetzten Plan einer Privatschule. Er gefiel. Viele wackere Leute interessirten sich mach tigl ich für die Realisirung dieses Planes, ohne den Urheber zu errathen. Herr Rathsherr Heidegger errieth ihn. Ein reicher und genereuser Negociant und ein Edelmann übergaben mir ihre Söhne" u. s. f. (Ausgewählte Briefe von Ch. M. Wieland I, 337). Ferner veröffentlichte Wieland „Gedanken über den patrio- tischen Traum, die Eidgenossenschaft zu verjüngen", wovon er im Texte des Briefes dann spricht; sie sind 1768, 36 S. in 8°, zu Zürich erschienen (vgl. Goedeke) und dürfen nicht verwechselt werden mit dem „Plan einer Akademie, zur Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute. Zürich 1758." Mörikofer schätzt diese Schrift, anders als Lessing, sehr hoch, bringt sio aber doch nicht in ganz zutreffende historische Beleuchtung. •) Wieder abgedruckt dnreh L. Hirxel in dieter Zeitschrift, Bd. XI, 378 — 384 VrI. ». Senffertt Mittheilongcn Bd XII, ft»7 nnd «07 f. Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. 209 6) Johann Arnold Ebert (1723-1796) war seit 1763 Professor am Carolinum in Brannschweig. 1762 hätte sich W., wie ans seinem Brief an Bodmer (vom 11. April) hervorgeht, glücklich geschätzt, da- selbst eine Hofmeisterstelle zn erhalten (Ausgew. Br. von Wiel. I, 66). Der „Auszug" sollte wol stimulierend wirken. 7) Schon am 9. Juni 1768 schrieb Iselin an Salomon Hirzel (ungedr.): „Sagen Sie dem Herrn Akkermann, er soll sich auf die Zeit, da er vorm Jahre bei um gewesen, nur wieder melden, obgleich man ihm verdeuten laßen, es nicht zu tuhn. Er wird schon Gehör finden — insonderheit wenn er vorstellet daß er in ihrer frommen Statt so wol aufgenommen worden, und von da gute Zeugniße bringt, dazu Sie ihm am besten verholfen sein können, und als ein Freund der schö- nen Künste solches zn tuhn nicht unterlaßen werden. Tch beschwöre Sie bei dem Apollo, der Thalia, und der Melpomene dazu." Am 26. Oc- tober desselben Jahres berichtete er an seinen Freund, den Hauptmann Frey (ungedr.): „Nous avons ici depais quelques semaines la troupe dAckermann qui nc fait pas merveille. Elle nous a donne* vendredi passe Jeanne GrRy de Mr. Wieland. Me. Ackermann y a fait merveille. Tons les autres acteuw n'ont guere fait qni vaille. II e*toit d'antaot plus neecssaire qu'ils fissent bien puiaque leurs caractöres et leurs röles n'ötoient pour la pluspart gueres capables d'interesser." 8) Nicht uninteressant lautet das Urtbeil Iselins über Wielands Stück, wie er es seinem Freunde S. Hirzel den 11. August 1768 vorlegt (un- gedr.): „Ich habe Herrn Wielands Trauerspiel mit Vergnügen gelesen. Ich bin begihrig eine Vorstellung davon zu sehen, um zu erfahren, ob mich dises Stük alsdenn ebenso sehr ergözzen werde. Ich zweiffle aber einigermaßen daran. Die Acteürs müßen in der Aussprache mit einer besonderen Geschiklichkeit die erstlich ungewöhnte Versart, und denn die harten Verse, die sich hin und wider finden, zu verbergen wißen. Der Charakter der Johanna ist unverbeßerlich Guilfords seiner ist frei- lich allzu unbestimmt. Man merket sich nichts an dem guten Menschen als daß er gerne möchte König sein. So findet sich der Charakter der Suffolk von der gleichen Art. Ich gestehe gerne, daß die neüsten Menschen also sind; aber auf der Schaubühne will man die Haubt- personen stärker bezeichnet, und der Aufmerksamkeit des Zuschauers würdig haben. Der Ausgang des Stükkes hat mich auch nicht befridigt. Ich weiß nicht, ob Johanna gestorben ist oder nicht, und weiß nicht, wie sie gestorben ist. Ich empfinde sehr wol, daß es sehr schwär war, einen Auftritt zu veranstalten, da eine solche Erzählung eingerükket werden konnte. Der Kunst des Dichters würde aber eine solche Schwierigkeit nicht unübersteiglich gewesen sein. Ich wünschte dem Herrn W. an- statt der Parterres von Wintertur, Zürich und Basel ein parisisches. Er würde von demselben und dieses von ihm verschiedenes lernen und alsdenn würden sich Natur und Kunst in ihrer erhabensten Vollkommen- heit mit einander vereinen. Ich bin überzeugt, er würde auch den Ancniv r. I.iTT.-f.rsrn. XIII 14 Digitized by Google 210 Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt toii Jak. Keller. Fehler wider die Einheit des Ortes vermieden haben, wenn sein Stükk an einem Orte hätte aufgeführt werden können, wo er keine Verzeihung des- selben zu hoffen gehabt hätte.*4 2. 1) Wie Bodmer im Jahre 1765 das Project ausgeführt wissen wollte, kann nachgelesen werden in den „Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznarh im Jahre 1765", wo fein „Roher Ent- wurf einer Helvetischen Tisch-Gesel lscbaft'4 abgedruckt er- scheint. Iselin hebt in einem Brief an S. Hirzel vom 20. Oer. 1758 (ungedr.) hervor, jener wolle die Anstalt im Gegensatz zu ihm zn einer Sache des Staates machen. „Ich weiß aber nicht", betont er von seinem Standpunct aus, „ob es nicht besser wäre, solche immer «ine Unter- nemmnng von Privatpersonen seyu zu laßen. Eigennuzz, Ehrgeiz, Lei- denschaften und alles, was die Geschäfte des Staates zernichtet, befördert meistens die Unternemmungen von Privatpersonen." Es entspricht dem Wesen Iselins durchaus, klein, aber mit Aussicht auf allmählichen Fort- schritt anzufangen, während Bodmer gleich ins Zeug greifen will. — Im nämlichen Brief an Hirzel fragt Iselin, „auf welchem Fuß Herr Wieland zu Zürich in Comlition stehe und wie viel er da Besoldung habe". Vergl. darüber den folg. Brief. Ueber das helvetische Semi- nar habe ich in Kehrs Pädagog. Blättern Jahrg. 1883 auf Grund der Acten referiert. 3. 1) „Ich trachte Ihnen Herrn Wieland zu entziehen. Ich muntere ihn auf, sich hieher zu begeben, und zu versuchen, ob er durch philo- sofische Collegien *ich nicht ein anständiges Auskommen verschaffen könnte. Ich sehe aber noch im Entfernteu und Dunkeln eines und das andere vor, das diesen Vorsatz unserm würdigen Freunde sehr vorteil- haft machen könnte. Er muß aber selbst nichts davon wißen — Meine Hofnungen sind auf Muhtmaßungen gegründet, die fehlen [fehlschlagen] könnten — Ich möchte ihm nicht Anlaß geben, mir einst vorrüken zu können, als hätte ich ihn mit eiteln Vertröstungen verführet4 (Iselin an Sal. Hirzel d. 19. Jan. 1759. Ungedr.). 2) Am 5. Dec. 1758 schreibt Wieland an Zimmermann (Aus- gew. Br. v. Wiel. I, 322): „Ich habe in Gedanken, Zürich künftigen Frühling oder Sommer zu verlassen, und mich einige Zeit bey meinen Ellern in Biberach aufzuhalten, um in einer angenehmen Retraite ruhiger an meinem Cyrus arbeiten zu können. Ob ich alsdann in meinem klei- nen Vaterlande, welches ich dennoch liebe, engagirt werde oder nickt, weiß ich nicht. Was aus mir werden soll, weiß der Himmel. 14 Die „Entwicklung etlicher Umstände4' mag sich also wol auf Biberach be- ziehen; doch ist auch die Unterhandlung wegen einer Gouverneurstelle nicht ausgeschlossen (vgl. W.a Brief an Zimmermann vom 2. März 1759 a.a.O. S. 841). Weder dio gedruckten Briefe Wienands an Zimmermann übrigens, noch die ungedrnckten des letzteren an Iselin enthalten eine Spur Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, mirgetheilt von Jak. Keller. 211 davon, dass der Brogger Doctor von dem Iselinschen Vorschlag in Kennt- nis» gesetzt worden sei. 3) Iselin hat sie gegeben; den Inhalt derselben erfahren wir ausser durch den folgenden Brief Wielauds auch aus einer Mittheilung I.s an Sal. Hirzel vom 30. Januar 1759 (ungedr ): „Ich habe ihm angerahten, mit guten Empfehlungsschreiben an hiesige Standesglider [Magistrats- personen] und Gelehrte hieher zu kommen — und durch eine Einladungs- schrift seine Absichten kund zu tuhn — Ich habe ihm gesagt, ich würde ihm für den Anfang mein Haus und meinen Tisch antragen, da aber ein allzugenaues Verhältnis mit mir ihm im Sinne des einen oder anderen nachteilig seyn konnte, so wollte ich für ein paar Monate die Kost für ihn an einem dritten Orte bezahlen, da er denn in dieser Zeit sehen könne, ob etwas für ihn zu machen sey oder nicht. Meine Ab- sicht hiebey war, insonderheit dem Verdacht zu weichen, als ob ich ihn hergezogen hätte, und also dieiengen Leute, die villeicht um mir zu widersprechen, ihm zuwider gewesen wären, nicht von ihm abzuwenden. Er findet alles dieses sehr übel. Er glaubet keine Empfehlungsschreiben nöhtig zu haben — er mag nicht in einer Statt wohnen, die so viel Gleichheit mit Amsterdam hat, und wo alles kaufmännisch denket. Er kan aich nicht dazu verstehen, nicht alsobald mein Freund zu scheinen, als er es ist — Er mag solche Mittel nicht brauchen, die Ehre zu erlangen, unseren Söhnen Weisheit zu l.;hren — Er ist noch nicht so sehr ge- demühtigt etc. Ich muß also auch dise Hofnung, Herrn W. und meinem Vaterlande zu dienen, fahren laßen, ob ich gleich einigen Schein von Hofnung vor mir gesehen, Herrn W. allhier eine beständige Stelle finden zu machen. Ich mag ihm aber nichts davon sagen, weil die Sache so ungewis ist, und ich nachher den Verweis nicht erwarten möchte, ihn mit falschen Versprechungen aufgezogen [aufgemuntert und hingehalten] zu haben/' 4. 1) Wenn auch ans diesem ganzen Briefe die Sprache der verletz- ten Eitelkeit oder Eigenliebe erkennbar ist, so muss doch zur Entschul- digung des zartnervigen Dichters gesagt werden, dass Iselins Schilderung der Baseler Verhältnisse wahrscheinlich weniger harmlos gewesen sein wird, als das Reeumd derselben an den Zürcher Hirzel vermuthen lässt. Der Rathsschreiber war damals wirklich auf die sociale und litterarische Lage seiner tbeuren Heimat nicht gut zu sprechen, und Wieland hat viel- leicht ans dem Briefe nur mehr herausgelesen, als Iselin herausgelesen wissen wollte. Charakterisiert der letztere seine Stellung in Basel doch dem Busenfreund und Mitbürger Hauptmann Frey gegenüber mit fol- genden unzweideutigen Worten: „Vous av£s bean tue dire de ne pas prendre a coeur l'e'tat d<5plorable de ma patrie. Rcpresente's vous un Musicien qui ne respire que Tharmonie et qui en fuit ses plus grandes delices force* a entendre touts les jonrn pendant plusieurs heures un charivari pitoyable de 30 violons de village, parmi lesquels il nentend U* Digitized by Google 212 Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. que trea rarement quelque coup d'archet qui soit supportable. Quelle vie pensöa vous que nieneroit cet nomine. Et quelle differeuce y a t il entre la Situation d'uu tel nomine et la mienne? Chez Ini ce ne sont que loa oreilles qui sont fatiguees, raais ch<5s moi c'est le coeur qui sonffre" (Ungedr. Brief vom 6. Aug. 1769). 2) „Mir grauet und eckelt vor academischen Lehrämtern", schrieb W. vier Wochen spater an Zimmermann (Ansgew. Briefe von Wiel. 1,338). 6. Dieser Brief ist aus dem ersten Drittel des Monats Juni 1759 zu datieren: „Ich habe erst den ersten Gesang des Cyrus gelesen4*, schreibt Iselin am 11. Juni an S. Hirzel (Ungedr.). Während des Aprils hat er das sehnsuchtsvoll erwartete Werk noch nicht erhalten, im Mai weiss er auch noch nichts davon zu sagen. Am 27. März hatte Wieland, der Vermittelung Zimmermanns zunächst Folge leistend, diesem nach Brugg geschrieben: „J'irai ä Berne et pr£cise*ment pour les raisons qui vous font souhaiter que j'y fasse" (AuBgew. Briefe von Wiel. I, 347. Vgl. auch u. Anm. 3). 1) Allerdings hatte Iselin bereits im April durch S. Hirzel von dem Entschluss Wieiands, nach Bern zu gehen, Kunde bekommen. „Ich wünsche", schrieb er damals dem Freunde, „daß Herr Wieland pich beßer nach Bern schike, als er geglaubt sich nach Basel zu schicken*' (Ungedr.). Am Ende dieses Monats konnte er auch nach Zürich an den- selben berichten (ungedr ): „Ein geschiktcr Freund von Bern verspricht Herrn Wieland deu Beyfall viler verständiger Leute — Verlanget er da mehr und oinen allgemeineren, wie ich aus Ihrem Schreiben schließe, so kan er es auch leicht mit diesen verderben — Er will alldort eine periodische Schrift im Geschmacke des Zuschauers herausgeben — Ich wollte ihm rahten, dises nicht zu frühe zu tuhn, und zu erst die Leute kennen zu lernen — Er ist bey Herrn Dr. Zimmerman gewesen [im April: vgl. den Brief W.s an Z. vom 26. April 1769. Ausgew. Br. von Wiel. I, 363] — Ich scheine seine Gunst völlig verloren zu haben.'1 2) „Monsieur le Professur Stapfer in'a ecrit une lettre tres obli- geante et m'a fait des proposi£ions au nom de Mr. le baillif S[innerj que jai accepte'es avec plaisir. On fait nn tres beau caractere de ce Mr. 8**, et c'est ce qui m'a determine'" (Brief W.s an Zimmermann vom 6. April 1769 a. a. 0. I, 361). 3) „Herrn Wieland mag ich nicht mehr einladen. Er würde end- lich über meine Unverschämtheit böse werden", grollte Iselin noch am 20. Mai in einem Briefe an S. Hirzel (Ungedr.). 4) „Mr. Wielaud m'a envoye* avec une lettre extr^mement polie les 6 premiers chants de son Cyrus.*) J'y ay trouve" de grandes beautes •) Ali Iselin Im Februar 175S von 8. Hirzel erfuhr, Wieland beschäftige sieh mit n- voyees quo fort peu — J'ay surtout trouve" qu'il ne designoit pas bien l'active de son beros — et je pense que le poeme epiqne ne chante pas senlement nn he'ros, mais tin fait, une action qui soit une et ou tout aboutisse. Je verrai s'il prendra en bonne part ma critiquo — dont vous jugeres si eile est fondee ou non, en recevant le po5meu (Ungedr. Brief I sei ins an Frey d. 8. Juli 1769). Auch an Hirzel vergass Iselin nicht die Meldung, dasa Wieland ihm wieder geschrieben, und zwar „sehr verbindlich" (2. Juli. Ungedr ). Am 6. August (ungedr.) berichtete er kurz an Frey, dass W. ihm seit dem Brief, der ihnen beiden „in- conse'quent" erschienen sei (Nr. 4 im Verbältniss zu Nr. 3), nur erst einen geschickt habe (den mit „Cyrus"): „il me paroit qu'il ne pcut pas di- gerer la moindre critique". Diese letztere Bemerkung erhalt ihren Commentar durch den Brief W ielands an Zimmermann vom 2. Juni 1759 (Ausgew. Br. II, 11 ff.). 7. 1) Daniel Fellenberg, Professor in Bern, ein eifriges Mitglied der Schinznacbergesellschaft und Vater des bekannten Paedagogen. 2) Iselin hatte 1768 seinen „Versuch über die Gesetzgebung" drucken lassen. Miaskowski (Isaak Iselin. Basel 1875) tetzt denselben, ich weiss nicht warum (doch vergl. Briefe die neueste Litteratur betreffend IV, 294 und Goedeke I, 619), ins Jahr 1760. 3) Wol durch die Berner veranlasst, bei denen das Thema schon damals geläu6g war. Doch fallen Hallers bezügliche Arbeiten etwas später. Wieland, dessen Geist sich ausserordentlich leicht acclimatisiereu konnte, begann bereits in den ersten zwölf Tagen seines Aufenthaltes an der Aare, ein „Gedicht über die Agricultur, in gereimten Versen" zu schreiben (Brief an Zimmermann vom 25. Juni. Ansgew. Br. II, 41; er selbst traf am 12. in Bern ein): es war der Gegenstand das „sujet favori der Berner" (an ebendens. vom 26. Juoi). Wie meisterlich übri- gens Wieland verstand, seine Briefe nach der Adresse anzufertigen, zeigt »ich deutlich, wenn man den Schwung des vorliegenden mit denen an Zimmermann und Bodmer aus derselben Zeit vergleicht. 4) Am 26. Juni schrieb W. bereits an Zimmermann (Ausgew. Br. II, 41): „Die Knablein ** sind so unwissend, ungeschickt, kindisch und ungelehrig, daß ich nie aufhören werde, mich und meine verlorne Zeit zu bedauren." Am 24. August (cbendas. S. 85): „Ich komme wirk- lich in vier oder sechs Wochen von Herrn ** weg. Ich konnte nicht länger aushalten; ich machte ihm meine Vorschläge, sagte meine Gründe, und erhielt die politeste und verbindlichste Antwort. Er sagte mir, daß er mir nicht nur nicht verdenken könne, daß ich Arrangemens mache, die mir anständiger seyen, sondern daß er sich auch wegen der Jugend seiner Knaben nichts ander» erwartet habe etc. Kurz wir sind so viel als auseinander." In ähnlicher Weise, wie an Iselin, rapportiert Wieland über diese Dinge an Bodmer am 6. Sept. (ebenda?. S. 90 ff.) und Digitized by Google 214 Briefe Wielands au Iselin, initgethoilt von Jak. Keller. ♦ vergibst dabei nicht, zu bemerken, das» unter den verschiedeneu ernsten Arbeiten, die ihn beschäftigen, auch die sei, alle seine poetischen Werke auszubessern und herauszugeben. 6) Er denkt an Fellenberg, B. Tscharner, Tschiffeli, Stapfer u. a.; von Mademoiselle Julie Bondeli sagt er wolweislich hier nichts. 6) Später thätiger Scbinznacher und um die Schul Verbesserung in Bern wolverdient. Er stand mit Iaelin in Briefwechsel; der Nachlas» des letzteren enthält aber nichts von ihm. An Zimmermann berichtete er damals über Wieland, dieser „habe sich schachmatt geschrieben und sey itzt mehr nicht als ein altes Weib" (Zimmermann an laelin d. d. 21. Juni 1778. Ungedr.). 8. 1) Wieland war während seines weiteren Aufenthaltes in Bern für Iselin stumm geblieben, ohne dasa der letztere darum für ihn das In- teresse verloren hätte. „Herr Wieland4', schrieb er am 13. Jan. 1760 an S. Hirzel, „soll mit Bern sehr mis vergnügt sein, und man hat mir ins Ohr gesagt, daß man ihm allda diese Gesinnungen reichlich erwidre. Wir haben uns nicht betrogen, wenn wir uns vorgestellet, daß diser vortreffliche Geist für disen Ort nicht gemachet sei" (Ungedr.). Und am 16. März: „Ich bedaure den Herrn Wieland — er hat mir lange nicht geschrieben — Er wäre wol würdig, bey einem Fürsten oder sonst einem grossen Herrn Brodt und Schutz zu finden. Er hat seine Fehler, aber sein Schiksal ist doch seinen Verdiensten nicht angemessen" (Ungedr.). — In der zweiten Hälfte den Mai 1760 war Wieland in seine Heimat zurückgegangen, um daselbst sofort neue Verhältnisse anzu- knüpfen . . . Nicht bloss Zimmermann in Brugg, sondern auch die Zürcher wusaten davon: am 15. Jan. 1761 antwortete Iselin seinem Freunde Hirzel auf eine bezügliche Mittheilung: „Herrn Wielands Weise, sich über seine Verlöbniße auszudrücken, ist in meinen Augen mehr als ein poetischer oder philosophischer Muthwillen. Ich finde dieselbe eines gescheiden Menschen ganz unwürdig. Er hätte das nämliche weit an- ständiger sagen können" (Ungedr.). — Zimmermann hatte Iselin auf die 1761 zu Zürich erschienenen „Poetischen Schriften" Wielands auf- merksam gemacht, worin der Autor sich u. a. wegen seiner ueulichen Unfruchtbarkeit in bekannter Weise entschuldigt, und „die Vorrede als ein Meisterstück von Autorpolitik, Geschmack und Elocution" ausgegeben (Ungedr. Brief Z.s an Iselin vom 30. Dec. 1761): darüber referierte laelin den 20. Jan. 1762 an Hirzel: „loh habe Herrn Wielands Vorrede nun durchloffen — - Man hat mir dieselbe als ein Meisterstück von Autors- politik angerühmet. Ich verstehe nicht genug davon — Herr Wieland zeigt, deucht es mich, daß er ein Mensch ist, der von seiner Einbildungs- kraft sich allezeit hat dahinreißen laßen, und selbst nie gewnßt, was er gewollt hat" (Ungedr.). — Es ward Iselin immer klarer, daaa seine Wege und diejenigen des wetterwendischen Freundes stark divergierten. Als er denn 1764 sein epochemachendes Werk „Ueber die Geschichte Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, mitgetheilt von Jak. Keller. 215 der Menschheit" herausgab, uuterliess er es, jenen mit einem Exem- plar zu bedenken. Nun schrieb ihm Zimmermann am 28. April 1764 (ungedr.): „Der Herr Canzler Wieland, oder wie ich ihn zuweilen im Scherze nenne, der Prinz Biribinker zu Biberach, hat ein sehnliches Verlangen nach ihrer Geschichte der Menschheit"; daraufhin ist dann die Zusendung erfolgt. Laut eim» Briefes an Zimmermann vom 11. Mai 1764 war er „eben jetzt" in den Besitz des Werkes gelangt (Aus- gew. Br. von W. II, 232;. Was die nähere Bedeutung der Worte „chere et precieuse marque" anbetrifft, so gibt uns der Brief Wielands an Zimmermann vom 18. Mai 1764 alle wünschbare Auskunft. „Hier, mein liebster Herr Doktor", Bagt der Canzlcidirector dort (a. a. 0. S. 236 ff.), „ist ein Silvio für Herrn Iselin mit meiner Empfehlung. Von seinem Buche belieben Sie ihm in meinem Nahmen so viel schönes zu sagen, oder nicht zu sagen, als es Ihnen selbst gefallt. Es wird in unsern Tagen überall der Gebrauch Bücher in Form der esprit des loix zu achreiben, so wie es vor zwanzig Jahren Mode war, selbst die Theorie der Pasteten-Beckerey in geometrische Lehrart zu bringen. Schade, daß Montesquieu» Geist nicht eben so gut nachgeäfft werden kann, als seine Methode. Sie sollen mir von Iselins Bnche Ihre wahren Gedanken schreiben; ich will Ihnen die Meinigen sub rosa vorläufig eröffnen. Sie affectiren in Ihrem großen dicken Buche von der Erfahrung, für Jünglinge zu schreiben, und schreiben in der That, (die Vorwelt allein ausgenommen) für alle Arten von Welt. Herr Iselin gibt sich in seiner Geschichte der Menschheit die Miene, für das menschliche Geschlecht zu schreiben, und schreibt in der That für Knaben und Frauenzimmer. Bey einer etwas genauen Analyse würde dieser gute, wackre, liebe Mann eine ziemlich komische Fignr machen. Es ist, (um mich eines Schakesspearischeu Schwungs zu bedienen) in der That etwas possierliches, in diesen unsern Tagen einen ehrlichen Mann zu sehen, der in his doublet and hose ganz gravitätisch dahertritt und euch be- weist, daß die Ursache, warum es nicht besser in der Welt geht, der Mangel an Weisheit und Tugend ist. Eine glänzende Entdeckung! und wodurch die Welt viel gebessert wird." Dieses Urtheil hinderte den „ersten Professor der Philosophie an der Akademie zu Erfurt" Ch. M. Wieland nicht, über Iselins Werk daselbst Vorlesungen zu halten! Unter dem 23. Juni überreicht Zimmermann dem Iselin „den Don Sylvio des seraphischen Amtsbruders von Biberach mit einem schönen Compli- raent" . . . (Ungedr.). 2) Der ans GoetheB Dichtung und Wahrheit bekaunte La Roche machte 1769 anlässlich seiner Schweizerreise Iselins Bekauntschaft und stand fortan mit ihm in Briefwechsel. Iselin verzeichnet in seinem (ungedr.) Tagebuch unter dem 19. August 1769 folgende Notiz: „Herr La Rosche, sein Freund [ein wiirttemb ergisch er Expedition -sratb] und Herr Schulteis Wollcb und mein Schwager Burkard Spiesen bey uns zu Nacht. Herr La R. ist oin schlitzbarer Mann, er schwatzt ein bisgen Digitized by Google 216 Briefe Wielauds an Igelin, niitgetheilt von Jak. Keller. zu viel, aber der Manu bat einen ungemeinen Geist. Sein Umgang ist im höchsten Grade angenehm und nicht weniger lehrreich." Vgl. auch Wielands Charakteristik La Koches in seinem Brief an Saloui. Ges&- uer d. d. 20. März 1769 (Auswahl deukw. Briefe v. Wieland I, 93 ff.). 0. 1) Der Nachlass Iselins enthält noch mehrere Briefe von Springer aus den Jahren 1777—1781. Von 1780 an sind sie aus Buckeburg da- tiert, wo Sp. Canzler war. Zimmermann weiss über ihn nur zu sagen, er sei ein Narr (ungedr. Br.). 2) Wieland Buchte damals, durch eine neue Ausgabe seines Aga- thon „drey allerliebsten kleinen Mädchen, deren kindliche Liebkosungen und sorglose Unschuld eine Thränc der bekümmerten Zärtlichkeit in das Auge" des Familienvaters brachte (Brief an Salom. Gessner d. d. 31. Dec. 1771), Subsistenzmittel zu verschaffen (Auswahl denkwürd. Briefe v. Wieland I, 105). 3) „Sosii fratres fuere bibliopolae" (Orelli ad Ho rat. lib. I. Epi- stol. XX. vers. 2). 4) Fr. H. Jacobi stand mit Wieland seit 1770 in Verbindung. 6) Auswahl denkwürd. Briefe v. Wieland a. a. 0. S. 103 f. Für die erste Auflage des Agathon hatte er von seinen Verlegern in Zürich 48 Louisneufs erhalten (ebendas.). Vgl. auch den im VII. Bande dieter Zeitschrift von L. Birzel mitgetheilten Wieland- Brief Nr. 27 am Ende und Nr. 24 (43). Um die Bibliographie des Agathon steht es bis auf die neueste Zeit in den gewöhnlichen Handbüchern noch sehr übel. 10. 1) Iselin war, soweit es seine hundertfachen Geschäfte gestalteten, aufmerksamer Beobachter der Entwicklung Wielands, des Mannes mit dem „wächsernen Sinn", wie Bodmer ihn nannte. So tolerant nun der Kationalismus des achtzehnten Jahrhunderts auch war: seine gediegen- bten Vertreter konnten doch eine leichtfertig»? Behandlung des ethischen und zumal die Arabeskensprünge einer starken und zugleich muthwilligen Phantasie nicht vertragen. Pfeffel in Colmar verlor auf einmal seinen heitereu Gleichmuth, als Goethes „Werther" erschien, und hatte nicht übel Lust, Lessing seit 1779 als einen angehenden „Straflenräuber" an- zusehen. Zimmermann schuf das bezeichnende Wort „wielandisieren". Ja sogar La Roche konnte den Canzleidirector von Biberach nach and nach nicht mehr fassen. „Herrn Wielands Diogenes14, schreibt er 1770, den 4. Mai, an Iselin (ungedr.), „hat meiner Erwartung kein Genüge geleistet. Dem ersten Plan uach versprach ich mir eine nüzliche Aus- arbeitung, und ich fand nur wizigen Glimmer und Schimmer; Den ein gesezter Geist obenhin im Durchlaufen Liest — vor jungen Leviten ver- birgt; und dann sich gelbst fragt: Cui bonoY von allen Orten Jauchzet mau ibme freylich viele Lobsprüche zu. Er ist mein Freünd; ich gönne ibtue Ruhm und reichen Verdienst. Aber nach meinem Villeiclit sehr Digitized by Google Briefe Wielands an lselin, mittet heilt von Jak. Keller. 217 altvaterischen Moral Gcscbroak ist das Ding für unsere Nachkommen nichts nüz, und für uns gegenwartig ohne SatTt." Als Organ der neuen Schule diesseits des Rheins galten in der Schweix die eben auftauchen- den „Frankfurter gelehrten Anzeigen". „11 rne parait par ce Journal et par quelques antre9 indices quil se fait tout doucement un parti en Allemagne, pour abbatre les Reputations £tablies, et pour elever la Statue de Mr. Wieland 8ur leur debris; Mr. Soulzer est trafte* dans ce Journal come un dcolicr. et je me trompe fort, ou cette clique de Mr. Wieland, Jacobi, Gleim, Herder etc. n'ayc la prdsomtion dal- ier plus loin; et de detruire insensiblement le peu de Religion qui resto chez la plus part de leurs lecteurs. ila appellent cela fairo une revo- lution pour eclaircir les esprit*4' (Kirchberger von Bern an Iselin d. d. 23 Sept. 1772. Ungedr.). Iselin, der nicht nur gegen Voltaire, son- dern auch gegen Rousseau und Montesquieu Front gemacht, mochte, immer lebhafter empfinden, dass er fortan Sache und Person Wielands wol auseinander halten müsse. 2) Ueber den Eindruck, welchen die erstmalige Leetüre Agathons auf ihn machte, hat Iselin am 12. des Herbstmonats 1767 von Liestal aus an S. Hirzel (ungedr) in dieser Weise bich geäussert: „Ich habe noch mehr nicht als nenn Bücher von dem Agathon gelesen — ohne noch zu wißen, ob das Buch etwas taugt oder nicht Ich finde so viel Großes, Wahres, Schönes, so viel spitzfündiges, falsches und plattes darin, daß ich nicht daraus kommen kann. Unser liebe Wieland hat gewiß, seit dem er die Sympathien gesebriebeu hat, viel beobachtet, viel erfahren, viel gedacht. Aber er hat das Zeugs erbärmlich unter ein- ander geworfen und mir daucht, er weiß nun gar nicht, ob er an die Tugend glauben soll oder nicht. Er scheinet für den Charakter des Aristippus eine besondere Zärtlichkeit gefaßet zu haben und vielleicht wünschet er, daß man auch von ihm einst sagen soll omnis Wielandium deeuit color et Status et res — Und in der That ist sein Chamäleons- geist für keine Person in der Welt beßer aufgeleget als für alle eine nach der anderen nachzumachen — wie er alle Arten von Schriftstellern schon nachgeroachet hat. Seine weiche und biegsame Einbildungskraft ist ihm hitzu unendlich vortheilhaft — Herr Gesner hat mir den Aga- thon als ein Meisterstück des menschlichen Witzes angerühmet — und ich habe viele einzelne Stellen darin angetroffen, die mich entzücket haben — Aber über das Ganze kau ich mit mir selbst nicht einig wer- den — Was sagt der Vater Bodmer zu dem Dinge, was denken Sie davon und wie wird es überhaupt in der alten Zürich angesehen?" Merkwürdig besonnen äussert sich über diesen Roman Zimmermann in einem noch ungedrnckten Brief an iselin d. d. 26. Sept. 1767: „Den Agathon beurthcilen Sie als ein Kenner. Doch leidet das eingestreute Nidrigu einige Entschuldigung, wenn man den Ton des Ganzen betrach- tet, der humoros seyn soll. Zur Psychologie scheint mir dieses Buch sehr wichtig. Einem jungen Menschen würde ich es ganz und gar nicht Digitized by Google 218 Briefe Wielauds au Isclin, uiitgotbeilt von Jak. Keller. in die Hände geben. Die Einkleidung iat allerdings reuend, über die Schreibart leuchtet mir nicht ein; ich kann uicht begreifen, warum Wieland so eutsczlich lange Perioden macht." t) Wieland hatte von seinem ,.goldenen Spiegel44 einen günstigen Eindruck zumal bei deu Schweizern erwartet. „Daß der goldene Spiegel*', schrieb er am 20. Jnui 1772 an Salomon Gessner, „welcher nun ver- mutlich auch in dasigen Gegenden bekannt seyn wird, mich mit meinen alten helvetischen Freunden entweder ganz aussöhnen, oder wenigstens diese mir so sehr angelegene Aussöhnung befördern möge, ist jetzt einer meiner sehnlichsten Wunsche'4 (Auswahl denkwürdiger Briefe von Ch. M. Wieland I, 108). Iselin Hess es seinerseits an Empfehlungen nicht mangeln. „Haben Sie Herrn Wielands goldnen Spiegel gelesen?44 fragt er am 2. Sept. 1772 den Alt-Stadtschreiber Hirzel. „Herr Wieland kehret wieder zu besseren Grundsätzen zurücke, wie ich es ihm in einem an ihn vor einiger Zeit abgegebenen Briefe prophezeyet hatte, ehe ich noch etwas von diesem Werke wußte — Der zweyte und der dritte Band sind ausnehmend schön. Die Erziehung Tifans ist ein vortreff- liches, recht reizvolles und lehrreiches Stück . . . Die Episode von den Kindern der Natur im ersten Bande ist nicht weniger ein bewunderungs- würdiges Stück, obwohl eines und das andere daran auezusetzen ist — Der vierte Band ist voll großer Schönheiten — aber voller politischer Trrthümer — Man siht, daß der Dichter hier nicht so wohl vorgearbeitet gefunden hat als bey den ersten oder daß er nicht so wohl ausgewählt und das Ausgewählte nicht so gut verstanden hat. Es scheinet ihm dieses mit einigen Stellen meiner Schriften geschehen zu seyn — Ich habe seit einiger Zeit gehöret, Herr Wieland werde Erfurth verlassen und als Hofmeister oder Informator eines Prinzen nach Weimar gehen.*4 Auch ein Echo aus den Kreisen der Berner Aristokratie ward uns im Nachläse Iselins aufbewahrt: es ist enthalten in zwei Briefen Nicolaus Emmanuel Tscharners, datiert von Wildenstein den 20. Nov. und 22. Dec. 1772. „Die Könige von Seschian habe ich vor ein paar Tagen, nachdem ich solche seyt 3. Monaten von verschiedenen Orten her, ver- geblich beschrieben hatte, von Bern erhalten, und auf Ihre Empfehlung hin sogleich anständig bekleiden laßen44, heisst es im ersten Brief. „Ich habe noch nichts als den Titel gelesen, auf welchen hin ich das Buch kaum gekauft hätte. r Der goldene Spiegel oder1 das läßt gar zu altvät- terisch. Ich freue mich mit dem Autor mich auszusöhnen, denn ich habe verschiedene Beiner Werke mit Nuzen und Vergnügen gelesen Und wo er den Wiz den Verstand nicht beherrschen läßt, da ist er vortreflich; aber wie verführerisch ist die Einbildung nicht; wahr ist, die seine ist so reizend als lebhafft, und es ist schwer der Ruhmbegierde zu wiederstehen, in einer Art nicht nur vortreflich, sonderen auch original sich zu zeigen/' Und an der zweiten Stelle: „Ja, Mein werthester Freund, mit dem ehx- Digitized by Google Briefe Wielands an Iselin, uiitgetheilt von Jak. Keller. 219 liehen uud weisen DaniBchmende bin ich so ziemlich zufrieden; und mit Herrn Wieland, so fern er gut halt, ausgesöhnt; Insonderheit gefallen mir [seine Auslassungen] über die Policey, und seine Eintheilung des Volkes in KlaOen, diese hat mir jeher in der Sinesischen Gesetzgebung der Mittelpnnct der ersteren geschienen ... Ich erwarte mit Ungedult die Folge dieses goldenen Buchs . . . Hallers Usong lese ich zum zweyten- niahl mit mehr Vergnügen als das erste, Glauben Sie wohl, daß, ob ich für mich schon die Könige von Seschian solchem vorziehe, ich Hallers Werk für gemeinnüziger halte als Wielands; Ich weis nicht, ob nicht viele sind, die denken, wie ich, eine Handlung gefällt mir stäts beßer als eine Erzählung, und so komt mir ersteres gegen letzteres vor." 2) Die Recension steht auf S. 329 — 363 des XVIII. Bandes der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" (1773). Fr. Nicolai hat bei An- lass «einer Schweixerreise den Basler llatbsschreiber aufgesucht. Die in der nachgelassenen Conespondenz Iselins vorfindlichen Briefe von Nicolais Hand sind höchst unbedeutend. Digitized by Google Zwei Wieland-Briefe. Mitgetheilt von Joh. Crüger. Die beiden Briefe Wielands an Breitiiiger, die liier mit- getheilt werden sollen, ruhen im Original auf der Zürcher Stadtbibliothek, in Breitingers Nachlass. Daselbst sind die bedeutenderen, d. h. meistens litterarisch wichtigen der an Breitinger geschriebenen Briefe in zwei Schachteln unter der Bezeichnung Ms. F 166 und Ms. F 166 A vereinigt. Die Wie- land-Briefe liegen in letzterer. Wol die Absonderung dieser Manuscripte vom Bodmerischen Nachlass, die historisch voll- kommen begründet ist, hat bisher vor den Augen der for- schenden eine ganze Anzahl litterarisch werthvoller Documente in völliger Verborgenheit gehalten. Diese beiden Briefe waren, wie ich sie fand, selbst zu Seufferts Kenntniss noch nicht ge- drungen. Bern, den 7. u. 10. Jul. 1759. Hochehrwürdiger Herr, Hochzuverehrender Herr und th eures ter Freund, Ich habe in diesen ersten Wochen meines Auffenthalts zu Bern, unter tausend Zerstreuungen, die mich nur selten recht zu mir selbst kommen Hessen, immer nach einer ruhigen Stunde verlangt, welche ich einem Schreiben an Ew. HochwUrden widmen könnte. Allein ich kan nicht länger warten, mein Hertz zu befriedigen, obgleich mein Geist in diesem Augenblik so wenig frey ist als er seit einiger Zeit gewesen. Seitdem ich von dem geliebten Zürich, aus einem Orte, der mir durch einen langen angenehmen Anffentbalt zum Vaterlande geworden, und gleichsam aus dem Schoos meiner Freunde weggerissen worden, befinde ich mich, ganz eigentlich und ohne Hyperbole, in dem Zustande, den einige Väter und Lehrer der Kirche den ungetaufteu Kindern geben. Es ist mir zwar nicht sehr übel, aber es ist mir noch weniger wohl, ich spüre eine Art von Digitized by Google Zwei Wieland-Briefe, mitgetheilt von Crilger. 221 Difficulte d'cxister, und ich habe zuweilen nötig mich durch eine Reyhe von Schlüssen zu überweisen, daß ich eben derselbige sey der ich vor Sechs Wochen gewesen. Alle Aufmunterungen, die höf- lichste Aufnahme, die Gewogenheit einiger von den Grossen der hie- bigen Republik, die Erwerbung neuer Freunde, die tägliche Ver- mehrung meiner Bekanntschaften, Gesellschaft, Spatziergänge, nichts kan die geheime Schwermath heilen, die Sich meiner bemeistert hat. Eine Kraft, der ich nur schwach widerstehen kan, zieht mein Ge- müth immer aufs Vergangne zurük, benimmt dem Gegenwärtigen die Helfte seiner Reitze und Vortheile, und lässt mich nur in der Hofnung einige Ruhe finden, daß ich nicht auf lange, viel weniger auf immer von Zürich geschieden sey. Ich erzähle Ihnen raeine Krankheit blos historisch, Mein theurer Herr und Freund; ich empfinde, daß ich krank bin; ich bin alle- mal zu Ihnen geflohen, wenn ich es war, und ich thue es auch itzt. In der That spüre ich einige Linderung von der Zeit; denn in den ersten Tagen war mir meiu Zustand beynahe unerträglich; [2] aber warum soll die Vernunft am unwürksamsten seyn, wenn uns ihre Hülfe am nöthigsten iBt? Warum sollen wir von einer langsamen mechanischen Ursache erwarten, was wir uns alle Augenblicke selbst geben können? Seyen Sie mein guter Genius, theurester Freund, da der meinige mich verlassen zu haben scheint. Ihre weisen Auf- munterungen, Ihre liebreichen Bestrafungen sind niemals ohne Nutzen bey mir gewesen. Nunmehr will ich Ihnen auch von meinem äussern Zustand einige Nachricht geben. Daß ich sehr wohl aufgenommen worden, viele Besuche bekommen, der Gesellschaft der gelehrtesten und geistreichesten Männer iu Bern, die alle Montage Abends zusammen- kommt, sogleich einverleibet worden, u. dergl. Umstände werden Ihnen zum Theil schon bekannt seyn. Etwas das mich befremdet hat, ist daß ich hier den Meisten nur durch die Empfind, e. Christen bekannt bin, welche hier stark gelesen werden. Die Leute scheinen sich deß wegen zu verwundern, daß sie keinen Schein um meinen Kopf sehen, wie man den Heiligen zu gebeu pflegt. Es ist durch meine eigne und zum Theil Hrn. Zimmermanns Schuld eiue Übei 'eilung bey meiner translocation vorgegangen, die mich in etwas verwickelt hat Ich hätte nur acht Tage warten sollen, ehe ich Hrn. Sinners Vorschlag angenommen, So wären mir weit annehmlichere Vorschläge gethan worden. Itzo bin ich genöthiget einen guten Theil des Tages mit kleinen zehnjährigen Knaben zu verderben, welche biß zum erstaunen unwissend und untüchtig sind. Ich bin mehr durch die Verdienste und die Freundschaft des Hrn. Landv.jogt] S.[inner] als durch mein Versprechen gebunden. Ich sehe nicht, wie ich mich mit einer guten Art loßmachen könnte, und der ctnbarras, worein mich [3J dieses setzt, betäubt mich zuweilen Digitized by Google 222 Zwei Wieland-Briefet mitgetheilt von Crilger. so sehr, daß ich Ihnen nur keine Beschreibung davon machen möchte. Die Servilische Arbeit, wozu ich verurtheilt bin, that ihre natürliche Würkung auf meinen Geist Ich werde verdrieslich und unwillig zu anstrengenden Studien, ich habe keine genügsame Zeit zum lesen und schreiben, mein Genie schrumpft in einen kleinen pädagogischen Cirkel zusammen, und wenn das lange fortwährte, so wäre ich für die Welt verlohren. Hr. Prof. Stapfer, Hr. Tscharner ein Tochter- mann des Hrn. Rathsbr. v. Bonstetten, meines besondern Gönners, und Hr. Fellenberg, ein junger Mann von grossen Talenten and mein intimster Freund, (ein Sohn des Hrn. Rathsherren Fellenberg) alle drey interessieren sich aufs äusserste für mich und werden nicht ruhen, biß sie mich errettet haben. Wir haben einige Vorschlüge, wovon der eine oder andere gerathen wird. Die gröste Schwierig- keit ist den Hrn. S. nicht mißvergnügt zu machen. Hr. Stapfer und die Herren Tscharner empfehlen Sieb Ihnen und nnserm gemeinschaftlichen Freund, Hrn. Prof. Bodmer. Seyn Sie so gütig demselben auch meine geh.forsamstej Empfehlung zu machen. Ich bin verdrieslich über mich selbst, daß ich Ihm letzt- hin einen Brief von so wenigem Inhalt geschrieben habe. Aber es • war damals dunkel und öde in meinem Kopf; ich wünschte mich immer nach Zürich und zu meinen Freunden, und doch hatte ich nicht [nit] Activität genug den Mangel des persönlichen Umgangs durch den schriftlichen zu ersetzen. Die hiesigen Gelehrten, unter denen Hr. Prof. Kocher König ist, scheinen mir Uberhanpt sehr beschäftiget zu seyn, nichts zu thun. Indessen sind doch erst kürzlich zwey Brockures herausgekommen, die ich Ihnen nächstens zu Ubersenden die Ehre haben werde; eine d'une Coionie &Egyp- tiens etablie aux Indes, von Hrn. Schmidt, und die andere Extrait de quelques poesies du XII XIII. u. XIV. Steele par W. le Bibliothe- caire Smner, lumttne de gerne, et dum eruditwn brillante. [4] Ich habe ein Anligen, welches ich noch die Freyheit nehmen will, Ihnen zu eröfnen. Die Verbindlichkeiten, die ich gegen Hrn. Gesner zu haben glaubte, machten, daß ich ihm ein positives Ver- sprechen that, ihm meine poetischen Werke zum Verlag und Druk zu überlassen. Ich wollte ihn nehmlich dadurch für die zu Macu- latur gewordne Abhandlung vom Noah und für den unnützen Druk der 1 6 aneedotischen Exemplare die ich vom Theages hatte machen lassen, schadlos halten. Dieses Versprechen setzt mich hier in grosse Verlegenheit. Die Kntreprennemrs der neuen Drukerey u. Buch- handlung, (welches Leute sind, die nichts dabey gewinnen wollen) bieten mir für jeden Bogen einen LouiscVor neuf an, wenn ich ihnen meine poetischen Werke überlassen wolle. In meinen itzigen Um- ständen ist es verdrieslich genöthiget zu seyn ein solches Anerbieten abzuschlagen. Aber das ist nicht alles. Die Entfernung von Zürich machte es für Hr. Gesner und mich äusserst embarassant, wenn diese Digitized by Google Zwei Wieland-Briefe, mitgetheilt von Crüger. 22:i gedachten Werke zn Zürich in meiner Abwesenheit gedrukt. wür- den. Eine unendliche Menge von Dmkfehlern würde unvermeidlich seyn. Der Cyrus ist eine kleine Probe davon. Es wäre mir deß- wegen äusserst lieb, wenn ich von Hrn. Gesner meines Versprechens entlassen werden und eine andre Art meine Obligationen gegen Ihn zu erstatten finden könnte. Allein auf der andern 8eite besorge ich Hrn. Gesner, dessen Freundschaft ich unendlich hochschätze, zu dis- goustieren und ich scheue mich deßwegen ihm über diese Sache zu schreiben. Seyn Sie So gütig, mein theurester Freund, mir zu rathen, was ich thun und wie ich die Sache anstellen soll. Ich möchte gern Jederman zufrieden stellen können, und mich selbst dazu. Es ist gar nicht in der Ordnung zugegangen, daß ich von Dero Frau Gemalin nicht habe Abschied nehmen können. Doch meine Entfernung von Ihnen soll nur für eine etwas lange Spat zierreise gelten. Ich ersuche Ew. Hochw. derselben meine gehorsamste Em- pfehlung zu machen und Sie der hochachtungsvollen Dankbarkeit zu versichern, welche ich, so lange ich lebe, für alle Gtitigkeit und Freundschaft, deren Sie mich gewürdiget, erhalten werde. Empfehlen Sie mich allen, die Sich meiner erinnern, besonders dem Hrn. Ver- walter Lav. und Hrn. Can. Gesner, Hrn. Zunftmstr. Hirzel beym w. Cr. ingl. auch mit Gelegenheit Hrn. Gesner, Steinbrüche!, und Hrn. Dr. Hirzel. Leben Sie wol, Mein theurester Herr und Freund. Der Höchste Segne Sie für das unzähliche Gute, das Sie mir bewiesen haben, uud erhalte Sie gesund und glüklich, biß ich das unaussprechliche Ver- gnügen wieder haben werde, Sie zu umarmen. Leben Sie wohl, und bleiben gewogen Ihrem mit unsterblicher Hochachtung, Dankbarkeit und Liebe ergebnem, gehorsamsten Fr. und Diener Wieland. [Unten auf S. 1 : a Mr. le Chanoine Breltmgucr.\ 2. Hochwürdiger Herr, Theurester Herr und Freund. • Ehe ich mich dem Vergnügen Uberlassen kan, mich mit Ew. Hochwürden zu besprechen, muß ich Ihnen die Ursachen melden, die mich zu einem so langwierigen Stillschweigen veranlasst haben. Ich bin zwar nicht besorgt, daß ich mich dadurch bey Ihnen Selbst einer Kaltsinnigkeit nnd Vergeßlichkeit verdächtig gemacht haben möchte, die eine beklagenswürdige Gemüthsveränderung bey mir voraussezen würde; aber der Gedanke beunruhigt mich, daß andere, die mich nicht so genau kennen als Ew. Hochw., aus einem so un- erwarteten Betragen vermuthlich Schlüße gemacht haben, zu denen Digitized by Google 224 Zwei Wieland-Briefe, raitgetheilt von Crager. ich nur nicht den Schatten eines Aulaßes geben sollte. Diese Vor- stellung, dio mich allzuspät mit dem gehörigen Nachdruk gerührt hat, macht mich gegen mich selbst unwillig, ungeachtet ich mir be- \vus8t bin, daß alle Scbltiße, die man dißfals machen könnte, meinem Hertzen Unrecht thuu. Eine Freundschaft, wie die nnsrige gewesen ist, kan nicht aufhören, und ein Herz, wie das meinige ist, kan die- jenigen nicht vergessen, die es am meisten geliebt hat, und die es am meisten um mich verdient haben, geliebt zu werden. Aber ich kan mich doch nicht selbst von dem innerlichen Vorwurfe befreyen, daß ich mich in den vergangnen zween Monaten so stark durch meine gegenwärtige Umstände habe einnehmen lassen, daß die Erinnerung an meine Abwesenden und meine Verbindungen mit denselben darunter gelitten haben. Ich muß Ihnen erröthend gestehen, mein theurer Freund, «laß ein Brief, den ich heute an meine Eltern geschrieben habe, der zweyte ist, den selbige von mir erhalten, seit dem ich in Bern biu. Vernehmen Sie nun eine offenherzige Eröfnung meines äussern und innern Zustand* in der ganzen Zeit, da ich Ihnen nicht geschrieben habe, und beklagen oder verurtheilen Sie mich alsdann, 1 2 ) je nach- dem ich Ihnen das erste oder das andere mehr zu verdienen scheine. Das Sehr gütige und freundschaftliche Schreiben, womit Sie mich vor mehr als acht Wochen beehrten, wtirkte nicht wenig auf raein Gctnüth. Allein nichts als die Hofnung mich bald aus Hrn. 8. Hause zu entfernen, konnte mich völlig beruhigen. Hr. S. gieng da- mals etliche Meilen von hier eine Cur zu brauchen. Er blieb über drey Wochen aus. In dieser Zeit vermehrten sich meine De>agre- meus im Hause so sehr, daß ich endlich alle Geduld verlohr. Alles dasjenige, was mich allein hätte bewegen können, eine so sclavisclie Arbeit, als ich an dem Knäblein S. verrichten muste, mit Eifer und Lust zu thun, fehlte mir. Die besondem Umstände, die ich Ihnen in weniger als einem Jahr mündlich zu entdecken hoffe, werden Sie überzeugen, daß meine Situation würklich unerträglich war. Ich ver- lohr allen Muth, ich wich einer Schwehrmuth, die mein Gemüth fast aller Thätigkeit beraubte. Das Vergangne diente nur mir das Gegen- wärtige schwärzer vorzustellen; ich bemühte mich deß wegen es zu vergessen. Meine hiesigen Freunde, die mich mehr zu zerstreuen suchten, als daß Sie mir thätig zu helfen geneigt schienen, ver- mehrten ineinen Unmuth anstatt ihn zu lindern. In diesem Zustande war ein eintziges Haus der Ort, wo ich entweder Trost oder Ver- gessenheit meines Elends fand. Ich gieng oft dahin; ich wurde da- selbst nach und nach mit einer Freundin bekannt, die den Sommer und Herbst daselbst zubrachte, und ohne welche ich nicht begreiffen kan, wie ich mich hätte enthalten können, Bern in irgend einem Acceß von Muthlosigkeit gänzlich und plötzlich zu verlassen, So nachtheilig mir auch dieser Schritt gewesen wäre. Da Sie, Moin then- rester Freund, schon lange der gütigsto und liebreicheste Depositare Digitized by Google Zwei Wieland-Briefe, mitgetheilt von Crfiger. 225 aller Geheimnisse meines Hertzens gewesen sind, und da diese [3J Person nicht 'weniger als Serena verdient Ihnen bekannt zu seyn, So behalte ich mir vor, Ihnen eine umständlichere Nachricht von ihr bey anderer Gelegenheit zu geben. Wenige Tage vor Hrn. S. Zurükkunft zeigte sich endlich eiue anständige Veränderung für mich. Aber erst itzt giengen raeine Un- ruhen an. Wie Sollte ich Hrn. S. (den ich damals noch ziemlich estimierte, weil ich ihn noch wenig kannte) den Antrag thun, daß ich sein Haus verlassen wolle? Ich muste ihm Gründe geben, und keine Art der Einkleidung konnte denselben das beleidigende neh- men, das für ihn darum lag. Meine Beklemmung war unaussprech- lich. Endlich entschloß ich mich und that ihm meinen Antrag. Er nahm ihn aufs Höflichste an und erklärte sich besser, als ich hoffen durfte. Aber zween Tage hernach änderte er sein Betragen, und der Mad. S. ihres wurde beleidigend. Ein gewisser Verwandter von ihm, der mir die Ehre gethan hat mich von Anfang her allenthalben So sehr als möglich zu verkleinern, und der hier jedermann als ein Mensch von vielem Genie und Witz und eben so vieler Boßheit be- kannt ist, stellte ihm innerhalb dieser Zwischenzeit meine cffors, aus seinem Hanse mich zu entfernen auf der odiosesten Seite vor. Dieses und die ürtheile, die in der gantzen Statt über meine Veränderung gefällt wurden (jedermann schrieb sie der Misanthropie des Hrn. S. und dem bekannten Megiirischon Caracter seiner Frauen zu) er- bitterten ihn aufs äusserste. Er brütete etliche Tage, endlich blieb er einen ganzen Tag aus dem Hause und hinterlies mir eineu Brief, (Anm: nebst so vielem Geld, als er mir schuldig zu seyn calculirt hatte) der ein Meisterstük von der boßhaftesten Ironie war. Er affectirt darinn in den übertriebensten Hyperbolen von meinen Ta- lenten, wichtigen Geschäften und von der Kostbarkeit meiner Zeit zu reden, und sagt, weil ich mich erklärt hätte, [4] daß seine Sohne meiner Unterweisung und Aufmerksamkeit unwürdig seyen, ich auch dem zufolge mich schon anders arrangiert habe, So werde ich ihm nicht verdenken, daß er sich gleichfals arrangiert und seine Kinder einem Lehrer anvertraut habe, der nicht zu hoch für sie sey &c. Ich überlasse Ihnen selbst zu errathen, wie mich ein Betragen von dieser Art afficieren muste. Sobald Hr. S. wieder angelangt war, gieng ich zu ihm und suchte ihn durch eine freye und höflich o Art von Vorstellungen zu besänftigen. Ich sagte ihm, daß ich ihm sehr dafür verpflichtet sey, daß er mich sobald als möglich von einem Amt debarassiere, das mir unerträglich sey; daß es mich aber äusserst kränke, daß er sich von mir beleidiget glaube und daß diese Be- gebenheiten mich ihm in einem falschen Lichte zeigten. Die Herab- lassung, mich bey ihm zu entschuldigen, war bey ihm übel angewandt, doch war er auf eine trokue Art höflich. Auf meine Erklärung, daß ich entschlossen sey, sein Haus gleich den folgenden Tag zu räumen, Archiv v. LiTT.-G*Kcn. XIII. 15 Digitized by Google 226 Zwei Wieland-Briefe, nritgetheilt von Crüger. bezeigte er sich unruhig und drang in mich, noch etliche Tage da zu bleiben. Allein ich bediente mich des folgenden Tages etlicher Stunden, da ausser den domestiqucn niemand bey Hause war, pakte alles zusammen und zog in mein neues quartier, wo alles schon zu meinem Empfang bereit war. Abends gieng ich wieder zu Hrn. S. ich gab den domestiqucn, die mich alle sehr regredierten, Geschenke. Hierauf, als die Kinder ankamen, nahm ich von ihnen einen sehr zärtlichen und feyerlichen Abschied. Ich redete über eine Stunde mit Ihnen, und die Knaben und Mädchen weinten sich schier zu Tode, und bezeugten mir ihre Zärtlichkeit auf eine Art, die mich selbst äusserst rührte. Eudlich langte auch Monsieur et Madame an. Sie waren ungemein betroffen, da ihnen gesagt wurde, ich sey schon ausgezogen und sey itzt gekommen Abschied zu nehmen. Sie hatten mich nicht so vorsichtig geglaubt alles zum voraus so wohl einzu- richten; sie wußten nicht, daß ich [5J schon ein Quartier hatte, und waren also beschämt, daß Ihnen ihre Hofnung, mich in Verlegen- heit zu setzen fehlgeschlagen. Sie bezeugten Sich gegen mich über meine Eilfertigkeit bestürzt, waren aber überaus höflich. Beym Ab- schied übertreffen sie sich eines das andere in politen Complimenten, Anerbietungen, Freundschaftsversicherungen und Einladungen oft zu ihnen zu kommen-, alles Vergangne sollte in Vergessenheit gestellt und nicht die mindeste raneune übrig seyn. So entließ man mich. Ich fieng an wieder aufzuleben, da ich den Fuß aus diesem ver- ha8sten Hause setzte. Ich hoffte nun etliche vergnügte Tage biß zum Anfang meiner neuen lectionen zu Bellevue bey meinem Freunde Hrn. Bernhard Tscharner zu leben, aber auch dahin verfolgten mich neue Unruhen. Ich erfuhr die niederträchtige Art, wie sowohl Hr. S. als sonderlich seine dorne von mir sprächen, und ob gleich die ganze Stadt sie für allzupartheyisch hielt und meine demarchc billig fand, So hatte ich doch allerley Verdruß von diesem Betragen des Hrn. S. welches mich zu unbeliebigen Apologien nöthigte und mich zum Gegenstand der Urtheiie aller, die mich kannten und nicht kannten, machte. Ein ziemlich verdriesliches, itzo aber gänzlich bey- gelegtes Geschäfte mit der Mad. la Roche, und eine noch itzt dau- rende und mir noch immer rätzelhafte Entzweyung mit Hrn. Dr. Zimmermann kamen noch zu allen diesen Verdrieslichkeiten hinzu. Ich hatte nicht einmal Muße, angenehme Briefe zu schreiben und sähe mich gezwungen, auf unangenehme zu antworten. Endlich giengen zu Anfang des vorigen Monats meine neuen Arrangemens und Arbeiten an, und mit ihnen [ist] die Epoque eines Zustande, der die ersten 9 Wochen, die ich hier in Statu Exinanitionis habe zubringen müßen, gänzlich aus meinem Andenken vertilget. Ich bin nun in einer so guten Situation als ich nur wünschen [6] kan. Ich wohne bey Leuten, die mich lieben, die Achtung und Sorgfalt für mich haben, und mit denen ich vertraulich und ungeniert leben kan. Digitized by Google Zwei Wieland- Briefe, mitgetheilt von Criiger. 227 Meine Eleves sind so gut, als ich sie hätte auswählen können, und ich habe deu Nachmittag gänzlich zu meiner duywsitioti. Ich fango wieder au [zuj studieren, ich prepariere die Arbeiten des Winters, ich komme wieder zu mir selbst, und erinnere mich nach und nach wiedor wie einer, der aus einer lethargie erwacht, an das was ich ehmals gewesen. Soll ich itzo noch genauere Rechenschaft von den Ursachen meines langen Stillschweigens geben? So lange ich bey Hrn. S. war, konnte ich mich unmöglich entschließen, Ihnen, mein theurer Freund, noch einmal mit Klagen und melancholischen Ideen Unruhe zu machen. Und ich muste entweder dieses thun, oder schweigen. Seit der Zeit aber, da ich aus dem Kerker bin, muste ich zwanzigmal das Vorhaben an Sie zu schreiben, wozu mich mein Herz oft trieb, von einem Tage zum andern schieben, ohne daß die gewünschte Muße kam, worauf ich mich vertröstete. Ich gestehe Ihnen aber, daß meine häuffigen Besuche in Altenberg (dieses ist das freundschaftliche Haus, von dem ich oben gesprochen) einen guten Theil daran schuld waren, daß ich so wenig Muße hatte. Es war natürlich, daß ich mich dem eintzigeu Trost, den ich zu Bern hatte, dem eintzigen, was mir die Lust zum Leben noch erhielt, dem Vergnügen, meine Freundin zu sehen, mit einigem Enthousiasmus überlies. Sie ersezte mir einigermaßen alles, was mir in Zürich am liebsten gewesen war; sie • war mein Freund und meine Freundin. In der That brauchte es nichts geringers als ein Frauenzimmer, die neben vielen Annehmlich- keiten uud allen Tugenden, die ihr Geschlecht vorzüglich schmücken, einen männlichen Geist und fast unerschöpfliche ressources [7] in Absicht der Conversation hat, um die quälende Sehnsucht nach Zürich zu stillen, die mich in den ersten Wochen gegen alle Ehrenbezeigungen und Ergötzungen, womit ich bestürmt wurde, unempfindlich machte. Je weniger ich vermuthet hatte in Bern eine Person zu finden, welche die verschiednen Vorzüge der Frau la Roche und der vor- treflichen Dame, bey der ich in Zürich gewohut habe, in sich ver- einigte und über beyde noch den Vortheil einer bey ihrem Geschlecht seltnen Wissenschaft und Übung des Geistes hätte, um so stärker mussto sie mich einnehmen, und um so mehr glaube ich Entschul- digung zu verdienen, daß ich die Gelegenheit sie so oft als möglich zu sehen, nicht aus den Händen gelassen habe. Nunmehr bitte ich Sie, theurester Herr und Freund, diese Art von Apologie für mein langes Stillschweigen so aufzunehmen, wie sie aus meinem Herzen komt. Ich bin weit entfernt meine Briefe für wichtig zu halten. Aber unsere Freundschaft ist mir heilig, und ich kan nicht ruhig seyn, so lang es das Ansehen hat, als ob ich einer Kaltsinnigkeit gegen meine würdigsten und geliebtesten Freunde fähig sei. Mein Brief ist so groß worden, daß ich von andern Dingen 16* Digitized by Google 228 Zwei Wieland-Briefe, mitgetheilt von Crüger. und von meinen Arbeiten ein andermal sprechen muß. Nur nehme ich die Freyheit, Ihnen den Plan einer Schrift zu schicken, an der ich, wenn selbiger Dero Beyfall erhält, diesen Winter arbeiten möchte. Ich ersuche Ew. Hochwurden mich unserm gemeinschaftlichen Freunde Hrn. P. Bodmer aufs angelegentlichste zu empfehlen und Ihn zu bitten diesen Brief auch als an Ihn geschrieben anzusehen. Haben Sie auch [8] die Gütigkeit nebst allen andern Gönnern, die sich meiner erinnern, den Hrn. Verw. Lavater und Hrn. Can. Geßner und Hrn. Zf M. Hirzel vorzüglich meines Respects zu versichern und mir Dei- sel ben geneigtes Andenken auszubitten. Auch bitte ich besonders Dero F. Gemahlin und meiner allezeit theuren Frau Prof. Bodmerin meine ehrerbietige und freundschaftlichste Begrüßungen angenehm zu machen. Ich hoffe, Hr. P. Bod. werde meinen letzten Brief von Bellevue datirt erhalten habeu. Hrn. Gesnern werde nächstens antworten. Es wird mich sehr freuen, wenn unsre Freunde zu W. sich wohl be- finden. Der Himmel verhelfe uns allen in einer bessern Welt wie- der zusammen! die itzige erleidet mir oft recht herzlich, wenn ich daran denke, wieviel theure und werthe Freunde sie mir vorenthält. Leben Sie wohl, verehrenswürdiger Freund! und vergeben Sie mir mit Ihrer so oft gegen mich bewiesenen Güte und Nachsicht, worinn ich Vergebung nötig habe. Ich bin von gantzem Herzen mit der wahresten Ergebenheit und Hochachtung Ew. Hochwürden Bern, den Octob. 1759. (sie) gehorsamster und ver- bundenster Diener n. F. Wieland. [Auf S. 1 unten: Jf. Ic Chanoinc Breitingucr.] Digitized by Google Wielands, Eschenbnrgs und Schlegels Shakespeare- Uebersetznngen. Von Bernhard Seüpfert. Zolling hat im Anhange zu seinem Buche „Heinrich von Kleist in der Schweiz" (Stuttgart 1882) S. 122 f. einen Brief Wielands veröffentlicht, worin dieser seinem Schwiegersohne IJeinrich Gessner, dem Theilhaber der Firma Orell, Gessner, Füssli & Comp, in Zürich, die Uebernahme der Schlegelschen Shakespeare-Uebersetzung angelegentlich empfiehlt. Der Her- ausgeber hätte in demselben Gessnerschen Nachlasse, dem er jenes Schreiben entnommen hat und den ich in Schaffhausen beim Besitzer, Herrn Zolldirector Gessner, einsehen durfte, noch weitere auf Shakespeare bezügliche Stellen finden können. Als im Juni 1795 Heinrich Gessner zur Verehelichung mit Charlotte Wieland in Weimar war, besprach er mit dem Vater seiner Braut neben andern Verlagsartikeln auch eine neue Auflage der Wielandischen Uebersetzung von Shakespeares theatralischen Werken. Mit Bezug darauf schrieb ihm Wie- land am 10. Januar 1796: . . . „Das was ihr mir mündlich von einer künftigen neuen Auflage des Shakespears gesagt habt, habe ich nicht auf die Erde fallen lassen; das Resultat meiner Gedanken über diese Sache ist: weil ein ansehnlicher Theil des Publikums doch immer noch an meiner Uebersetzung, trotz aller ihrer Mängel, hängt, so wäre wohl am besten, wenn Eschenburg und ich diese neue Ausgabe gemeinschaftlich besorgten. Wenn Herr Eschenburg dies zufrieden wäre, so wollte ich, meines Orts, recht gerne die Hand dazu bieten, ohne meine Mühe allzuhoch anzurechnen. Ueber das Quo- modo wollen wir dereinst mündlich sprechen: denn ich denke, Digitized by Google 230 Seuffert, Wielands, Escheuburgs u. Schlegels Shakespeare- Uebers. die Sache pressiert noch nicht so sehr, dass es nicht bis da- hin Zeit hätte." Unzweifelhaft wurde die Angelegenheit während Wielands Anwesenheit zu Zürich im Sommer 1796 weiter erörtert; Eschenburg ward für eine neue verbesserte Ausgabe seiner prosaischen Uebertragung gewonnen. Aber noch bevor Wie- land nach Weimar zurückgekehrt war, gab Eschenburg seine Absicht auf, als Schlegel ihm persönlich in Braunschweig zu Anfang des Juli seinen Plan einer poetischen Uebersetzung er- öffnet hatte. Schlegel ward sich nicht klar, ob dies aufgeben ein festgesetzter Entschluss oder nur die Stimmung eines Augen- blicks war; er legte aber auch kein Gewicht auf Eschenburgs Verhalten, von der Ansicht geleitet, beide Uebersetzungen hätten einen so verschiedenen Zweck, dass sie sehr gut neben ein- ander bestehen könnten. Nur in so ferne war ihm Eschen- burgs Entschluss von Wichtigkeit, als er einen Verleger für seine Nachdichtung suchte und durch Göschen erfahren hatte, nach Wielands Meinung werde Orell sein Werk übernehmen wollen; das war natürlich nur möglich, wenn auch Orell nicht auf eine Erneuerung der Eschenburgschen Uebersetzung, seines Verlagsartikels, bedacht war. Um diese Zweifel zu lösen, wendete sich Schlegel am 21. und 25. November an Böttiger mit der Bitte, von Wieland Aufklärung zu erholen, und fügte zugleich die Bedingungen bei, unter welchen er der Zürcher Firma sein Werk überlassen wolle (s. dieses Archiv Bd. III S. 152 ff.). Dies war die Ver- anlassung zu Wielands Brief vom 5. December (Zolling a. a. 0.) : Wieland theilte Schlegels Anfrage mit, empfahl ihn als einen dem Unternehmen gewachsenen Mann, gab jedoch der Societat seines Schwiegersohnes zu bedenken, ob sie die bedeutenden Kosten daran setzen wolle; das Honorar, das Schlegel ver- lange, sei hoch, aber „in Rücksicht der auf eine so schwere Arbeit zu verwendenden Zeit und Mühe in der That nicht zu viel". Zugleich erklärte Wieland, dass er eben so wie Eschen- burg auf eine neue Ausgabe der eigenen Uebersetzung ver- zichte. Der geschäftige Böttiger war Wieland mit der Eröffnung von Schlegels Wünschen zuvorgekommen; am Tage, nachdem Digitized by Google Seaffert, Wielamls, Hachenburgs u. Schlegels Shakespeare- Uebers. 231 Wielauds Empfehlungsbrief nach Zürich wanderte, schickte Gessner jenem schon die Antwort; die Societät fand die Honorarforderung „enorm" und beauftragte Böttiger, Schlegels Antrag abzulehnen, ausser wenn er diese neue Bearbeitung Shakespeares für so bedeutend erachte, dass sich die grosse Entreprise wagen lasse (s. dieses Archiv Bd. III S. 156 f.). Böttiger scheint nicht den Muth gehabt zu haben, die Ueber- nahme zu befürworten; so wurde Wielands Schreiben gegen- standslos. Schlegel schloss rasch mit Unger ab; der Druck der Uebersetzung ward wahrscheinlich schon am 5. Januar 1707 begonnen. Am 29. Januar nahm Wieland in einem Briefe an Gessner die Angelegenheit wieder auf. Die Ausgewählten Briefe (Bd. IV S. 134) enthalten nur das Ende dieses Schreibens. Wieland sagt zuvor: „Dass Schlegel für seine metrische Uebersetzung des Shakespeare bereits einen Verleger in Berlin hat, wisst ihr itzt schon aus Böttigers letztem Briefe. Dankt Gott dafür, säumt Euch aber auch keinen Augenblick an Eschenburg zu schreiben, und ihm die Bereitwilligkeit der Handlung, sich auf billige Conditionen in eine Neue verbesserte Ausgabe seiner prosaischen Uebersetzung einzulassen, zu noti- fizieren, auch seine Conditionen euch auszubitten. Sollte dann die Gesammthandlung darauf nicht entriren wollen, so könntet ihr und Herr Obmann Füssli schwerlich etwas klügeres thun, als diese neue Eschenburgische Ausgabe gemeinschaftlich zu übernehmen. Denn dass Schlegels gekünstelte Jamben, wobey Shakespeare mehr verlieren als gewinnen wird, wenig Glück machen, Eschenburgs Arbeit hingegen immer wesentliche Vor- züge vor der Schleglischen behaupten wird, darauf könnt Ihr sicher rechnen." Das klingt nun freilich ganz anders als der Brief, mit welchem Wieland kaum zwei Monate zuvor den Antrag Schle- gels an die Firma begleitet hatte. Wielands zweideutiges Be- nehmen ist nicht erklärlich. Ich wüsste keinen Grund, warum er sich um das Neujahr 1707 mit Schlegel überworfen hätte. Er scheint den Verlag einer Shakespeare-Uebersetzung für so gewinnbringend erachtet zu haben, dass er denselben seinem Schwiegersohne durchaus nicht entgehen lassen wollte. Er drängte deshalb diesen im Februar — der Brief ist nicht Digitized by Google 232 Seuffert, WielandB, Eschenburgs u. Schlegels Shakespeare-Uebers. i I datiert — nochmals in der Sache: „Was ich euch letzthin wegen Eschenburgs Geneigtheit zu einer neuen Ausgabe seines Shakespeares geschrieben habe, wird man hoffentlich nicht auf die Erde fallen lassen. Immer wird es sehr wohl gethan seyn, wenn ihr (auch im Fall die Societät noch un- entschlossen wäre) vorläufig an ihn schreiben und zu Beschleu- nigung der Sache aufmuntern wolltet." Bekanntlich ist es Wieland gelungen, Eschenburg wort- brüchig zu machen. Vom Jahre 1798 an erschien in Zürich eine „Neue ganz umgearbeitete Ausgabe" der Schauspiele. Den Brief- wechsel, der zwischen Eschenburg und Schlegel sich entspann, als Orell & Comp, ihre Ankündigung derselben erlassen hatten, hat Bernays im Anhange zu seiner Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare veröffentlicht (S. 255 ff.). Sein In- halt und die obigen Mittheilungen ergänzen sich gegenseitig.1) 1) Da hier von Wielands Shakespeare-Uebersetzung die Rede ist, so will ich aus dem Böttigerschen Nachlass im Besitz der k. ö. Bibliothek Dres- den eine in den „Literarischen Zuständen und Zeitgenossen" Bd. 1 S. 251 unterdrückte Stelle mittheilen, in welcher von Wielands erster Beschäf- tigung mit Shakespeare die Rede ist: .,ln Biberach, sowie in vielen schwäbischen Reichsstädten spielten sonst die Bürger selbst des Jahrs zweimal Komödie, wobei immer einer der jungen Rathsmänner Director war. Diese Beamtung wurde in Biberach Wielanden zu Theil, der sich in diesem wichtigen Posten eines gewissen Dettenrieder, nachmals alH Schauspieldirector Abt hinlänglich bekannt, zum Adjutanten bediente. Wieland schnitt zu dieser Haupt- und Staatsaction ein Stück aus Shake- speares Mid summer nights droom und Tempest zusammen . . Vgl. Wielands Leben und Wirken von Ofterdinger, der über das Biberacher Theater weitere neue Mittheilungen in den Württembergischen Viertel- jahrsheften 1883 S. 36 ff. 113 ff. 229 ff. gemacht hat. Digitized by Google Faust -Stadien. Von Friedrich Meyer von Waldeck. L Welches Faust-Buch hat Ooethe gekannt* und benutet? Bei Abfassung der ältesten Theile seiner Faust Dichtung kannte Goethe, ausser dem Puppenspiel, jedenfalls eins der so- genannten Faust-Bücher, welche die früheste litterarische Ge- staltung der eigentlichen Faust-Sage umfassen. Welches von diesen ihm zur Hand gewesen und gedient hat, ist bisher nicht festgestellt worden. Die folgende Untersuchung soll diese dem Goethe-Forscher interessante Frage wenigstens an- nähernd zu beantworten suchen. Die ältesten Faust- Bücher bilden die folgende chrono- logische Reihe: 1) Das Frankfurter oder Spiesische Faust-Buch (S). Dasselbe wurde zur Herbstmesse 1587 von dem Buchdrucker Johann Spies zu Frankfurt a. M. herausgegeben; der Name des Verfassers ist unbekannt. Es erfuhr eine beträchtliche Zahl von Auflagen mit verschiedenen Erweiterungen. 2) Das Hamburger Faust- Buch von Georg Rudolf Widmann (W) erschien 1599 zu Hamburg in drei Quartan- ten; eine pedantische, nüchterne, geistlose Ueberarbeitung und Erweiterung von S. 3) Das Faust -Buch des Nürnberger Arztes Christian Nikolaus Pfitzer (P); eine abgekürzte, wenig veränderte, etwas berichtigte und vermehrte Bearbeitung von W, publi- ciert 1674 zu Nürnberg, im Verlage der Familie Endters. 4) Das Buch eines Pseudonymus, der sich den Christ- lich Meynenden nennt (M). Dasselbe erschien 1728 in Digitized by Google 234 Meyer vou Waldeek, Faubt-Studit-n. Frankfurt und Leipzig und ist eine gedrängte, freie, im Volks- ton gehaltene Bearbeitung von P mit Hinweglassung alles ge- lehrten Beiwerks. Der Christlich Meynende ist die Grund- lage der 5) auf den Jahrmärkten und Messen feilgebotenen Volks- bücher (V). Um nun mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlich- keit dasjenige unter den Faust-Büchern zu bestimmen, welches Goethe bei seiner Dichtung gekannt und benutzt hat, habe ich den folgenden Weg eingeschlagen. Ich wählte hervor- stechende, praegnante Züge der Goetheschen Tragoedie, die zweifellos nicht Erfindung des Dichters, auf alter Ueberlieferung beruhen, und stellte fest, in welcher der angeführten litterari- schen Darstellungen der Sage diese Züge sich vorfinden. Das Faust-Buch, welches alle oder doch die meisten von diesen Zügen enthält, hat die grösste Wahrscheinlichkeit für sich, dem Dichter als Quelle seines Stoffes gedient zu haben. Die von mir ins Auge gefassten Motive der Dichtung sind folgende: I. Bei dem fingierten Citat aus der Schrift des Nostra- damus oder eines andern Weisen im ersten Monolog: Die Geisterwelt i»t nicht verschlossen; Dein Sinn ist zu, dein Herz ist todt! Auf, bade, Schüler, unverdrossen Die ird'sche Brust im Morgenroth! gebraucht Goethe das Wort „Morgenroth" als Ausdruck für das Studium der Magie. Ohne Zweifel lag ihm dabei das magische Experiment im Sinne, welches die Adepten crepu- sculum matutinum nannten und von dem es in P heisst: „in- gleichen gebrauchte er (der junge Faust) auch an hohen Fest- tägen, wenn die Sonn Morgends frühe aufgienge, daß so genannte crepusculum matutinum, und andere abergläubische Sachen mehr". II. In der Besch wörungsscene lallt der Nebel, Mephisto- pheles, gekleidet wie ein fahrender Scholasticus, tritt hinter dem Ofen hervor und sagt alsbald: Ich salutire den gelehrten Herrn! Ihr habt mich woidlich schwitzen machen. Digitized by Google Meyer von Waldecfc, Faust-Studien. 235 Das Faust- Buch berichtet: „da ersihet er gleich zur Mittags- Zeit eiueu Anblick nahe bey dem Ofen, gleich als einen Schatten hergehen, und dünckte ihn doch es wäre ein Mensch; bald aber sihet er solchen auf eine andere Weise; weßwegen er zur Stunde seine beschwörung aufs neue anfienge, und den Geist beschwüre, er solte sich recht sehen lassen. Da ist alsobald der Geist hinter den Ofen gewandert, und hat den Kopff als ein Mensch hervorgestrecket, sich sichtbarlich sehen lassen, und vor dem D. Fausto sich zum öfftesten gebücket und Reverentz gemachet" U\. In der Vertragsscene sagt Faust: Das Drüben kann mich wenig kümmern; Schlägst Du erst diese Welt zu Trümmern, Die andre mag darnach entstehn. In den Faust -Büchern heisst es: „allein D. Faustus trachtete nur dahin, wie er seine Wollust und Mütlein in dieser Welt recht abkühlen möchte, und war eben auch dieser Meinung, welcher jener vomeme Herr gewesen, der unter andern auf dem Reichstage zu etlichen gesaget hat: Himmel hin, Himmel her, ich neme hier das Meinige, mit dem ich mich auch erlustige, und lasse Himmel Himmel seyn; wer weiß, ob die Auferstehung der Tod ten wahr sey?" IV. Bei Goethe ist Mephistopheles nicht der Teufel selbst, sondern der Abgesandte einer höheren, mächtigern daemonischen Macht Er sagt: Ich bin keiner von den Grossen; Doch willst du mit mir vereint Deine Schritte durchs Leben nehmen/ So will ich niich gern bequemen, Dein zu sein auf der Stelle. Ich bin dein Geselle, Und mach' ich dirs recht, Bin ich dein Diener, bin dein Knecht! Auch in den Faust - Büchern wird der Geist Mephostophiles vom Teufel, seinem Obersten, gesandt, um Faust zu dienen. V. Wie Kuno Fischer in seinem Buche über Goethes Faust mit überzeugendster Klarheit erwiesen, gehört in den älteren Theilen der Dichtung Mephistopheles, der Abgesandte des Erd- geistes, keineswegs der Hölle an, sondern ist vielmehr eine Digitized by Google 230 Meyer von Waldeck, Faubt- Studien. Art irdischen Daemons, ein Erdkobold, ein spiritus familiaris. In der Sage, wie sie die Faust- Bücher überliefern, spricht Mephostophiles: „so solst du dich auch vor mir nicht entsetzen, denn ich bin kein scheußlicher Teuffei, sondern ein Spiritus familiaris, der gerne bey den Menschen wohnet" VI. In mehreren Quellen der Sage wird dem Faust das lesen verschiedener Bücher der Bibel verboten, andere werdeu ihm gestattet. So sind ihm von den Evangelien: Matthaeus, Marcus und Lucas zugestanden, Johannes ist ihm untersagt. Offenbar schwebte dieses Verbot dem Dichter vor, als er seinen Helden gerade das der Hölle besonders verhasste Evangelium übersetzen und dadurch die Verwandlung des Pudels beschleu- nigen Hess. VII. Auf die Frage Fausts, was für ein Geist Mephosto- philes sei, antwortet derselbe in den Faust-Büchern, er sei ein • fliegender Geist und wohne mit andern unter dem Himmel (bei W heisst es, er habe sein Regiment unter dem Himmel). Auf dem Spaziergange vor dem Thor sagt Goethes Faust: 0, giebt es Geister in der Luft, Die zwischen Erd' und Himmel herrschend weben, So steiget nieder aus dem goldnen Duft Und führt mich weg zu neuem, buntem Leben! VIII. In den Ueberlieferungen der Sage von Pötzer an liebt Faust ein armes schönes und tugendhaftes Mädchen vom Lande, die bei einem Krämer zu Wittenberg dient. Er will sie zum Weibe nehmen, wird aber vom Teufel daran verhin- dert. Hier haben wir den ersten Impuls zu der ergreifenden Gretchen-Tragoedie. Ausser diesen acht Motiven, die Goethe der Ueberlieferung verdankt und die vorzugsweise in die Augen fallen, lassen sich noch manche andere auffinden; vor der Hand sei es mit diesen genug. Ich stelle sie der Reihe nach zusammen, indem ich neben der Nummer eines jeden bemerke, in welchen Faust- Büchern dasselbe sich findet. Motiv I kommt vor in den Faust-Büchern W, P, M, it m n iy n » n P, , IV „ „ n „ „ S, W, P, M, V, Digitized by Google Meyer vou Waldeck, Faust-Studien. 237 Motiv V kommt vor in den Faust-Buchern W, P, M, VI W P M » v 1 n n 11 11 » " y 1 1 mi VII S W P ii VIII „ „ „ „ n P, M, V. Es ist also am wahrscheinlichsten, dass Goethe Pfitzers Buch gekannt und benutzt hat; nächst diesem hatte Wid- inaun den meisten Anspruch, dem Dichter als Quelle gedient zu haben. Die obige nicht mühelose Untersuchung war im Jahre 1882 eben beendet, als H. Düntzers neueste Faust- Ausgabe in der Spemannschen Sammlung „Deutsche National- Li tteratur" erschien und ich in der Einleitung zu derselben (S. IV) ohne jede weitere Begründung einfach behauptet fand, Goethe habe den Pfitzer gelesen. Selbstverständlich interessierte es mich in hohem Grade, zu erfahren, auf welchem Wege der verehrte Goethe- Forscher zu dieser Ueberzeugung gelangt sei. Auf meine schriftliche Anfrage erhielt ich bald die freundliche Antwort, „die betreffende Ansicht sei von A. v. Keller in seinem 1880 erschienenen Abdruck des Pfitzerschen Buches ausgesprochen, begründet und eine weitere Darlegung in Aussicht gestellt worden". Mein Erstaunen wuchs. Eben noch hatte ich Kellers Ausgabe (Stuttg. literar. Verein, Puhl. 146, 1880) Seite für Seite durchgearbeitet und nirgends die Ansicht, Goethe habe Pfitzer gelesen, ausgesprochen, begründet und eine weitere Dar- legung verheissen gefunden, wollte man nicht drei kurze An- merkungen des Herausgebers dafür nehmen, von denen die letzte (S. 728) mit den Worten schliesst: „Andere Stellen in Goethes Faust, welche wörtlich an unser Buch anklingen, zu berühren, behalte ich mir für andere Gelegenheit vor." Ich wandte mich nun an Freund v. Keller, der, obwol damals schon halb erblindet, mir sofort die gewünschte Auskunft gab. „Mit Düntzers Angabe", schrieb er, „hat es eigentlich seine Richtig- keit; nur hat er die Sache etwas erweitert. Als ich den Pfitzerischen Faust wieder las, stiessen mir allerlei Anklänge an Goethes Ausdrucks weise auf und ich notierte mir dieselben auf ein Blatt. Als ich nun in dem Anhang meiner Ausgabe Gebranch davon machen wollte, hatte ich es leider verlegt, daher die Aeusserung S. 728. Ich hoffte das Blatt wieder zu Digitized by Google 238 Meyer von Waldeck, Faust-Studien. finden oder die Zeit, um das Buch aus diesem Gesichtspunkt wieder durchzulesen. Leider ist mir beides bis jetzt nicht ge- glückt." Darüber ist nun der Freund hinweggestorben. Was die drei Anmerkungen Kellers zu seiner Ausgabe des Pfitzerschen Faust -Buches betrifft, so beruht die Ueber- einstimmung zwischen diesem und Goethe, auf welche er in jenen Noten hinweist, nur in einer entfernten Aehnlichkeit des Ausdrucks, welche recht wol eine zufällige sein kann, keines- wegs aber in der Verwandtschaft wesentlicher Verhältnisse oder Gedanken. Zu Th. I. Cap. 13, wo Mephostophiles verspricht, dem Faust ein treuer Diener zu sein, citiert v. Keller die Stelle: Willst du, mit mir vereint, Deine Schritte durchs Leben nehmen, u. s. w. Der bei Goethe und Pfitzer ausgesprochene Inhalt hat gar keine Verwandtschaft, die ganze Aehnlichkeit beruht in den Worten Pfitzer: ich bin ja dein Diener, dein getreuer Diener . . . Goethe: bin ich deiu Dieuer, bin dein Knecht. Das letzte Zauberstück in Auerbachs Keller, der Weinstock, dessen Trauben die verzauberten Gesellen schneiden wollen, während jeder des Nachbars Nase in der Hand hält, erzählt Pfitzer als Anmerkung zu Th. II. Cap. 11 mit dem Zusatz, die Scribenten hätten solches von Faust oder einem andern berichtet, v. Keller nahm das für einen gemeinsamen Zug bei Pfitzer und Goethe. Dieselbe Geschichte wird aber bereite (1586) in Lerchheimers „Christlichem Bedenken" erzählt und der Zauber einem unbekannten fahrenden Wunderthäter zu- geschrieben. Sie ist dann in dem erweiterten Spies von 1598 wortlich auf Faust übertragen und findet sich (1602) in des Philipp Camerarius „Operae horarum subeisivarum centuria ]ma« Goethe kann sie möglicher Weise dem Pfitzer entnommeu haben; in W und M findet sich nichts dergleichen. Was endlich v. Kellers dritte Bemerkung angeht, so hat dieselbe noch weniger Beweiskraft, als die beiden vorhergehen- den. Th. II. Cap. 14 bei Pfitzer kündigt Mephostophiles dem Faust sein nahes Ende an. Reue, Furcht, zittern und zagen Digitized by Google Meyer von Waldeck, Faust- Studien. 239 bemächtigen sich des verzweifelnden Magus. Der böse Geist tröstet ihn und sagt unter anderem: „Und ob du schon als eiu Verdammter stirbst, so bist dus doch nicht allein, bist auch der Erste nicht . . ." Das erinnert v. Keller an die „Trüber Tag. Feld" überschriebene Prosascene am Ende des ersten Theiles von Goethes Faust, in welcher Mephisto pheles von deui unseligen, verlassenen, gefangenen Gretchen sagt: „Sie ist die Erste nicht." Eine Begründung der Bekanntschaft Goethes mit Pfitzer enthalten demnach die drei Bemerkungen v. Kellers nicht, und hat auch der ebenso verdiente wie bescheidene Gelehrte mit denselben etwas derartiges nicht gewollt. Am Schlüsse seiner Mittheilung sagt er selbst: „Sie sehen, dass ich mich jedes- falls in der Sache nicht berühmen darf, was auch gar nicht meine Absicht ist." Das Resultat meiner Untersuchung wird neuerdings durch einen Ausspruch Scherers bestätigt.1) Er sagt: „Das Ende der Spaziergangsscene sowie die Beschwörungsscene zeigen spe- cielle Anklänge an Pötzers Faust-Buch, das Goethe, wie mir Herr v. Loeper mittheilt, vom 18. Februar bis 9. Mai 1801 aus der Weimarischen Bibliothek entlehnt hatte." Für die älteren, im Fragment von 1790 enthaltenen Theile der Dich- tung könnte diese Thatsache freilich nur dann etwas beweisen, wenn Goethe den Pfitzer als ein ihm längst bekanntes Buch von der Weimarischen Bibliothek gefordert hätte. Interessant wäre esK wenn er gerade den Pfitzer entliehen hätte, obwol die Bibliothek — wie sich ja constatieren Hesse — Spies, Wid- mann oder den Christlich Meynenden besass. IL Das Hexeneinmaleins. Die Faust-Coramentare sind leider kein sonnebeschienenes Blatt in der Geschichte des menschlichen Scharfsinns. Wie oft suchen die gelehrten Ausleger bei dunkeln Stellen die tief- sinnigste Bedeutung in nebelhafter Ferne, während ihnen die 1) Studien Aber Goethe in der „Deutschen Rundschau" 1884. Heft 8 (Mai). S 254. Digitized by Google 240 Meyer von Waldeck, Faust-Studien. einfache, natürliche Wahrheit vor den Füssen liegt. Hat man doch bei der komischen Beschwörungsformel des Mephisto- pheles in Auerbachs Keller Trauben trägt der Wein stock, Hörner der Ziegenbock auf dem Knüppeldamm gelehrter Forschung die Analogie zwi- schen Ziegenbock und Weinstock gesucht, den Bock als Symbol der Fruchtbarkeit elektrisch beleuchtet u. dgl. m., während die Zeilen, die keinen Sinn haben sollen, nichts anderes sind als das Bruchstück eines alten Kinderliedchens und nur der Reim den Weinstock mit dem Ziegenbock zusammenge- führt hat.1) Aehnlich ist es dem sogenannten Hexeneinmaleins er- gangen. Man hat gefunden, dass in diesen sinnlosen Zeilen die Lehre des Pythagoras von den Zahlen als Principien der Dinge, der Einheit als Urgrund aller Vollkommenheit, der zehn als der vollkommensten Zahl, der zwei als Urgrund der Un- vollkommenheit u. s. w. zu leerem Wortspiel entstellt sei (Krupp, v. Loeper, Schröer). Man sah in ihm eine Parodie auf die kabbalistischen Schriften des Mittelalters, welche den Zahlen mystische Wirkungen beilegen (Taylor), sowie eine Nachahmung des leeren Klingklangs mystischer und alchy- mistischer Schriften (Düntzcrs Gr. Comm.; Carriere), auch hat man auf das bei Reuchlin vorhandene Material über die Be- deutung der Zahlen für das Verstäudniss der Bibel und des Dogmas hingewiesen (v. Loeper). Man sah im Hexeneinmal- eius die Verspottung der christlichen Lehre von der Dreieinig- 1) Noch heute singt man in meiner Heimat Westphalen, wonn man die Kinder auf dem Knie reiten lässt: Tripp, Trapp, Tröllchen, Der Bauer hat ein Föhlchen, Ein Föhlchen hat der Bauer, Das Leben wird ihm sauer, Sauer wird ihm das Leben, Der Weinstock der trägt Beben, Heben trägt der Weinstock, Hörner hat der Ziegenbock, Der Ziegenbock hat Hörner u. b. w. Digitized by Google Meyer von Waldeck, Faust- Studien. 241 keit (Düntzers Gr. Coram., Carriere, Schröer), und eine Cari- catur der römisch-katholischen Messe (Härtung). Andere wur- den von demselben an den „hirnwüthigen Jargon erinnert, welcher in den Schriften damals in die Philosophie pfuschen- der deutscher Magister herrschte, die sich von den Mänteln grosser Männer, wie Kant und Fichte, einige Flocken abge- lesen hatten" (Weber, Luther). Auch eine Verspottung frei- maurerischer Gebräuche hat man in dem Hexeneinmaleins ent- decken wollen — obgleich, wie es bei v. Loeper heisst — „Goethe selbst längere Zeit (sie) den Freimaurern angehörte". Nun war aber Goethe nicht allein bis zu seinem Lebensende Frei- maurer, sondern auch stets ein begeisterter und ernster An- hänger des Bundes, dem es nicht beifallen konnte, die Gebräuche desselben zu verspotten. Dabei enthält das Hexeneinmaleins sämmtliche Zahlen von 1 bis 10 gleichmässig nebeneinander, während in der Freimaurerei nur einigen von denselben eine symbolische Bedeutung beigelegt wird. Zunächst hat doch wol der Dichter selbst darüber zu ent- scheiden, ob in dem Hexenspruch ein tieferer Sinn zu suchen sei, oder nicht. Er schreibt am 24. December 1827 an Zelter1): „Die deutsche Nation weiss durchaus nichts zurecht zu legen, durchaus stolpern sie über Strohhalme. So quälen sie sich und mich mit den Weissagungen des Bakis, früher mit dem Hexeneinmaleins und so manchem Unsinn, den man dem schlichten Menschenverstände anzueignen gedenkt. Suchten sie doch die physisch-sittlich-ästhetischen Kätheel, die in meinen Werken mit freigebigen Händen ausgestreut sind, sich anzu- eignen und sich in ihren Lebensräthseln dadurch aufzuklären. Docb viele thun es ja, und wir wollen nicht zürnen, dass es nicht immer und überall geschieht." Man sollte denken, das wäre deutlich genug, und wenn der Dichter erklärt, er habe an einer Stelle absichtlich unsinnige Worte zusammengereimt, die sich dem schlich- ten Menschenverstände nicht aneignen lassen, so müsse das den Herren Auslegern genügen. Aber da kennt mau unsere Commentatoren schlecht. Sie octroyieren dem Meister ihren 1) Briefwechsel IV S. 453. Archiv v. Litt -CJescii. XIIT. IC Digitized by Google 242 Meyer von Waldeck, Fanat- Studien. fein ausgeklügelten Tiefsinn, wo er offen und harmlos einge- steht, keinen gehabt zu haben. Im Gespräch mit Falck hatte er geäussert: „Dreissig Jahre haben sie sich nun mit den Besenstielen des Blocksberges und den K atzen gesprächen in der Hexenküche, die im Faust vorkommen, herumgeplagt, und es hat mit dem interpretieren und allegorisieren dieses dra- matisch - humoristischen Unsinns nie so recht fortgewollt Wahrlich, man sollte sich in seiner Jugend öfter den Spass machen und ihnen solche Brocken wie den Brocken hinwerfen." Und da kommt Härtung und versichert dem Dichter zum Trotze, wenn Goethe gegen Falck die Katzengesänge und Hexenbeschwörungen einen dramatisch-humoristischen Unsinn genannt habe, so folge daraus keineswegs, dass sich der Dichter bei ihrer Abfassung nichts gedacht habe; denn um mit Be- wusstsein Unsinn zu machen, müsse man noth wendig das Ur- bild, dessen Verzerrung dieser Unsinn sein soll, vor Augen haben und die Dichtung enthalte zu viele deutliche Spuren von Absichtlichkeit und Durchblickung eines tieferen Sinnes, als dass man annehmen könnte, dass Goethe bloss so in das blaue hinein habe faseln wollen. Reichlin-Meldegg publicierte schon 1848 die unbestreitbar richtige Ansicht: „die Reden der Hexe haben eben keinen andern Sinn, als den, keinen Sinn zu haben. Das Hexenein- maleins ist baarer Unsinn." Aber sofort scheint ihn sein Gewissen als speculativen Kopf und tiefsinnigen Interpret be- unruhigt zu haben, denn er setzt sogleich hinzu: „das Hexen- einmaleins ist das Geheimniss philosophischer und theologischer Extravaganzen, welche ins Nebelgebiet blinder Gefühle ein- greifen und den Boden des Begriffs verlassen, hinter denen der dumme eine tiefere Bedeutung sucht, während der schlauere sich darin gefallt, so zu sprechen, dass er von keinem ver- standen wird." In seiner neuesten Faust - Ausgabe (Deutsche National- Litteratur 1882) bekennt sich auch Düntzer zu der Anschauung, das Hexeneinmaleins sei reiner Unsinn. Da die Zauberin mit ihrem Hokuspokus überhaupt die Formen des katholischen Gottesdienstes parodiert, mag er auch darin das richtige treffen, das$ sie mit dem Zahlenspruch das singen der Epistel in ihrer Digitized by Googl Meyer von Waldeck, Faust- Studien. 243 Weise nachahme. „Ist ja dem Volke das singen der lateini- schen Epistel noch unverständlicher als diese sinnlose Reimerei, die wenigstens verstandliche Worte enthält" Ueber die Vorbilder, welche der Dichter bei dem Hexen- einmaleins im Auge gehabt, oder die Quellen, aus denen er die Anregung zu diesen Reimen geschöpft, hat man sich weniger ausgibig geäussert Man hat die Hexensprüche in Shakespeares Macbeth als solche angesehen (v. Loeper, SchrÖer), dabei aber ausser Acht gelassen, dass in diesen nur die Zahlen 3 und 9 vorkommen und auch sonst keine annähernd genügende Aehnlichkeit vorhanden ist Etwas eingehender behandelt die Sache Hr. Sabell.1) In seiner unten angeführten Schrift (S. 41) sagt er, keiner der Faust -Erklärer habe ein Werk zu nennen gewusst, „welches dem Dichter bei der Abfassung der Hexensprüche zum Vorbild gedient" habe, Goethe selbst aber, fährt er weiter fort, spreche von einem Buch dieser Art Als Beleg citiert Herr S. eine Stelle aus D. u. W. VIII, wo von einem Werke die Rede ist, „das Goethe trotz ernstlichen Studiums dunkel und unverständlich genug geblieben sei und bei dem er sich nur in eine gewisse Terminologie hineinstudiert habe". Dies von Goethe erwähnte, dem Verfasser unbekannte Buch ist ihm S. 49 schon mit Sicherheit — nach Goethes „eigenen oben angeführten Angaben" — des Dichters Vor- bild bei Abfassung der Hexensprüche, die, wenn auch in Rom geschrieben, doch aus früheren Frankfurter und Strassburger Studien hervorgegangen wären. Herr S. verrauthet nun, dass dergleichen Bücher in Strassburg vorhanden gewesen und bei dem Brande der Bibliothek für immer verloren gegangen. Die Stelle in D. u. W. hat der Verfasser wahrscheinlich irgendwo citiert gefunden und selbst nicht weiter nachgelesen, sonst hätte er wissen müssen, dass Goethe dort von einem ganz be- kannten und nicht eben seltenen Buche redet, nämlich von 1) Zu Goethes hundertdreissigstem Geburtstag. Festschrift tum 28. Aug. 1879. Herausgegeben von Dr. Eduard W. Sabell. Heilbronn 1879, Gebr. Henninger. Dario: II. Ueber den Trudenfuss und die Hesen- bpruehe in Goethes Faust. Ueber die Hcxcnsprüche handeln die Seiten 41-67. 10* Digitized by Google 244 Meyer von Waldeck, Faust- Stadien. Wellings (f 1727) Opus magocabalisticuin et theosophicuin (Homburg v. d. H. 1735. 2. Aufl. Frankfurt 1760). Herr S. will nun jahrelang vergebens nach einem Werke gesucht haben, welches jenem unbekannten (!) Buche, das Goethe als Vorbild gedient haben konnte, entsprochen hätte. Sein Verlangen wurde durch einen Zufall befriedigt, der ihm in eiuem Manuscripte des 18. Jahrhunderts Auszüge aus alchy- mistischen Schriften in die Hände spielte. In diesen glaubt er Goethes Vorbild zu den Hexenspröchen gefunden zu haben und theilt die bezüglichen Stellen mit. Die Verse, welche nach Ansicht des Hrn. S. dem Goethe- schen Hexeneinmaleins ähnlich klingen, lauten wie folgt: Sieben Stätt' und 7 Metall Auch 7 Tag und 7 Zahl, 7 Buchstab und 7 Wort, Dann 7 Zeit und 7 Ort; Dazu ich 7 Kräuter mein', Auch 7 Kunst und 7 Gestein. 7 und 3 wird abgetheilt, Ein halb hier niemand Ubereilt. Summa: In dieser Zahl so werth Huhn alle Ding' auf ganzer Erd\ und ferner: Als dann ein solches Theil tingiert; Das Tausend wird multipliciert. Auch drei in einem Ding allein Und wiedrum Eins in Dreien sein. Schliess solches auf und wiedrum zu; Alsdann die ganze Kunst hast du. Man sieht, die Uebereinstimmung ist nicht überraschend gross. In der ersten Strophe tritt hauptsächlich die Zahl 7 in den Vordergrund, 3 erscheint nebenbei. In der zweiten handelt es sich um die bekannten Drei und Eins, wie sie in der christ- lichen Kabbala ungemein häufig wiederkehren. Goethes Vor- bild für das Hexeneinmaleins sind diese Sprüche sicher nicht gewesen. Wie Goethe am 1. März 1788 in sein Tagebuch schrieb, verfasste er die Scene der Hexenküche — denn von keiner andern ist dort die Rede — in den letzten Tagen des Februar zu Rom in den herrlichen Gärten der Villa Borghese. Wer seine Art Digitized by Google Meyer von Waldeck, Faust- Studien. 245 dichterischen Schaffens, wer seine italienische Heise kennt, weiss, dass er zwar das alte vergilbte Manuscript des Faust, wie er es nach Weimar mitgebracht hatte, bei sich führte, dass er aber schwerlich Excerpte aus Strassburger kabbalisti- schen Schriften, noch weniger die dicken Schweinslederbände selbst seinem Reisegepäck einverleibt haben konnte, um ge- eigneten Falls bei der Composition des Hexeneinmaleins Hilfe zu leisten. Gab es ein Vorbild zu diesem Zahlenunsina, so ist dasselbe unzweifelhaft in nächster Nähe der Localität zu suchen, welcher der ganze dramatische Auftritt seine Entstehung verdankt, also in Rom. Versuchen wir, dasselbe dort auf- zufinden. Dem Scharfblick Goethes entgieng es nicht, von welcher Bedeutung im Leben des italienischen Volkes dessen Leiden- schaft für das Lottospiel war. Schildert er doch selbst im „Romischen Carneval" (unter der Ueberschrift: Masken), wie ein Zauberer sich unter die Menge mischt, das Volk ein Buch mit Zahlen sehen lässt und es an seine Leidenschaft zum Lottospiel erinnert. Hier haben wir also schon ein Buch mit Zahlen. Offenbar war dem Dichter bei Abfassung unserer Scene die Erinnerung an die Leidenschaft der Italiener für das Lotto gegenwärtig. Denn nach den Worten des Meerkaters: 0 würfle nur gleich Und mache mich reich Und lass mich gewinnen! sagt Mephistopheles: Wie glücklich würde sich der Affe schätzen, Könnt' er nur auch ins Lotto setzen! Nicht minder bekannt werden Goethe die kleineu Volks- bücher gewesen sein, welche man in den Strassen der italieni- schen Städte für wenige Centesimi verkauft und die so recht dazu gemacht sind, der allgemeinen Lottospielwuth zu fröhnen. Sie enthalten eine sogenannte Kabbala für das Lotto: Vers- chen, in denen für die Monate des Jahres oder für kürzere Termine die Nuiuern angegeben sind; welche dem Lotto- spieler zum setzen angerathen werden, und diese kabbalistischen Digitized by Google 246 Meyer von Waldeck, Faust- Stadien. Lotto versehen sind es, welche mit ihrem sinnlosen Zahlen- geklingel auf das lebhafteste an das Faustische Hexen- einmaleins erinnern und möglicher Weise dem Dichter die erste Anregung zur Abfassung jenes dunkeln Spruches gegeben haben. Das beliebteste und verbreitetste unter jenen Schriftchen ist der sogenannte Barba-Nera (Schwarzbart), eine Art Volks- kalender, dessen Inhalt man am besten aus dem Titel erkennen mag. Das Titelblatt des diesjährigen (1884) lautet: Le rivoluzioni celesti calcolato per il Polo 42 di Roma che serve per tutta l'Italia ossia discorso astronomico del ce- lebre Barba-Nera per l'anno bisestile 1884. (Dann folgt ein roher Holzschnitt, den Schwarzbart darstellend mit Globus, Cirkel und Fernrohr, umgeben von 12 Sternen. Darunter:) Che predice gli avvenimenti del Mondo, il levar del Sole, le fasi della Luna, le mutazioni del Tempo, il suonar delP Ave Maria in ore Astronomiche, molte Fiere e Mercati del Regno, i Numeri Simpatici mensili di Rutilio Benincasa, le Cabale per i dilettanti del Lotto; in fine ricorda la nascita del Sommo Pontefice e degli Eminentissimi Cardinali e dei Sovrani di Europa. — Fofigno (st. Foligno) Prem. Stab, di F. Campitelli u. s. w. Ich habe mir die grosste Mühe gegeben, alte Exemplare aufzutreiben, wo möglich aus dem vorigen Jahrhundert, es ist mir nicht gelungen, ältere zu erlangen, als von 1823. Diese Volksschriften scheinen überall nach kurzem Gebrauche der Vernichtung anheimgefallen zu sein. Ist es mir doch bis- her in dem büchersammelnden Deutschland nicht möglich ge- wesen, alte Exemplare der Reutlinger Volksbücher aufzu- finden. Fünf Jahrgänge des Schwarzbart habe ich miteinander vergleichen können, die von 1823, 1824, 1839, 1880, 1884. Der Titel von 1823 und 1824 beginnt: Gli arcani delle stelle, calcolati u. s. w.; 1839: Le Rivoluzioni celesti, calcolato u. s. w.; 1880: Moti Celesti o siano Pianeti sferici calcolati u. s. w.; 1884 stimmt bis auf kleine Zusätze mit 1839. Alle sind in Foligno gedruckt, die älteren von Francesco Fofi, die neueren von Feliciano Campitelli. Digitized by Meyer voii Waldeck, Fanat-Studien. 247 1823 und 1824 haben eine coDgruente Einrichtung des Iuhalts, 1830 ist nicht mehr in meinen Häudeu und das Arrangement meinem Gedächtniss entfallen, 1880 weicht in seiner Eintheilung von den früheren Jahrgängen ab und ent- hält die Specchietti o cabalette pe' Lotti in einem beson- deren Abschnitt, während die andern sie bei den Monaten des Jahres geben; 1884 wiederholt die Einrichtung von 1823 und 1824. So geht denn schon aus den wenigen Exemplaren, die mir zu Gebote standen, hervor, dass die späteren Jahrgänge auf die Titel und den Inhalt der früheren zurückgreifen und sie reproducieren. Habe ich auch in den fünf Kalendern durchaus keine Uebereinstimmung unter den kabbalistischen Lotto vers- chen gefunden, so ist mir doch nicht zweifelhaft, dass bei Ver- gleichung einer grösseren Anzahl von Jahrgängen sich auch eine solche herausstellen würde. Denn neben dem Barba-Nera gibt es noch eine ganze Reihe von Büchern, welche sich mit dem verkünden der Zu- kunft, der Auslegung von Träumen u. dergl., immer aber auch mit der Kabbalistik für das Lotto beschäftigen und bei der letzteren eine Anzahl von Verschen, die denen des Barba-Nera sehr ähnlich sind, gemeinsam haben. So liegt die Vermuthung nahe, dass sowol der Schwarzbart wie alle diese Glücksbücher bei neuen Auflagen aus einem gewissen Vorrath alten Materials schöpfen und, wenn auch nicht immer gleiches, doch in den meisten Fällen ähnliches wieder- holen. Von den erwähnten Glücksbüchern sind mir die folgenden bekannt: 1. La vera cabala del lotto. Milano (528 S. Ohne Jahr, jedesfalls nach 1863 gedruckt). 2. II vero libro dei sogni ossia l'eco della fortuna. Fi- renze 1881. (640 S.) Darin: lndovinelli Cabalistici setti- manali. 3. II vero libro dei sogni ossia l'albergo della Fortuna aperto ai Giuocatori del Lotto. Milano 1881. (240 S.) Darin: lndovinelli cabalistici j>er le 48 anuue estrazioni del lotto se- condo il nuovo stabilimento. Digitized by Google 248 Meyer von Waldeck, Faust-Studien. 4. II vero giojello dclla Fortuna ossia la nuova e grossa Cabala u. s. w. Milano 1870. (456 S.) Es mögen nun aus der grossen Anzahl kabbalistischer Lottoverschen sowol der Barba-Nera-Kalender wie der andern Glücksbücher einige wenige folgen, welche meine Vermuthung unterstützen dürften, der Dichter habe aus solchen Zahlen- reimen die Anregung zum Hexeneinmaleins geschöpft. Dabei will ich noch bemerken, dass neben jeder Strophe eine Gruppe verschiedenartig geordneter Zahlen steht. Barba-Nera 1823: Vedo sortire al lotto Un sette, un zero, e sei, Che unito al nove, e cinque Fan lieti i giorni miei. L'uno, che corre al nove Forma il secondo estratto II sette con il sei Delira come un matto. Barba-Nera 1824: Attento a quel che dico1) Sette coli' otto e due Vogliono uscire adesso Da furibondo bue. Barba-Nera 1839: Uno e quattro donne l'estremo, Otto e sette vengon poi Giucatori dite voi Sei con cinque chi faraV Barba-Nera 18802): La fortuua indispettita Capovolge il bussolotto Di cui stanno in sull' uscita Cinque e sette, uniti all' otto. 1) Erinnert an die erste Zeile des Hexeneinmaleins: „Du musst verstehn!" 2) Die neueren enthalten nur wenig Verse mit Zahlen; die meisten sind orakelhafte Scbickeatosprüche. Digitized by Google Meyer von Waldcck, Faust-Studien. Barba-Nera 1884: E cotto1), e il sette e il tre Vedi Ii innanzi a te; Se gli altri vuoi aver Discernali a dover. Aus den augeführten Glücksbüelicrn lasse ich hier vier Quatrains folgen, welche 1, 2 und 3 gemeinschaftlich haben: Manda il gelido Scorpione Freddo un zero e caldo un otto, E uon e fuor di stagione Che due sei cadon di sotto. Fan due gobbi un sposalizio Corre un z'oppo per la posta Entra un zero in quel servizio Ecco certa la riposta. Mi fo in pezzi cinque o sei Ma pur resto senapre intero Dico a cinque i fatti miei E non parlo mai col zero. Cinque figli una comare Sola attrae in un sol parto Si potrebbe combinare Che v'e un sei unito a un quarto. 4 hat diese Strophen nicht, wol aber die Indovinelli per ci- ascun niese dell' anno wie 1, 2 und 3. Endlich haben 1, 2 und 3 noch einen Vierzeiler gemein- sam, der mir ganz besonders aufgefallen ist. Er lautet: Apre il libro la Sibilla E predice alla sventura L'otto al sette entro sfavilla E col cinque lassicura. » Dass ihn die drei Bücher gemeinsam haben, scheint mir dar- auf hinzudeuten, dass sie den Vers altem Material entnahmen. Nun ist aber die Rede des Mephistopheles, gleich nach dem Schluss der Hexensprüche: „Genug, genug, o treffliche Sibylle" die einzige Stelle im ganzen Faust, wo der humoristische Teufel 1) Wahrscheinlich oiu Druckfehler stutt: Ecc' otto. Die Barba- Neraa wimmeln von Druckfehlern. Digitized by Google 250 Meyer toh Waldeck, Kaimt- Studien. in behaglicher Laune einer Hexe den Namen der begeisterten Wahrsagerinnen des Alterthums beilegt. Sollte Goethe in einem römischen Lottobucbe nicht diesen oder einen ähnlichen Vers gefunden haben und durch ihn zu jener Anrede veran- lasst worden sein? Doch genug der Vermuthungen! Bedarf man für die Ab- fassung des Hexeneinmaleins eines Vorbildes, einer den Dichter anregenden Quelle, so glaube ich auf die annehmbarste und natürlichste hingewiesen zu haben. Vielleicht folgen andere der aufgedeckten Spur und finden zuverlässiges, wo ich nur unbestimmte Fingerzeige geben konnte. • Heidelberg im August 1884. Digitized by Die Zukunft. Ein bisher ungedrucktes Gedicht des (trafen Friedrich Leopold zu Stolberg aus den Jahren 1779 — 1782. Nach der einzigen bisher bekannt gewordenen Handschrift herausgegeben von Otto Hartwig. Dritter Gesang. Kommst Du wieder zu mir, nach langem Säumen, Siona? Kommst Du wieder? o sey mit diesen Thrllnen gegrüßet! Mit der Empfindung Thränen, mit erblassenden Wangen, Und mit bebenden Lippen, mit bebenden Saiten der Leyer! Kommst Du wieder? schon zehnmal und sechsmal füllte die Sonne Mit den Strömen des Lichts das Horn des silbernen Mondes, Seit Du mir entschwandest! Die hellen Gefilde der Zukunft Waren verschwunden mit Dir! Indessen starrte mein Auge Vor sich hin, und sah die leidende lächelnde Freundin!1) Ach ich hörte von fern des Todes rauschenden Fittig! 10 Sah ihn näher kommen und näher — o hätt' ich vernommen Ihres Preises Lied als sie zum Himmel sich aufschwang, Siehe, so wäre mein Geist mit Wonne des Himmels getränket, In der Entzückung hinüber zur süßen Freundin geflogen! Aber ich sank, von dieses Lebens Nächten umgeben, An Emilien8 Urne hin, die Saiten der Leyer, Welche sie liebte, tönten nur leise Klagetöne. Mächtiger sollen sie tönen, wenn Du mit himmlischem Lichte Vor mir zerstreust die dunkeln Nächte des Lebens! Ich will baden im Schimmer der Sonnenstrahlen Sionas. 20 Wie die Säule Memnons im goldnen Sonnenstrale Klang, so soll im hiralischen Strahl der hohen Siona Meine Seel' ertönen mit allen bebenden Saiten Jeder Empfindung! — Zwar wandl' ich im niedern Thale der Erde, Wo der hüpfenden Irrwische Blendwerk manchen verleitet, Aber sie sollen nicht mich mit blendendem Lichte verleiten! Wirst auch Du mich nie mit sanften Schimmer verleiten 1) Während die Gräfin Emilie Schünmelmann dem Tode entgegen- gieng (f 6. Febr. 1780), lag Stolberg im Januar und Anfangs Februar 1780 in Kopenhagen am Scharlach fieber darnieder. Hennes S. 118-121. Digitized by Google 252 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang III. Süße Lieb? Es wandeln in Deinem mondlichen Scheine Auch dio Edeln — o laß mich dich noch mit dem Monde vergleichen Süße Liebe! wenn Du, wie auf zitternden Thränen der Mondschein 30 Sanft auf meine Seele scheinest, so hebt sich die Seele, Oder sie schmilzt in Wehmuth dahin. — 0 der mir ein Herz gab, Vater Siona's uud meiner, und der Empfindung für Schönheit Mir ins Herz gab, der auf Lyda's blühende Wangen Morgenrtfthen der Sittsarakeit goß und Adel der Seele Stralen aus ihren Augen ließ, erhalte mein Herz rein! Keines Herzens sein ist Seeligkeit, ihrer Hoffnung Blüte täuschet nicht, sie reift zu Wonne des Himmels! Aus dem Stralenmeer, das um des Ewigen Thron fleußt, Senken sich Ursachen der Dinge, welche geschehen 40 Oben im Himmel, zwischen den Sternen, und unter der Hölle, Würkungen folgen jeder mit Kraft und mit Eile des Blitzes, Hüllen in Wolken sich ein und durchschweben der Schöpfung Gefilde, Oder beleben mit zündender Fackel die Reiche des Chaos, Wenn der Ewige winkt und neue Schöpfungen dastehn. Bilder der Vorzeit, Bilder der Gegenwart, Bilder der Zukunft Schweben hier, mit ihnen die unerfüllten Ideen Aller Welten die möglich waren, und jeglicher Würkung Die in der möglichen Welt der möglichen Ursache hätte Folgen können. Es rollen in wechselnder Bildung 50 Purpurne Wolken umher und verhüllen dem Auge der Geister Viele Bilder, viele Ideen; der Ursachen meiste Stralen vom Schimmer des Throns und blenden der Cherubim Augen, Aber es öffnen an Tagen der Feyer zuweilen sich Wolken, Und enthüllen die Bilder der Gegenwart oder der Vorzeit, Oder der Zukunft, dann fallen aufs Antlitz die Geister des Himmels Nieder, und Prophetische Geister entschöpfen dem Urquell Aller Kunde, Weisheit und Licht, mit fliegenden Locken Hoch empor gefalteten Händen und flammenden Augen Schöpfet Siona Begeistrung. So lag sie unter dem Throne, 60 Als die Bilder der Schöpfung, des Paradieses, der Sündfluth Vor ihr übergiengen, die ihren Moses sie lehrte. Sie verkündete himmlische Dinge den hohen Propheten, Und dem göttlichen Seher der Wogeu umrauscheten Patmos; Auch zu Milton senkte sie sich vom Himmel herunter Und zu Klopstock dem heiligen Slinger — sie senket zu mir sich Auch herunter und giebt mir Offenbarung der Zukunft. Aber erleuchteter kam sie zu den hohen Propheten, Zu Johannes und Moses von Gottes Geiste gelehret! Milton und Klopstock zeigte sie was sie hatte gesehen, 70 Und auch himmlischer Blick kann irren. Der Endlichkeit Loos ist Irrthum, aber der Himmlischen Irrthuni ist edler als alle Digitized by Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang III. 253 Weisheit unter dem Monde! Mir bat sie Vieles gezeiget, Vieles verborgen; von dem was mir die Himmlische zeigte, Werd ich den Sterblichen Vieles zeigen, Vieles verbergen. — Wenn am schönen Ufer des Rebennmkränzeten Rheines Zwischen glänzenden Wolken die flammende Sonne sich senket, Uud durch rothe Fluthen des Stromes der gleitende Nachen Lauge Furchen zieht, indem der freudige Jüngling Langsam rudert und liebend das süße Mädchen anschaut, 80 Dessen silberne Stimme bei ihm im Nachen ertönet, Dann umschweben zu Millionen Hafte den Nachen, Kinder eines Tages, am thauigon Morgen geboren Greisen sie ehe die Dämmerung graut, und der Schatten des Abends Hüllet in Nacht des Todes sie ein. Der Jüngling bemerkt sie »Kaum , er sieht sein Mädchen im rothen Schimmer des Abends , Höret schweben ihr Lied auf wehenden Flügeln des Abends! Also gleitet mein Geist den Zeitgenossen vorUber, Und den Kindern vorüber, vorUber den künftigen Enkeln, Weil von spätem Zeiten das Lied Siona's ertönet. 90 Spätere Zeiten ihr triefet von Blut! — Die Söhne der Donau Wüthen gegen die Söhne der Elbe, des Rneins, der Weser, Deutsche gegen Deutsche! so stolz war keiner vom stolzen Stamme, welcher vor dem von der Donau fruchtbaren Thalen Bis zu Herkules Säulen und hinter Herkules Säulen Jenseit fernen Meeren in neuen Welten herrschte, Als der, welcher die Freiheit der Deutschen zu fesseln bescbliesset. Seine Tausende rauschen daher wie herbstliche Fluthen, Welche Dämme durchbrechen, da hilft kein Retten! Die Dörfer Werden weggeschwemmet, weggeschwemmet die Städto! 100 Ach auf Hochheims Hügeln verstummen die Lieder der Wiuzer! Ach die Lieder der Winzer verstummen in Bacherachs Thalen! Keine Schiffe gleiten auf Deinen Wogen, 0 Elbe! Keine Pflugschaar blinkt durch Schwabens schwärzliche Schollen! In des Harzes Schachten verstummt der Hammer des Bergmanns! Frieden werden geschlossen, Frieden werden gebrochen, Neue Heere wüthen. — Der Freiheit Odem durchwehet Eine kleine Schaar, es wehet der Odem der Freiheit Größere Schaaren zusammen, gefärbt vom Blut der Tyrannen, Jauchzet und wälzet Leichname fort die stürzende Bude [Bode?]. 110 Wieder fleußt das Blut der Unterjocher am Maine, Und die lieblichen Thale bey Würzburg erschallen vom Siegslied. Schau die edle Schaar! Dreihundert muthige Ritter, Sie entsproßen vom edelsten Blut, die Fahne der Freiheit. Wehet vor ihnen furchtbar und schön, wie ein wallendes Nordlicht! Ihre Namen erschallen dereinst im Munde der Nachwelt, Einige sollen schon itzt im Munde der Vorwelt erschallen! Digitized by Google 254 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang III. Lippe wie braust Dein Senner daher! iu der Halle von Erbach Lächelte Dir die liebliche Braut, Du entreissest der Braut Dich, Eiltest ins blutige Feld — Du wirst vom "blutigen Felde 120 Freudig wiederkehren, es wird ein weiblicher Reigen Deine Thaten singen an Deinem bräutlichon Feste, Bis vor Freude zugleich und Stolz und Scham erröthend Deiuo Geliebte mit ihren Gespielen hinein in die Kammor Schleichet, wo des Helden die süßen Umarmungen harren. Isenburg stürmt wie ein Wetter daher und zerstreut die Geschwader, Hätte Leiningen hundert Leben, er würde sie freudig Alle vergeuden, o Freiheit, für Dich! wiewohl in der Fülle Seines Erbes die rosige Schaar von Kindern emporblüht, Und dem Vater das Herz bey seinen Kindern zerfließet. 130 Salm, Dir war am weichliehen Hofe des stolzen Tirannon Deiner Jugend Blume verblüht, die Töchter der Fürsten Hatten geschmachtet für Dich, und viele rosigte Bande Fesselten Dich; Du rissest sie loß, Dein Antlitz voll Narben Schmückt Dich mehr als Lilienhaut und blühende Rothe. Wer sind jene? Glatt ist ihr Knie [Kinn?), in drohenden Augen Lebt, wie Glut im Feuer, der Muth und stärket der jungen Arme Kraft! Was schlägst Du mein Her/? Ach meines Geschlechtes Sind die Jünglinge! seyd mir gesegnet zum Kampfe der Freiheit! Wie verbrüdert der Nordwind und Ostwind die Wogen des Meeres 140 Jagen, so jaget auch ihr dereinst der Feinde Geschwader! Siehe sie fallen zugleich — sollst der Freude geweiht sein Thräne, denn sie fallen zugleich für des Vaterlands Freiheit! Solms, Dir folget der Feinde Tod wie dem Lichte der Schatten. Könnt ich nnbesungen im blutigen Staube Dich lassen Edler Castell? Es klagen um Dich die Thale von Remling. Enkelinnen halten Dich nicht im gethürmten Palaste, Grauer Reuß! Noch ist es Dir Spiel zu tummeln Dein Streitroß, Spiel zu schwingen Dein Schwert, wiewohl die siebzigste Sonne Deines Lebens Reife mit neuem Ruhme bestrahlet lf»0 Ranzau liebt sein Vaterland, glüht vom Durste der Freiheit, Aber nicht Vaterlands Lieb' allein und Durst der Freiheit Führen entgegen den Schatten des Todes den blühenden Jüngling, Ach er suchet den Tod vom Pfeile der Liebe getroffen, Wie das verwundete Reh den Quell und den Schatten des Hains sucht. Schlummerbringender Mohn blüht neben dem Lorbeer des Ruhmes, Jüngling, Dir, im blutigen schönen Kranze des Todes, Und der Geliebten heimliche Thräne wird ihn bethauen! 0 des Rauchs! Wie lodern die Flammen! Die Fluthen des Stromes Gleichen den Flammenfluthen, die aus dem Ätna strömen, 160 Denn es wehet an beiden Ufern die steigende Lohe, Königsstadt, Du stürzest ein mit krachenden Thürmen, Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Znkunft. Hggb. von Hartwig. Gesang III. 255 Asche, Spiel des Wind's, sind Deine stolzen Paläste! Meintet ihr, es würde der Genius deutscher Freiheit Ewig schlummern, gekrönte Verräther? Er, den die Ketten Roms nicht fesselten? Der, von keinem Volke bezwungen Stolz, die Nachbarn umher mit schwerem Joche belastet Ansah? Der, als Nacht die zagenden Völker umhüllte, Kühn die Fackel der Wahrheit am heiligen Feuer des Himmels Zündete? Furchtbar war er euch auch im Schlummer geweseu, 170 Hattet ihr bemerkt, wie seine Adern im Schlummer Schwollen, wie im Schlummer des Riesen Rechte zuckte, Wie sich sträubte sein goldenes Haar! Es erwachte der Riese, Schüttelte zürnend sein Haupt und rollte flammende Augen, Sprang empor, zerschmettert von seiner eisernen Keule Liegen Throne wie Scherben im Staub, es wandelt Entsetzen Vor ihm her, ihm folgt mit dankendem Lächeln die Ruhe, Ihm ein langer Reigen von seligen Jahren, es rauschet Wankender Saaten Seegen dem freien Arme des Landmanus Golden entgegen, es reift für freie Male des Winzers 180 An der schwanken Rebe die Freude glücklicher Menschen. In den Thalen erschallt der frohen Heerden Gebrülle Und das Blöken der Wollenheerden auf thauigen Bergen! Denn der Landmann ist frey, wie der edle Ritter, der Ritter Wacht ob Freiheit und Recht wie über die Jungen der Adler, Wie die Adler frey! Die Blüthe der nervigten Mannschaft Sammelt sich nicht in zahllosen Schaaren das Antliz des Friedens Mit dem blendenden Erz auf dienstbarer Schulter zu schrecken, Wächter der Hürde, triefend vom Blute der Heerde wie Wölfe! Auch wird Blut der Jüngling1 gegen Gold nicht gewogen, 190 Um für stolze Nachbarn in fernen Welten zu fließen. Ruh und Freude belohnen den Schweiß des singenden Landmanus, Und die Fülle schüttet ihr Horn in ämsigen Städten Reichlich aus; es schleichet die Pest gifthauchender Sitten Nicht mehr ans den üppigen Höfen weichlicher Fürsten In den Städten umher, umher in Hütten des Landes. Zween erhabue Lehrer der Menschheit (ihre Namen Flammen auf den Tafeln der Zukuuft, es las sie Siona, Aber Siona verschwieg mir die großen Namen, es freut sich Locke schon im Himmel auf sie, uud Montesquieu freut sich 200 Schon auf sie, und der friedsame Penn und der glühende Rousseau) Zween erhabne Lehrer der Menschheit werden der Freiheit Richtschnur ziehn, bescheiden und kühn mit geläuterten Eifer, Werden sondern die Völkerschaften des glücklichen Deutschlands, Dennoch alle zugleich mit heiligem Bande vereinen. Unter schattenden Linden versammlen eich Väter des Volkes Hie und da und dort, es schwebt der Gerechtigkeit Wage Digitized by Google 25G Ciraf F. L. Stolberg, die Zukunft. Ilggb. von Hartwig. Gesang III. Frey vor den Augen des Volks in den Händen der Väter des Volkes; Jede Völkerschaft sendet erkorne hiu wo des Maines Sanfte Wellen sich froh mit dem strudelnden Rheine vermischen; 210 Edle Männer, wie Gott, in diesen entarteten Zeiten Selten giebt, das Salz des Jahrhunderts, das sie verkennet; Solche werden erkohren, solche lenken die Rosse Deutscher Regierung mit stäten und nicht mit straffen Seilen, Mit dem scharfen Blicke der Weisheit, der männlichen Milde Sichern Hand, auf Wegen des Glücks, vom Ruhme bestrahlet. Siehe wie die Donau, der Rhein, die Weser, die Elbe Dreien Meeren Früchte der Erd' und Früchte des Fleißes Bringen! Aus den Häfen der Meere eilen die größern Segel, zahllos wie summende Bieuen in Tage des Sommers 220 Aus der wächsernen Stadt. Zur purpurnen Wiege des Morgens Eilen sie oder sie eilen zum falben Bette des Abends. Nationen, waget es nicht an die schwimmende Habe Deutschlands frevelnde Hände zu legen! Es dräuen in deutschen Häfen ruhende Wetter und harren der Winke des Volkes, Ob sie donnern sollen im Morgen, donnern im Abend! Frankreich, Deine Wangen bedeckt des Neides Bläße, Und die stolzere Eifersucht glüht auf Albions Wangen. Wie mit thauenden Pittigen sich ein rosiger Abend Auf die Gefilde senket, es duften die Blumen der Wiese 230 Und die leise wankenden Ähren, Wohlgerüche Schweben von Blüthen zu Bltithen, aus denen die Nachtigall singet, Und es freut sich das Vieh auf dem Felde, das Wild in dem Walde, Und es erschallet der Schäferin Lied und die Flöte des Schäfers, Also senket die Ruhe sich nieder ins glückliche Deutschland. Seligem Land! Es wacht, wie über Gosens Gefilde, lieber Dich das waltende Auge der ewigen Vorsicht, Denn Du bist gerechter als andre Länder, und ludest Nicht auf Deiner Enkel Enkel die furchtbaren Flüche Ferner Welten, dürstetest nicht nach Gold und Gesteine 240 Schwangst nicht über seufzende Mohren die blutige Geißel! Des gedenket Gott, und giebt die Fülle des Segens Dir, und öffnet Dein Herz der Dankbarkeit, welche den Segen Gottes, daß er nicht fliehe, fesselt mit blumigen Banden; Oeffnet der Eintracht das Herz, es trennt die liebenden Brüder Nicht der Lehre Zwist, es dulden Christen die Christen! In den Schulen der Knaben, in der Jünglinge Schulen Lehrt einfältige Weisheit Philosophen bekennen, Daß die menschliche Wissenschaft nur zur Schwelle des Tempels Führe, des Thore die Hand des Todes uns öffnet! 260 Philosophen streben nicht mehr vergebens den Lichtstrahl Jeder Wahrheit zu spalten, sie sammlen die Strahlen mit weiser Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukanft. Hggb. von Hartwig. Gesang III. 257 Sorgfalt, daß ans ihnen ein Licht vom Himmel entflamme! Philosophen streben nicht mehr vergebens den Lichtstrahl Jeder Empfindung zu spalten, sie sammlen die Strahlen mit heisser Inbrunst, daß aus ihnen ein Feuer vom Himmel entlodre! Hohe Religion, dann wirst Du unter den Deutschen Wandeln in angeborner Einfalt und himmlischer Würde, Wie Dein göttlicher Stifter, den jetzt viel heuchelnde Priester Mit dem Monde bekennen und mit dem Herzen verleugnen. 260 Ach er wird sie dereinst vor den Augen des Himmels verleugnen, Wenn er, wie der Ocean die Ströme versammlet, Alle Frommen zugleich zu seinem Heile versammlet! Heilige Dichter werden die Herzen der Deutschen entflammen, Klopstock wird von Enkel zu Enkel im wachsenden Strome Seines Ruhmes leben, und Thränen süßer Entzückung Werden aus tausendmal tausend Augen der Nachwelt ihm fließen. Hohe Harmonie wird über bebenden Saiten Schweben, über dem Hauch der Flöten, über der Jungfrau Seelenvollerem Hauch! Denn heiliger Dichter Entzückung 270 Wird sich rein in die Seele des Wonnetrunknen ergießen, Welcher die Melodie aus tönenden Hallen hervorruft, Daß der hohe Gesang wie seine Braut sie umarme! Melodie, Du keusche Gespielin edler Gesänge, Dich auch haben entnervte Jahrhunderte frevlend entweihet, Deinen lieblichen Reiz an schamlose Lieder verschwendet, Oder an seelenlosen Gesang, der ermattet nachschlich, Wenn Du geschlungen an ihn in fliegeudem Tanze Dich wandtest! Künftig sollst Du als blühendes Weib mit folgsamen Füßen Wahrer Dichter Gesang in liebender Eintracht begleiten, 280 Feurig den feurigen, eilend den eilenden, sanft den sanften, Hingeschmolzen mit ihm, mit ihm gen Himmel erhoben! Dann wird mit wetteifernder Hand der erfindende Maler Athmendes Leben dem Tuche, Flammen der Lieb und des Zornes, Andacht, Heldengefühl und seufzende Zärtlichkeit schenken! Unter neuer Pygmalionen schaffenden Händen Wird der Marmor lächeln in lieblicher Mädchen Gestalten, Oder es werden in Erz der Vorzeit Helden erwachen! Jährlich wird in Tempeln des Herrn die Feyer der Freyheit Festlich vom Volke begangen, am festlichsten da, wo des Maines 290 Sanfte Wellen sich- froh mit dem strudelnden Rhein vermischen. Vor dem Altare wehet die hohe Fahne der Freyheit, Und im Staube liegen dio Fahnen der stolzen Tirannen! Aus des Priesters Lippen ertönt die Kunde der Thaten Derer, welche das Volk vom schweren Joche befreiten; Ihre Namen werden im Tempel Gottes genennet! Dank ertönet und Preis in lauten Jubelgesängen Archiv r. LiTT.-Cisftcii. XIII. 17 Digitized by Google 258 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang III. IV. Dem, der Heldenentschluß in ihren Herzen entflammte, Dem, der stuhlte den Arm und beseelte die Weisheit der Helden! Dann tritt vor den Altar mit entblößtem blitzenden Schwerte 300 Ein gewappneter Ritter nnd schwürt mit donnernder Stimme Einen ernsten Eid im Namen des horchenden Volkes Frey zu bleiben! Es stimmt wie rauschende Wogen das Volk ein, Frey zu bleiben! Es horeus die glühenden Knaben und freun sich Frey zu bleiben! Es lächeln die Mütter, es lächeln die Schwestern, Ihre Jünglinge kränzen mit Eichenlaubo die Bräute, Und es zittert die Thrän' an der weißen Wimper des Greises. Lang schon werden alsdann des Enkels Enkel auf meinem Grabe wallen, es wird die Morgenröthe der Zeiten, Die Siona mir zeigt, mein sterbliches Auge nicht sehen; 310 Aber schweben wird in erschütterter Wölbung des hohen Tempels meine Seel' auf wiederhallenden Lüfteu, Wird im Wehen der Freiheit«- Fahne der Jünglinge einen Schnell ergreifen und ihn zum heiligen Dichter des Volkes Weihen. Seine Genossen wird er in feurigen Liedern Zu des Vaterlands Liebe, zum edlen Kampfe der Freiheit, Zu des Todes Verachtung, zur göttlichen Tugend entflammen! Vierter Gesang. Ganz hat nie des Seyns sich gefreut, mit glühenden Thränen Nie dem Geber des Lebens gedankt, in der Fülle des Geistes Nie sich sicher und stark wie ein Held in der Rüstung gefühlet, Welchem die luftige farbigte Blase des Lobes der Menschen Mehr gilt als bescheidnes Gefühl von dem, was ihm Gott gab. Immer hör ich die eitle Klage der Dichter erschallen Ueber die Kälte des Volkes! Was kümmert die Kälte des Volks euch? 0 wenn euch die Muse mit himmlischem Lächeln erschiene, Wenn sie den Mohnkranz euch der edlen Vergessenheit brächte, Wenn sie den vollen Becher euch reichte der hohen Begeistruug 10 Siehe so schwebtet ihr über der Erd in wahrer Entzückung, Hörtet wie Summen der Mücken das Lob und den Tadel der Menschen. Deutsche, wäre das Lob von euren Lippen, des Mannes Wie des Jünglings Wunsch, und wäre das Volk zu entflammen Meines Herzens schwellende Hoffnung länger geblieben, 0 so würd ich ergrimmen, wenn ihr, wie Israels Söhne, Fremden Altären fröhnt, auf welche die Flamme des Himmels Niemals fiel, so würd ich wie Moses von Sinais Berge Schauend aufs Volk hinab, die heiligen Tafeln, die Gott ihm Hatte gegeben, hinunter warf an schmetternde Felsen, 20 Meine Harfe, die Gott mir gab, im Zorne zerschmettern! Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang IV. 259 Aber nicht für das Lob des Jahrhunderts, nicht für des Enkels Thräne, stimm' ich die 8aiten der Harfe, die Gott mir gegeben, Sondern ich spiel und singe mein Lied, wenn die Weihe des Himmels Ueber mir säuselt; so schwillt vom Hauche Gottes das Meer auf, Still bei stillem Himmel, und schäumend und thürmend und donnernd, Wenn von oben der Sturm mit schnaubenden Rossen einherfährt. O Siona, Siona, wenn Du mir winkest, so folg ich, Dir zu folgen ist Wonne! Wenn am Gestade des Eismeers Du mich führtest, auf Zembla's menschenfeindlicher Küste, SO Siehe, so würde mein Lied, auf einsamen Klippen am Ufer Ungehört erschallen, wie Wogen am ewigen Eise! Wenn Du unter den sengenden Strahl in Wüsten mich führtest, Wo den glühenden Sand nur wilde Thiere berührten, Siehe, so würde mein Lied in der Felsenritze die Schlange Schrecken, und mir würden die Straußen der Einöde lauschen! Heil mir, daß Du mich wieder besuchtest! Hehr und furchtbar Sind die Gesichte, welche Du mir, Siona, gezeigt hast! Keine Sonnen leuchten, keine Monden dem Himmel. Unter ihm gleiten dahin wie Sonnenstäubchen die Sonnen, 40 Gottes Allerheiligstes ist die Sonne des Himmels! Aber erröthende Morgen, erröthende Abende theilen Auch im Himmel die Zeit, wiewohl die Sonne des Himmels Nicht aufgeht, nicht untergehet; purpurne Wolken Hüllen das Alierheiligste ein mit Golde gegürtet. Mich den Sterblichen führte Siona hinauf in den Himmel, Und ich sah das Morgengewölk und sah es zerfließen, Sah den Tag des Himmels, und fiel anbetend aufs Antlitz, Als, wie Wogen des Meers, das um den Himmel umherfleußt: Heilig, Heilig, Heilig ist Gott im Himmel erschallte! 60 Ernst erhub sich ein Engel, der ersten einer, und stellte Neben dem Allerheiligsten sich an die güldene Wage, Welche Welten und Thaten wägt, in welcher der Schweiger Leicht erfunden ward, als die schwebende Hand sein Gewicht schrieb. 0 wie leicht ward Cäsar in ihr erfunden! Harmonisch Klang sie oft und sank von einer Tbräne der Andacht! Nicht nur Thaten, Absichten wägt die goldne Wage. Manchen Gedanken, der heimlich und ungestraft vom Gewissen In der Tiefe des Herzens sich reget und wieder stirbet, Ehe seine Blöße die Sprache mit weiten Gewanden 60 Zudeckt, oder eh' er die Seele der frevlenden That wird, Manchen Gedanken, der heimlich und bald im Heiven vergessen , Aber liebevoll dem schönen Herzen enteilte, Wäget sorgsam ein schützender Engel und lächelt und schreibet Sein Gewicht in das Buch des Lebens mit flammenden Schriften. Neben dem Engel stand der Engel der Erde, der Reiche 17* Digitized by Google 2G0 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang IV. Schützende Geister standen um ihn. Der Engel der Wage Rief mit ernster Stimme: Spanien wird gewogen! Rief es, warf ein goldnes Gewicht in die eine Schaale, Legte dann das Gewicht von Spanien in die andre, 70 Und es eilte leicht in die Höhe Spaniens Schaale. Wieder rief er und schaute umher auf die Engel der Reiche: Gegen Spanien zeuge, wer lang sein Urtheil zurückhielt! Langsam trat hervor der Engel von Ismaels Volke: Meines Volkes Schuld ward auch gewogen! Da triefte Auf GebUrgen mein Blut vom spanischen Schwerte, da floß es Mit den Strömen ins Meer! Da flammten Scheiterhaufen, Nicht der Jungfrau ward und nicht des Säuglings geschonet! Schwieg, da warf der Engel der Wag' ein Weh in die leichte Schaale, daß dumpf sie scholl, doch schwebte sie über der andern. 80 Langsam trat hervor der Engel von Israels Volke: Heilig ist Gott, anbetenswürdig, sein Nam' ist Erbarmer! Noch noch dämmert nicht der Morgen, dessen ich harre, Israel irret umher wie ohne Hirten die Schaafe, Aber leuchten wird einst auch ihm die Sonne des Heiles! Meines Volkes Jammer erweichte Spaniens Herz nicht, Seinen irrenden Kindern ward keine Stätte der Ruhe Dort vergönnet; sie wurden durch jedes Drangsal gesichtet, Und die Uebrigen wurden gefesselt, gefoltert, getödtet Schwieg, da warf der Engel der Wag ein Weh in die leichte 90 Schaale, daß dumpf sie scholl, doch schwebte sie über der andern. Flammen im Blick erhub sich und schnell Amerikas Engel, Wandte zum Allerheiligsten sich und erhub die Rechte. Von dem Nacken wehte sein Haar, es erblaßten die Wangen Bebend ihm, er athmete kurz, hoch schlug ihm das Herz auf: Herr, von Californien bis zum strömenden Plata Ward vertilgt mein Volk, die harmlosen Söhne der Einfalt Bluteten, Schafe von Wölfen zerrissen! Mit wüthendem Jammer Stand ich zwischen den Oceanen, hoch auf Panama s Wogen umdonnertem Gipfel, es waren mit Schiffen der Räuber 100 Beyde Meere bedeckt, es triefte die Südwelt und Nordwelt Unter dem Schwert, ich sah es, und weinte, wie Sterbliche weinen! Schwieg, da warf der Engel der Wag' ein Weh in die leichte Schaale, daß dumpf sie scholl, doch schwebte sie über der andern. Mohrenlands Engel erhub sich, er sähe die Engel von vielen Reichen sich ängstlich an, der Engel Albions, Frankreichs Engel, Danias Engel und Belgiens; Deutschlands Schutzgeist Freute sich seines Volkes und sah dem klagenden Engel Unverwandt ins thränenvolle zürnende Antlitz. Also sprach mit trauernden Worten Mohrenlands Engel: lio Herr, Du hast gezählet die Thränen meiner Gefangnen, Digitized by Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang IV. 261 Hast gewogen das Blut von meinem Volke , der Knechtschaft Eiserne Fessel gewogen! noch rinnen meiner Gefangnen Thränen, noch das Blut von meinem Volke, noch klirret Seiner Knechtschaft eiserne Fessel! Von Spanien lernten Völker Deine Menschen in meinem Lande zu kaufen, Von dem Vater den Sohn und von dem Sohne den Vater! Von dem Manne das Weib und von dem Bruder die Jungfrau! Lernten die Flamrae des Kriegs in meinem Lande zu nähren, Um vom blutigen Sieger gefangene Brüder zu kaufen! 120 Unauslöschlich lodert sie nun! Erbarraer, erbarme Meines zerrissenen Volkes Dich! Erbarmer, erbarme Meiner Zerstreuten Dieb, in fernen Inseln, zur Fessel, Zu der blutigen Geissei, zur Schmach, zur rzweiflung verdammet! Schwieg, da warf der Engel der Wag' ein Weh in die leichte Schaale, daß dumpf sie scholl, doch schwebte sie über der andern. Belgiens Engel nahete sich mit Ruhe der Wage. Thränen säte mein Volk und Spanien hat sie erpresset, Blut bedeckte mein Land und Spanien hat es vergossen, Hätte der Herr nicht selbst den Muth der Meinen gehoben, 130 0 sie jammerten noch vom schweren Joche belastet! Schwieg, da warf der Engel der Wag' ein Weh in die leichte Schaale, daß dumpf sie scholl, doch schwebte sie Uber der andern. Und nun hätte der Engel der Wage wie Stein' aus dem Bache Weh auf Wehe aufgehäuft in die leichte Schaale, Wäre, wie eine Mutter, die, ihre Kinder zu retten Zwischen Flammen sich stürzt, nicht Spaniens Engel erschienen. In der Rechte hielt er Düfte athmendes Rauchwerk, Einen goldnen Kelch in seiner Linken, er wandte Gegen das Allerh eiligste sich und flehte weinend: 140 Deiner Gerechtigkeit müsse mit dieser Schaale des Wehes Herr genügen! Wirst Du diese btissenden Thränen Deiner Kinder nicht zählen in meinem Lande? dies Rauchwerk Ihres Gebets aus heissem zerknirschten Herzen verschmähen? Das sey ferne von Dir, Du bist auch Spaniens Vater! Schwieg! Es hielt der Engel der Wag' ein schweres Wehe In den Händen, hielt es und harrte, da scholl aus dem tiefen Strahlenmeer des Allerheiligsten dieser Befehl ihm: Leg* in die leichte Schaale den Thränenkelch und das Rauchwerk. Da ließ fallen das Weh aus seinen Händen der Engel, 150 Legt' in die leichte Schaale den Thränenkelch und das Rauchwerk, Stürzend erklang sie, und schwebete nun im Gleichgewichte. Nun erhub sich ein Todes-Engel, einer der ersten, Trat an die Wag" und blies in die fürchterliche Posaune, Rief: Der Wehe sind fünf! Er wandte sich wieder, ihm rauschte Von den Schultern sein Feyergewand, so stürzt vom Gebürge Digitized by Google 262 Graf F. L. Ötolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang IV. Rauschender Schnee ins Thal. Die fürchterliche Posaune Legt' er nieder, sie klang wie einer ehernen Glocke, Welche der zagenden 8tadt den Sturm der Feinde verkündet, Letzter dröhnender Schall, indem er nieder sie legte. 160 Ihn umgab mit glühenden Spangen ein purpurner Leibrock, Kraft und Eile gürteten ihn, vom wehenden Helmbusch Blitzten und vom Nabel des Schildes Wetter der Rache, Todestöne kreiseten in der Wölbung des Schildes, Einem Kometen glich sein flammendes Schwert in der Rechten, Schrecken Gottes rauschten von seinen Flügeln herunter! Er entschwebte dem Himmel, es öffnete seinem Schwerte Sich der Aether von fern, und sausend ihm sich die Lüfte. Als er der Erde sich nahte, da schäumte vou Süden zu Norden Wie vor nahem Gewitter das Meer, es wankten die Walder 170 In den Thalen von Chili, es wankten des Libanons Cedern! Als er die Pyrenäen betrat, in nächtlicher Stunde, Da entsanken Gebürge dem Fuß des Unsterblichen, Schlünde Thäten ihm sich auf und speyten strömende Flammen Von den Bergen hinab in blühende Thäler, sie rafften Saaten, Wälder und Heerden dahin und Dörfer und Städte. Nun erhub sich der Todesengel, er schüttelte brausend Sein Gefieder. Seinem Gefieder enteilte der Sturmwind, Und der Sturmwind entfiel auf das Meer. Es kehrte von Peru Eine schwimmende Stadt mit Gold und Silber beladen, 180 Stolz zurück, schnell ward sie hinab in die Tiefe gewirbelt! Endwärts tobte der Sturm von Cataloniens Ufer, Daß geschwollen der Ebro die schönen Gestade verheerte, Und Tortosa's Ufer mit schwimmenden Leichen erfüllte. Nun erhub sich der Todesengel und schwebte verderbend Ueber Spanien hin mit niedersinkendem Schwerte, Unter ihm bebte die Erd' und öffnete plötzliche Gräber, Tausenden auf einmal. Zween dampfende Aschenhaufen Lagen Madrid und Toledo, die Paradiese des Königs Lagen verwüstet, nicht mehr des Stolzes prangendes Denkmal, 190 Aber versenket im Schutt ein Denkmal göttlicher Rache! Auf dem Gipfel des Calpe ließ der Engel sich nieder, Reckte über das Land den Arm mit dem flammenden Schwerte, Und versenkte das Land! Es neigten, ehe sie reiften, Sich an dürren Halmen die Hoffnungtäuschenden Aehren, Knospende Blumen neigten ihr Haupt in den Auen, der Oelbaum Trauerte, mit ihm der Maulbeerbaum, die Pomeranze Starb am hangenden Zweig zugleich mit welkender Blüthe, Und an sinkenden Reben versiegt die Quelle der Freude. Zwischen braunen Ufern vertrocknen lispelnde Bäche, 200 Und es lechzen auf nackten Kieseln zappelnde Fische, Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang IV. 263 Denn das dampfende Schwert zerstreut den Segen der Wolken Und an seinen sinkenden Dünsten entzündet die Luft sich. Unier ihm fallen, mitten im Fluge, die Vögel des Himmels. Auch die Heerden werden geschlagen, giftiger Seuche Feuer lodert im Blute des Stiers, es fallen die Kalber Mit den Müttern dahin, und bey den Schaafen die Lämmer, Andalusiens Boß verschmachtet an schweigender Bäche Sandigen Betten, es kostet zum erstenmale des Tinto Widrige Wellen, und schlürft mit schlagenden Seiten den Tod ein. 210 Nun erhebt sich der Todesengel, langsam schwebend Fleugt er siebenmal mit niederhangendem Schwerte Ueber das ganze Land. Aus brausenden Fittigen schüttelt Er Verderben auf Menschen hinab. Von Küste zu Küste Herrschet die Pest, sie herrscht in der Mitte des zagenden Landes. Heisern und glühend schmachtet der Kranken Kehle, sie hauchen Hülfe verlangend dem jammernden Freunde dürstenden Tod zu; Sie verschmachten vor Glut im siedenden Blute, sie reissen Von der keuchenden Brust umsonst die leichten Gewände. Diesen stürzet brennende Hitze, den die Verzweiflung 220 In die kalten Wellen des Stroms, auf windigen Höhen Wälzen im ewigen Schnee der Pyrenäen sich Andre. Neben dem Sterbenden sinket der Artzt, er holte sich Krankheit, Und vermochte nicht dem Erblassenden Hülfe zu bringen. Jenen sucht und findet die Treue des Freundes, und bringt ihm Träufelnde Gaben des Artztes, umsonst, der Verzweifelnde krümmt sich Wie ein zertretener Wurm in seinem Lager des Wehes, Schäumt aus schwarzen Lippen und sieht mit feurigem Starrblick Seinen Freund, verschmäht und wirft den Becher der Heilung, Daß er ihm nicht verlängre die Qual, mit Wuth auf den Boden. 280 Ihren Säugling sieht die kranke Mutter und zweifelt, Ob sie des Jammers Kind soll legen an Brüste des Todes, Ob sie das jammernde Kind soll sehn im Durste verschmachten. Viele verlassen Guadalquivirs Ufer und suchen am Tago Reinere Lüfte, ihnen begegnen Pilger vom Tago, Hören Zeitung des Wehes, erzählen Zeitung des Wehes, Kehren mit sinkenden Häuptern zurück von der Maßen Verzweiflung Bebenden Hand geleitet, und wanken dem heimischen Tod zu. Wohin wolltet ihr fliehn, Unselige? Von Biscaya's Meerumrauschten Gestade bis hin zu Granatfa's Palmen 240 Schwebt der Würger, er schwebte von Deinen Küsten, Minorca, Zu Esdremadura's Gefilden. Die lieblichen Thale Zwischen dem stolzen Tago und zwwehen dem rauschenden Herta Thale, wo ein ewiger Lenz an blumigen Ufern Lächelt, und im Schatten der Blüthe regnenden Haine, Athmeten tödtende Luft! Valencias schöne Gestade Digitized by Google 264 Graf F. L Stolberg, die Zukuuft. Ilggb. von Hartwig. Gesang IV. Athmeten tödtende Luft! Es sausten Galliziens Haine Nicht vom erquickenden Hauch des wehenden kühlen Gallego. Deun ihn hatte der Würger in Klüften der Berge verschlossen. Aus den Pyrenäen ergießen sich heulender Wölfe 250 Reissende Heerden über die Ebne am Ufer des Ebro, Sie verwandlen Leichnam und Aas in weisse Gerippe. Schaarenweise schweben von hohen Gebürgen die Adler Ins entvölkerte Thal und Raben bedecken die Triften. In der Furche ruhet der Pflug, das wankende Unkraut Scheuß t in Gärten empor und erstickt die Kinder des Fleisses. Keine Werkstatt schwirrt von rastlos rollenden Rädern, Am verlaßnen Gewebe liegt umwunden das Webschiff, Keine Funken entsprühn den Wechselschlägen der Hammer, In den Tempeln Gottes verstummen die heiligen Lieder, 260 Aber Priester ziehn und strenger Gelübde Genossen Durch die grasbewachsnen Straßen in feyerndem Umgang. Helle Thränen begleiten die lieblichen Töne der Nonne Um mit sühnender Buße des Ewigen Zürnen zu stillen, Manche fromme Mutter entschläft im heissen Gebete Für die Kinder, die sie geboren, die sie gesäugt hat! Manche Seele, die eben entrann den brennenden Qualen, Betet im Himmel zu Gott für ihre Verlaßnen auf Erden. Und Gott ruft den Würger zurück! Die Thräne der Freude Stürzet hinab die Wange des Engels von Spanien! Helfen 270 Dürft' er nicht, so lange sein Land der Würger umschwebte. Nun, nun dürft' er! Er eilte herab von der Veste des Himmels, Wie ein Vogel, welchen die Hand des Knaben zurückhielt, Eilet zum Nest der piependen Jungen, so eilet der Engel Hin zu seinem Lande. Wie war dem Unsterblichen, da er Von dem einen Gestade zum andern verwüstet sein Land sah! Er vertheilte die giftigen Dünste, sammlete Wolken Ueber dem Meer und trieb wie eine wolligte Heerde Vor sich her die Wolken und ließ neun Tage sie regnen Ueber das ganze Land; da schwollen wieder die Bäche, 280 Und die Erde athmete wieder Düfte des Lebens. Allen Winden, welche der Würger in hohlen Gebürgen Hatte gefesselt, lösete er die Bande, sie brausten Laut auf wehenden Fittigen über rauschende Ströme, Ueber sausende Wipfel und über tosende Meere! Seinem Kerker enteilte der wehende kühle Gallego Jauchzend, ihn empfingen mit lauter Freude des Minho Wogen, ihn mit säuselndem Schilfe die Ufer des Ulla. Herrschend übergab der Engel dem Winde die Seuche, Sie zu vertreiben, sie floh auf schwerem schwarzen Fittig, 290 Und er trieb sie: es hüben aus ihren Tiefen die Ströme Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang IV. V. 265 Froh die Häupter, der Minho, der Douro, der schwellende Tago, Und es rauschte die Guadiana dem Sieger Triumpf zu! Unermüdet trieb er sie vor sich, über des Meeres Wogen floh sie, er trieb noch unermüdet sie weiter, Bis zur Wüste von Sara, da band sie der Eugel der Wüste, Daß sie nicht die Ufer des mächtigen Niger verheerte, Daß sie Abyssinien nicht mit Jammer erfüllte! So schwer waren die Wehe! Hätte die Frommen des Landes, Wie den gerechten Lot, ein Engel in ferne Gefilde 300 Hingeführt, so hätte der Würger die übrigen alle Weggerafft, so hätte von Deinen Gipfeln, Navarra, Bis zn G uadalquivirs Mündung das Land sich flammend gespaltet! Aber der Herr barmherzig und gnädig, der ehemals Sodom Hätte verschont, da Abraham bat, wofern er in Sodom Hätte nur zehn Gerechte gefunden, erbarmte des Landes Wieder sich. Viel waren der Tausende, welche mit heissen Thränen Tag und Nacht um Gnade flehten; es hörte Sie der Herr! Viel waren der Tausende, die den Erbarmer Priesen, als er wandte die Noth, es hörte der Herr sie. 310 Fünfter Gesang. Nun erschallet der Nachtigall Lied auf hangenden Buchen Ueber dem stillen See und auf den duftenden Erlen An den Ufern des bräunlichen Baches, oder auf Zweigen Blühender Aepfelbäume im Balsam athmenden Garten, Denn sie fliehet nicht die Hütte des Menschen, und fliehet Soine Stimme nicht noch seinen nahenden Fußtritt, Singet ihm Freud und Rührung ins Herz, indem sie den Geber Jeder guten Gabe mit wechselnden Tönen erhebet. Kleine freye Sängerin, für die Ruhe des Baumes Dankest Du melodisch und für die Kühle des Abends, 10 Für den träufenden Thau. Mir schattet die Ruhe des Baumes, Kühlung wehet mit thauigem Flügel der Abend auch mir zu, Und ich sollte nicht danken mit Dir? Ich, welchem dio Leyer Gott und Muße gab zu rühren die heilige Leyer? Dem er ein liebendes Weib mit Nachtigall Seele geschenkt hat, Meine Agnes, mit Taubenaugen und goldenen Locken, Welcho wie rankende Reben den keuschen Busen umflattern? Wohl, ich danke Dir, Gott, aus vollem Herzen und stimme Meine Leyer zum heiligen Liede, Thaten der Zukunft Schweben zu ihren Tönen herbei, so sammlcn sich Bienen 20 Um das tönende Erz des Bienen kundigen Mannes. Wenn sie verschwinden, kehr ich zu Dir in die blühende Laube, Trautes Weib, und sehne mich nicht nach Gesichten der Zukunft, Digitized by Google 266 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang V. Wenn Dein schönes Auge mir thränt, und die Lippe mir lächelt! Lebe wohl, es schweben herbey Gesichte der Zukucft, Lebe wohl! Ich kehre zu Dir in die Rosenlaube, Eh' erröthend der Mond am östlichen Ufer des Sees Sich erhebet, und ehe sein Bild am Fuße der Laube An Dein freundliches Bild auf säuselnden Wellen heranbebt. Ehe mein Lied die kommenden Thaten näher herbey mft, 30 Senk' ich einen ernsten Blick auf Theresias Grabmal. Auch Siona trauret, Theresia liebte Siona. Sanft ist Deine Ruh! Als sich im Tode Dein Auge Schloß, und nun Dein Geist entschwebte der sinkenden Hütte, Lächelten Engel Dir, da an geweihten Altären Millionen Stimmen von Gott Dein Leben verlangten. Engel lächeln noch, wenn an geweihten Altären Millionen Stimmen für Deine geläuterte Seele Flehn, sie möge nicht laug iu prüfenden Flammen verweilen. Und Du lächelst vom Himmel herab, und freust Dich der Liebe 40 Deines Volks und denkest zurück an die Tage des Lebens, Und vor allen an jenen, da Du, von Gefahren bestürmet, Aber unerschrocken auch da, die schönste der Frauen, Schwebend auf feurigem Roß und in den Händen das zarte Knäblein haltend, kühnen Ungarischen Rittern das zarte Knäblein Ubergabst; sie zückten die blitzenden Säbel, Ihren glühenden Augen entstürzten Thränen und flössen Ueber narbigte Wangen an bebenden Bärten herunter, Und sie schwuren für Dich und für Dein Knäblein zu sterben, Oder zu siegen, starben und siegten. Der herrschenden Frauen 60 War nicht eine größer als Du und besser nicht eine! Deinen Tod beweinen die Ufer der Donau, der Elbe, Und des [!] Adda, Deinen Tod die Ufer des Rheines, Und des südlichen Meeres Gestad und des nordischen Meeres. Friedrich weinte, da du starbst, und fühlte sich sterblich; Flüchtige Nonnen weinen um Dich. Der ernsten Geschichte Griffel ätzet Dein Lob in Zeiten höhnende Felsen, Ungeheucheltes Lob; bei Deinen Malen, Maria, Wird der Enkel weilen mit bebenden Thränen im Auge, Wenn, wie Wolkeu des Weyhrauchs, welche Höflinge spendeu, 60 Falsche Größe schwindet, und durch das fallende Tünchwerk Feiles Lobes, auf Tafeln der Zeit das Zengniß der Wahrheit Strahlet als Urkunde gerecht urtheilender Nachwelt. Rollende Sonnen reifen den Ruhm wie dauernde Eichen, Aber Siona vermag ihn wie der Aloe Blume Schnell aufschlössen zu lassen und Leben ewiger Zedern Ihm zu geben, wenn sie der Sterblichen einen besinget. Ihn besinget sie schon, des ungebornen Jahrhunderts Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang V. 267 Großen Sohn, es werden bey seiner Wiege Gefabren Ihn umgeben, es wird, wie seines Vaterlands Felsen, 70 Rauher Nordwind ihn härten. Wie am umbraußten Gestade Eine edle Tanne dem Sturm trotzet, wenn Fichten Fallen und Kiefern, so wird der herrschende Jüngling dem Schicksal Widerstehn, ein Löwe wie Karl und weise wie Wasa, Groß wie Adolph. Ea herrscht in seinem glühenden Herzen Ein Gefühl, das oft bei seinen Spielen den Knaben Schon ergriff, wie Blitze den Jüngling; die Rechte der Menschheit Fühlt er gekrankt, und weiß, daß nicht für Einen die Viele Wurden geschaffen. Er forscht dem heiligen Lichte mit scharfen Blicken nach, sein Auge durchschaut die Nebel des Wahnes, 80 Tausendjährigen Wahns, an feigen Höfen erzeuget, Von gekrümmten Schmeichlern und feisten Priestern gewieget, Jene kriechen am Thron, um Völker treten zu können, Diese füllen wie Hunde den Bauch am Tische der Großen. Solche höret er nicht; was er im Herzen als Jüngling Schon beschlossen, das läßt er langsam reifen, die Völker Vorzubereiten, denn so tief sind Menschen gesunken, Daß sie müssen bereitet werden zur heiligen Freyheit! Endlich führet der Greis es aus. Ich seh' ihn, ich hör' ihn Reden zum Volk; er stiftet, auf stäte Verfassung, der Freyheit 90 Heiligen Bund, und verlaßt die dankenden weinenden Sehaaren Selig wie ein Gott; er entzeucht sich dem Beyfall des Volkes Noch dem menschlichen Lobe nicht trauend, wiewohl er die Krone Von sich legte. Die Väter des freyen Volkes besuchen Ihn in seiner einsamen Hütt' am Gestade des Meeres, Wo er unter hängenden Felsen und sausenden Tannen, An dem Wogen-Geräusch sich oft in den Sand des Gestades Wirft und dem Ewigen dankt, daß Heil dem Volke durch ihn ward. Furchtbar wird es sein,. nicht durch den hungrigen Miethling, Durch den muthigen Bürger furchtbar! Heimische Tugend, 100 Heimische Einfalt und Ruh wird Schwedens glückliche Söhne Bis zu den spätesten Zeiten mit Kränzen des Lobes umwinden. Fleug von Gipfel zu Gipfel, Gesang! Auf den Höhen der Zukunft Schweben Erscheinungen; rufe sie her mit tönendem Zauber! Ach es triefet von Blut, es krümmet sich unter der Fessel Sobieskys Volk! Es würde nicht den Barbaren Weichen, woferne nicht Feiniger seine Ritter, und Vieler Arm war' feil gewesen dem glänzenden Golde des Nachbars. Fleug von Gipfel zu Gipfel, Gesang! Auf den Höhen der Zukunft Schweben Erscb einungen; rufe sie her mit tönendem Zauber! 110 Freye Deutsche bewohnen dereinst des rebenumhangnen Rheines Ufer, jenes, welches die steigende Sonne, Dieses, welches mit Purpur und Gold die sinkende Sonne Digitized by Google 268 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang V. Kleidet. Weß vermaß sich der Burbonide, den Schweitzern Ketten zu zeigen? Es trieft am Felsenthaie der Klause Seiner Miethlinge Blut; es färbt die Wellen der Rhone, Und des lemanischen Sees. Nicht von dem Joche zu retten Ihre Brüder, sie furchten für freye Schweitzer das Joch nicht, Kannten ihre erbliche Kraft im eisernen Nacken, Aber schnell zu zerstreuen die zahllosen Schaaren der Feinde, 120 Welche Hütten verbrennen und blühende Saaten und Reben, Eilen die Schaaren Deutschlands herbei, erlösen die Brüder, Rächen die Väter. Es rollet die Maaß, es rollet die Mosel, Ihre ersten Wellen, wie ihre stolzeren Wogen Wieder durch Deutschland. Es sammlen sich nicht iu den Ebnen bei Straßburg Deutsche Söldlinge mehr und Helvetien6 nervigte Jugend Um die wehenden Lilien, deren schädlicher Ausduft Gift den Sitten, Uebel dem Hirn, Erschlaffung dem Arm ist Wie nach langem Winter im Lenz die Auen und Haine Lächeln, wie sie erschallen von Liedern hüpfender Vögel, 130 Von den Heerden, von girrenden Tauben und summenden Bienen, Denn es freuet sich alles des hellen Laubes, des zarten Grases und der nickenden Thau beträufelten Blumen, Schöner ist die Natur, als da der Winter mit rauher Hand von bebenden Gliedern ihr riß die falben Gewände, Also freuen sich nun die wieder beglückten Provinzen, Glücklicher jetzt, als eh sie der Ehre dürstende Ludwig Unsern wackern Vätern entriß; er hätte sie nimmer Unsern vereinten Vätern durch Macht des Schwertes entrissen, Er bethörete sie durch List und hatte der Zwietracht . 140 Samen, mit nächtlicher Hand, in unsern Acker gesäet. Also thäten bei uns die Burboniden, und thäten So von Hudsons Bucht bis zu der Mündung des Ganges! Oftmals haben sie gegen uns den redlichen Nachbar Von des schwarzen Meeres Gestad herüber gerufen; Werden wieder es thun. — Ach unter den Thaten der Zukunft Sah ich eine bekränzt, sie verschwand, doch schien mir ihr Lächeln Zu verheissen: sie wolle mir bald und strahlend erscheinen. Fleug von Gipfel zu Gipfel, Gesang! Auf den Höhen der Zukunft Schweben Erscheinungen, rufe sie her mit töuendem Zauber! 160 Albion schwindelte lange von stolzer Hoffnungen Becher. Chatam, stolzer als Jene, die sich vermassen das Steuer In bestürmten Wogen und zwischen Klippen zu leiten, Aber weiser als sie, ward nicht gehöret, im Leben Nicht gehöret, wiewohl aus seinem Munde die Wahrheit Bald wie milde Strahlen des Tages die Schlummernden wecken, Bald wie zückende Blitze, von rollenden Donnern begleitet, Digitized by Google Graf F. L. Stoibarg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang V. 269 Sie erschüttern sollte. Mit glühenden Worten der Warnung Starb der Edle schönem Tod als selber der Feldschlacht Tod, ihm brach das Herz in heiigem Eifer; wofern nicht 160 Beßre Zeiten Siona mir zeigte, so würd' ich mit Wehmuth Klagen: Neben Königen ruht der Letzte der Britten! Gott, der nach dem Tage die Nacht und wieder den Tag ruft, Welcher Könige lenkt wie Wasserbache, dem Helden Unsichtbar, zum Tode gewetzt, das Schwert in die Hand giebt, Und mit Binden des Irrthums die Augen der Fürsten umwindet, Welche wähnen am Webstuhl der Zeit nach eignem Gefallen Alle Begebenheiten der menschlichen Dinge zu weben, Und mit der Rechten stolzen Wurf das gleitende Schiffchen In die Linke schleudern durch alle bebenden Faden, 170 Träumend mit glänzendem Golde das Purpurgewebe zu schmücken, Wenn mit Trauerfaden umwunden das Schiffchen sie täuschet; Gott ließ zu den Krieg, der von dem Bette des Abends Donnert in allen Meeren bis zur Wiege des Morgens, Wo an den äussersten Enden der Erde die Völker Europas Sich, von wilden Stürmen auf fremden Wogen gegängelt, Suchen, als ob sie das Grab der heimischen Erde verschmähten. Albion, schone das Blut vou Deinen Söhnen und Brüdern, Deine Wunden bluten vergebens! Vergebens erkaufest Du von deutschen Fürsten die Blüthe kriegrischer Jugend, 180 0 der Schmach für uns, zum Hohngelächter des Käufers! Und vergebens wogest Du Gold in bebenden Schaalen Gegen Schädel der Brüder, die Irokesen Dir brachten. 0 der Schmach für Dich, zum Hohngelächter des Wilden, Der oft brittische Schädel für feindliche Schädel Dir darwog! Aus dem Blut betrieften Lande werdet Ihr weichen, Denn frey wird Amerika seyn! Und kann es Euch Trost seyn, Britten, so sey es Euch Trost, daß unter den Söhnen der Freyheit Eure Brüder die Erstlinge sind. Auf weise Gesetze Werden sie gründen ihr Reich, sie werden sich mehren wie Bienen, VJO Aemsig wie Bienen, wie sie mit scharfem Stachel gerüstet Gegen Jeden, der sich erkühnt zum Zorn sie zu reizen. Unbewohnte Fluren, wo nie im wankenden Grase Weder wiederkäuende Rinder noch muthige Rosse Weideten, werden öffnen den Schooß der blinkenden Pflugschaar, Thäler werden erschallen vom frohen Liede der Schäfer, Und die Ufer des Sante vom lauten Jauchzen der Winzer. Viele Geschenke giebt die Natur dem glücklichen Lande, Diese wird es mit dankender Hand empfangen, und lernen Zu entbehren, was ihm die weise Mutter versagte; 200 Oder von fernen Gestaden, gegen Früchte des Fleisses, Selbst auf seufzenden Fichten mit schwellendem Segel zu holen, Digitized by Google 270 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft Hggb. von Hartwig. Gesang V. Was es theuer vordem dem hrittischen Mäkler verzollte. Geist der Freybeit, Du wirst mit weitumschattendem Flügel Ueber Amerika wehen! Auf morgenröthlichem Flügel Schwebet Siona .und bringt mich auf den Gipfel der Seher, Und mein Auge verliert sich in die Wogen der Zukunft. Also stand Baiboa vordem auf dem Gipfel Panamas, Er allein, sein Blick verlor in die Wogen des Südmeers Staunend sich, und wonnevoll der großen Entdeckung! £U> Seine Geharnischten waren auf niedrer Höhe geblieben, Und er kehrte zu ihnen, mit blassen bebenden Wangen, Wollte reden, verstummte, rief: Das Welt — und das Weltmeer Riefen sie Alle, eilten mit ihm auf den Gipfel, und eilten Schneller hinab in die Tiefe des laut umrauschten Gestades. Und er ging mit Schwert und Schild hinein in die Wogen, Feyerlich weihend dem Vaterlande die große Entdeckung. Also hör' ich und seh' ich die Wogen der Zukunft und schreite Kühn und schwellendes Herzens hinein mit der tönenden Leyer, Denn mir öffnet Siona den Blick, doch seh' ich nicht Alles, 220 Was sie sieht, auch singet sie mir nicht Kunde von Allem, Was sie sieht, doch tränket sie meine Seele mit Wonne, Denn sie singet entflammt! 0 daß des Sterblichen Leyer Zu ertönen vermöchte von dem, was die Himmlische singet! Wer nie für die Schande der Menschheit erröthete, wer nie Heisse Thränen vergoß, wenn Menschen unter des Menschen Joch sich krümmten, sich krümmten unter der blutigen Geissei, Wer mit gleichen Augen den Frohn und die Arbeit der Freyen Ansieht, weder sich freut mit dem frohen singenden Landmann, Wenn der Segen des Herrn entgegen rauscht der Sichel, 230 Und der brausende Most in seiner Kelter emporsprützt, Noch sich innerlich härmt, wenn vor dem Treiber, wie Stiere Dienstbar, nach der Arbeit werth wie Stiere geachtet, Sonder Eigenthum, sie aber selber des Drängers Eigenthum, die Unglückseligen müd und verdrossen Von dem gestrigen Frohn zum frühen Frohne der Erndte Gehn, indeß auf des Fröhnenden steinigten Acker die kleinen Aehren lange schon reif die Beute werden des Keulers, Oder des Hirschen, wofern nicht vor den Tagen der Erndte Schon die bellende, schnaubende Jagd die Saaten verheert hat, 240 Wer das nicht empfindet und in der Tiefe der Seele Nicht empfindet, der hat seiner entfernteren Brüder Elend weniger noch im kalten Herzen empfunden, Der weiß nicht, was Hirsche des Thaies wissen, daß Freyheit Köstlich ist, weiß nicht, daß frey geboren der Mensch wird! Mag er doch, und glauben, was feile Lehrer der Schule Ihm beweisen, es werde der Mensch als Sklave geboren, Digitized by Google Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. vou Hartwig. Gesang V. 27 1 Und das Wiegenkind, der Keim in den Nieren des Säuglings, Sej von Geschlecht zu Geschlecht zum ewigen Joche verdammet! Wie wenn in der belagerten Stadt zu nächtlicher Stunde 250 Kühne Abentheurer dem feindlichen Lager entscbleichen, Und an vielen Seiten zugleich venehrende Feuer Hegen, welche sich bald in wankenden Flammen erheben, Schnell verbreitet die Angst sich umher, das Verderben noch schneller, So verbreitet Verderben und Angst sich unter den Drängern, Welche sandte die Mündung des stolzen Tago, und welche Spanien sandte. Der Dränger von Mexiko sendet zu Peru's Drängern gen Lima Boten des Jammers und bittet um Schaaren. Aber es waren auch Boten des Jammers von Peru gegangen Hin gen Mexiko! Boten des Jammers hin zu des Plata 260 Mündung gegangen! Es hatte der Sohn des Tago von dannen Boten des Jammers gesendet! Es fleußt in den Ebnen von Quito Spanisches Blut, es fleußt das Blut der Schaaren vom Tago An Marmanza's Strand und an dem Ufer des Negro. Auch die Enkel der Söhne des Landes, welche Gebürge Schon Jahrhunderte gegen die Wuth Europas schützeu, Ziehn aus tiefen Thälern hervor, die kühnen Araukas Und Puelches. Wie aus Pyreuäischen Thälern Schaarenweise Wölfe vom langen Winter ergrimmter Ziehn, sie reissen vom Pfluge den Stier und flüchten den Landmann, 270 Reissen den Beuter vom Roß, des Knalls und der Flamme nicht achtend, So die nervigten Stämme von Chili, des weichlichen Peru Enkel hat Armuth und Grimm und rauhe Bergluft gehärtet. Auch sie strömen aus Klüften der Weltumgürtenden Andes, Mexikos Söhne wie sie, verbreiten Tod und Verderben, Racheschnaubend! Es hatten die Mütter blutige Sagen An der säugenden Brust den hangenden Knäblein gesungen. In Europa flammen indessen Fackeln des Krieges, Könige haben sich wider die Völker der Freyheit verschworen, Haben die Söhne des Morgens erreget. Plötzlich erschallet 280 Fern von Abend die unerwartete Todesbotschaft. Zahllos decken Schiffe das Meer, sie sendet der Tago, Sie der Guadalquivir, sie die Guadiana, der Ebro, Frankreich Biel Auch schweben aus Albions Eiland, es schweben Kühne Geschwader aus Deutschland hinüber. Amerikas Engel Steht in Buenosayres auf hoher Zinne des Tempels, Und siebt eine schreckliche Schlacht Zween dampfende Tage Wanket auf schäumenden Wogen der Sieg ! Es entscheidet der dritte Furchtbare Tag. Drey Schiffe der Könige hatten der Donner Viele gesandt, sie fliegen in Meererschütterndem Donner 290 Flammend in die nächtliche Luft. Die Mündung des Plata Sendet flüchtige Wogen ins Land, es beben die Ufer, Digitized by Google 272 Graf F. L. Stolberg, die Zukunft. Hggb. von Hartwig. Gesang V. Und dem Fuße des Engels entstUrzt der krachende Tempel. Sieben Schiffe der Könige sinken, es wählen die andern Vor gewissem Tode das Leben und folgen dem Sieger. Auch Amerikas nördliche Söhne eilen zur Hülfe Ihren Nachbarn, Reisige ziehen und rüstiges Fußvolk Längst Ohio, längst dem mächtigen Misisippi, Ihre Schiffe donnern und tödten in Mexiko's Meerbucht. Oeffne früh dem Sieger das Thor, o Lima, vergebens 300 Windest Du Dich, wie unter dem Fuße des zürnenden Wandrers Eine zischende Schlange, die Hülfe, welcher Du harrest, Wird nicht kommen! Die Söhne der Inka's vertilgten die Schaaren Deiner Genossen, im Thale der Wolken höhnenden Andes, Und Du siehst die schwimmenden Festen, welche Dich trennen Von der Hülfe des Meers. In Deinem zerrissenen Busen Nährst Du schlimmere Feinde, den schielenden Argwohn, die Zwiespalt Und den bleichen Hunger. Der jammernden Mütter erbarmet Sich der Feldherr nicht und nicht der winselnden Kinder, Seinen Kriegern reichet er Speis' in stärkender Fülle. 310 Was bekümmern ihn der Bürger Todesgestalten V Sinds nicht Schätze Goldes und Silbers, die er vertheidigt? O der Herz bethörenden, Herz verstockenden Schätze! Kannst Du vor den Flammen sie retten, fühlloser WüthrichV Sieh, es jauchzen die Bürger der Flamme, welche der Väter Dach mit mancher Erinnrung der bunten Jahre verzehret, Jauchzen entgegen dem Sieger, dem Retter, welcher das Leben Ihnen bringet, und mehr als Leben, Freiheit verheisset. Ueber vieler Städte Jammer, über Vertilgung Großer Heere senket die Muse den Schleyer, sie schwieg mir, 320 Als ich brannte zu wissen der neugestifteten Reiche Namen und Satzung; dann lächelte sie und sagte: genügen Müsse Dir das, Gerechtigkeit wird und dauernde Freiheit In Amerika wohnen, es wird die himmlische Wahrheit Ihren milden Glanz in tiefen Thälern der Andes Nach und nach verbreiten, es werden Söhne der Inka's Ihre Stämme beherrschen und mit den Söhnen der Freiheit Heiligen Frieden halten; die wackern Stämme von Chili Werden in sichrer Ruh, unangefeindet und selber Nicht anfeindend, die Höhen und krummen Thäler bewohnen. 330 An der Küste verbreitet sich, unter weisen Gesetzen, Im paradiesischen Chili dereinst die edelste Freiheit. Meintest Du, daß ewig das Joch unmenschlicher Knechtschaft Drücken sollte? Folgen denn nicht die Lenze dem Winter, Nicht den Nächten die Tage? Dem allzusichren Europa Sey es Warnung dereinst, daß wenn die Sonne dem Inka Strahlet, unsre Welt in nächtliche Schatten gehüllt ist! Digitized by Google ■ Benjamin Franklin's Rules for a Club established in Philadelphia Übertragen und ausgelegt als Statut für eine Gesellschaft von Freunden der Humanität vonJ. G. Herder 179 2. Aus demNachlass veröffent- licht und Eduard Simson zum 22. Mai 1883 zuge- eignet von Bernhard Suphan. Berlin 1883, Weidmann. 36 S. 8Ü. Vgl. Briefe zu Beförderung der Humanität Herders Werke hggb. von Suphan. 17. und 18. Band. Berlin 1881 und 1883. Diese kleine Schrift hat Suphan im vorigen Jahre Eduard Simson zu Ehren veröffentlicht. Eine hellere Beleuchtung empfängt sie durch den einige Monate später von Suphan in Druck gegebenen Band 18 der Werke Herders, welcher den Schluss der „Briefe zu Beförderung der Humanität" enthält. Der gewissenhaften Sorgfalt des Herausgebers verdanken wir einen klareren Einblick in Herders Absichten : die Ordner der letzten Gesammtausgabe hatten sich auch um dieses Werk Herders nicht eben verdient gemacht. In den Humanitätsbriefen wollte Herder in volkstümlicher Fassung fortsetzen und ausführen, was er in seinen „Tdeen" in wis- senschaftlich-zusammenhängender Weise gethan hatte. In gewissem Sinne waren die Briefe die Verwirklichung eines alten Vorhabens, denn schon im Journal der Reise (1769), wie Suphan1) zeigt, hatte er ein „Jahrbuch der Schriften für die Menschheit" geplant. Die veränderten Zeitverhältnisse hatten auf Herder tief eingewirkt. Das beste wollte er in dieses populäre Werk legen, „das er in Herz und Seele trage". Frank und frei jedoch seine Meinung zu äussern, war er verhindert. Er hatte den Ausbruch der französischen Revolution mit Genugthuung begrüsst; still in sich trug er die Begeisterung für das Recht und das Glück der Völker. Seine Aeusserungen gegen die „Hofzunft11 sind bekannt. „Er ist dem Adel schrecklich feindu, so erzählt schon aus dem Jahre 1782 der junge Müller2), „weil er der Menschengleichheit und allen Grundsätzen des Christenthums entgegen und ein Monument der menschlichen Dummheit ist." Die 1) Band 18, 629. 2) Aus dem HerderVchcn Hause. Aufaeich nnngen von Joh. Georg Müller, hggb. von Jakob Bäcbtold. Berlin 1881. S. 109, vgl. S. 56 gegen das Leben an Höfen. A seu iv r. Litt. (Usch XIII 18 Digitized by Google 274 Jacoby, Anz. v. Franklin, Rules, übertr. v. Herder, hggb. v. Suphan. vornehme Abwendung von den Bedürfnissen und Bestrebungen der Zeit, die bei Goethe und Schiller hervortritt, lag Herder fern. Aber die Ideen der Freiheit waren bei den deutschen Regie- rungen und Machthabern missliebig geworden. Sie schickten sich an, den Franzosen mit Gewalt ihren König wieder aufzuzwingen: der Vertheidiger der Menschenrechte, der Anwalt der berechtigten Gedanken der grossen Bewegung schien vor ihrer Rache nicht sicher. Herder war in schwieriger Lage. Oft mochte er mit sich unzufrie- den sein, in Gedanken an Luther1), dass er aus Menschenfurcht nicht alles sagte , aber schweigen wollte und konnte er nicht. „Die Dinge, die vorgehen", schreibt er dem revolutionsfeindlichen F. H. Jacobi 17928) „öffnen den Mund." In demselben Briefe hatte Herders Gattin Caroline vorher geäussert : »Die Sonne der Freiheit geht auf; • . . in Deutschland werden wir noch eine Weile im finstern sitzen, doch erbebt sich der Morgenwind hie und da in Stimmen." Nicht bloss den näheren Freunden wie dem demokratischen Knebel war Herders politische Gesinnung bekannt, auch ferner stehende konnten sie aus früheren Schriften ihm zutrauen. Erwäh- nung verdient, dass Georg Forst er, der mit Herder innig be- freundet war, in mehreren seiner Aufsätze gleich nach dem Ausbruch der französischen Umwälzung ähnliche Anschauungen vertrat wie Herder. Eine Bewegung in Deutschland hatte auch Forster eben- sowenig für möglich wie heilsam gehalten. Reformen allein wollte er: „nur so könnte der Vulkan Frankreich Deutschland vor dem Erdbebeu bewahren". Wie Herder hatte er von einem Feldzug gegen die Republik abgerathen; auch er hasste wie Herder die französischen emigrierten, welche den Fürsten in den Ohren lagen.3) 1) Vgl. in der Schrift Saphans S. 14 eine Aeusserung Herders aus dem Jahr 1781. 2) Aub Herders Nachlass II, 298 und 301. 3) Beachtenswerth ist auch , dass der von Herder verehrte Franklin Forsters Liebling war. In den „Erinnerungen aus dem Jahr 1790" hat Förster den „guten und grossen Mann" gerühmt. Er hatte ihn persönlich kennen gelernt. Im Jahre 1777, so heisst es in der genannten Schrift, sagte Franklin mir selbst zu Passy: wir kämpfen 80 Jahre su früh (Forsters kleine Schriften, 6. Theil, Berlin 1797, 8. 106, vgl. S. 192). — Noch bemerke ich, dasB in Herders kühner, poetischer „Epistel über den Nationenruhm" da, wo er auf die Frage, „wer sind die Fieissigen, die Künstler" in allen Ländern, antwortet: „Dentsche sinds. Nur nicht in Deutschland . Vor dem Hunger flohn Sie nach Saratow, in die Ta- tarei", dass bei jenen Worten ihm Forsters Vater, Reinhold, vor Augen stand. In bedrängtester Lage hatte dieser Danzig verlassen und im Auf- trag der russischen Regierung 1765, von Georg begleitet, die Zustände der Colonisten von Saratow und Umgegend an der unteren Wolga er- Digitized by Google Jacoby, Anz. v. Franklin, Rules, übcrtr. v. Herder, hggb. v. Suphan. 275 Die eigentliche Absicht Herders trat in der ursprünglichen Gestalt der Briefe viel deutlicher hervor als in der spateren Ueber- arbeitung. Die erste Sammlung bestand ursprünglich aus 24 Briefen und einem Vorwort. Nur ein Theil von ihnen ist noch vorhanden. Die von Herder zurückbehaltenen und „abgeschnittenen" Briefe, meist bisher ungedruckt, stehen im Anhang des 18. Bandes S. 304 u. ff. Die Sammlung ist 1792 verfasst, wie Suphan nachweist.1) Eine Stelle im 17. Briefe ist von wesentlicher Bedeutung. Herder tritt gegen diejenigen auf, welche den Deutschen die Verpflichtung auferlegen, „für die alte Ehre des Königs der Franzosen" einzutre- ten. „Kein Deutscher ist Franzose, um, wenn diese ihren alten Königsstuhl . nach mehr als einem Jahrtausend säubern wollen, . . den Geruch davon mitzutragen." So konnte Herder 1793 nicht mehr schreiben. Nach der Hinrichtung des Königs tritt er nicht bloss in Briefen an Jacobi im J. 17938) gegen die „Anarchie" in Frank- reich auf, sondern auch in einem 1794 verfassten Gedichte. Von diesen 24 Briefen, dem „Grundstock des Humanitäts- Werks'', ist nichts an die Oeffentlichkeit gekommen, wol aber finden sich von den ursprünglichen Gedanken mehrere in den Briefen 110 und 111 und an anderen Stellen. Das schroffe, verletzende in der Form haben die späteren Briefe nicht, aber dafür büssten sie auch die lebendige Wirkung auf die Zeitgenossen ein, die Beziehungen auf die Gegenwart. Trotz aller Vorsicht, allem Zwang, den Herder sich auferlegte, wurde dennoch die 1793 veröffentlichte erste Samm- lung der „Briefe" in Oesterreich verboten. Am Ende des 27. Briefes — 3. Sammlung 1794 — sagt Herder mit Bezug hierauf, Huma- nität sei gleichsam die Kunst unseres Geschlechts; ohne sie sinken wir zur rohen Thierheit, zur Brutalität zurück. . . „Briefe zu Beför- derung der Brutalität wird doch kein ehrliebender Mensch wollen geschrieben haben" (Bd. 17, 138). So wurde die ursprüngliche Anlage des Werkes durch Herder selbst verändert. Er hat in dasselbe auch Materien aufgenommen, welche ursprünglich nicht für dieses bestimmt waren. Auch mit den Fragen Franklins verhält es sich so, die uns zunächst angehen. Sie sind gleich im 3. Stück der ersten Sammlung zu finden Bd. 17, 10—16 bei Suphan (in der älteren Ausgabe sämmt- licher Werke zur Ph. u. Gesch. 1829, Stuttg. 13, 11 u. f.). In der forscht. Um den Lohn seiner aufreibenden Thätigkeit wurde er durch die Intriguen des Gouverneurs von Saratow gebracht. Auch an jene deutschen Colonisten konnte Herder denken. — Im Band 18, 210 bei Suphan heieut es Seratow; richtig in der Ausgabe 1829 z. Fb. u. Gesch. 14, 103. Im Originaldruck steht e. 1) 18, 536. 2) Ans Herders Nachlass II, 302. 18* Digitized by Google 276 Jacoby, Anz. v. Franklin, Utile«, übertr. v. Herder, hggb. v. Suphan. älteren, ausführlicheren Fassung liegen diese Fragen in der kleinen Eduard Simson gewidmeten Schrift vor; im 18. Bd. der Werke im „Anhang" S. 503 — 8. Franklin war Herders Liebling wie Forsters. Ein Volkserzieher im grossen zu werden war Herders Ideal. Im 3. Humanitätsbriefe äussert er: „Griechen und Römer . . waren sprechende oder gar han- delnde Personen; der Geist der Rede und Handlung athraet also auch in ihren Schriften. Ueberhaupt äussert sich in den entschei- dendsten Fällen der wahre Geist der Humanität mehr sprechend und handelnd, als schreibend." So hatte Forster gesagt, es sei des Schreibens zu viel, des handelns zu wenig in Deutschland. Wir hätten zwar Tausende von Schriftstellern, „dessenungeachtet, wie es keinen deutschen Gemeingeist gibt, so gibt es auch keine deutsche öffentliche Meinung". Franklin hatte als junger Mann einen Club mit wissenschaft- lich-philanthropischen Zwecken ins Leben gerufen. Diese Fragen sind das Statut , das er für den Eintritt in den Junto entworfen hatte. Mit seiner Uebersetzung und Erläuterung wollte Herder den Sinn für Gemeinsamkeit erwecken, die Liebe zu Recht und Gesetz gegen die Eingriffe der Willkür in den Gemüthern befestigen. Da die ursprüngliche Bearbeitung von der Hand Carolinens, der Gattin Herders, geschrieben ist, Herder jedoch nur im Nothfall seine Ar- beiten abschreiben Hess, so ist die Zeit der Abfassung wahrschein- lich der Spätsommer des J. 1792, da Herder durch seine rheuma- tischen Schmerzen am schreiben gehindert war. In Aachen hatte er die 1791 in Paris erschienenen Memoires de la vie privee de Benj. Franklin kennen gelernt. In diesen war le junto erwähnt, nicht die Fragen. Diese hat er wahrscheinlich in einem 1779 er- schienenen Buche Franklins gefunden, welches im Besitze von F. H. Jacobi war. (Näheres s. S. 17 der Schrift.) Die Art, wie Herder an die Fragen eigene Erörterungen an- knüpfte, macht es wahrscheinlich, dass der Aufsatz ursprünglich eine locale Bestimmung hatte. Auf Haynas und Seufferts An- regung glaubt nun auch Suphan1), dass Herder für die am 5. Juli 1791 gestiftete „Freitagsgesellschaft" in Weimar die Arbeit ur- sprünglich bestimmt hatte. Ob sie wirklich zum Vortrag gelangt ist, das ist fraglich. Goethe war der Praesident der Gesellschaft.*) 1) 18, 640. 2) Denselben Geist, in welchem Herder die Fragen Franklins be- kannt gemacht und erörtert bat, athmet das Gedicht Goethes „Rechen- schaft", 1810 gedichtet. Ich will damit nicht gleich als gewiss behaup- ten, dass den Dichter die Erinnerung an jene Tage umschwebt hat, da er mit dem Freunde sich darin einig fühlte, den Sinn für Gemein- samkeit zu wecken und rege zu erhalten. Ganz anders ist der Ton in Goethes Gedicht „Generalbeichte1*. Digitized by Google Jacoby, Adz. v. Franklin, Rules, übertr. v. Herder, hggb. v. Suphan. 277 Die Abweichungen der älteren Uebersetzung von der späteren sind nicht geringe; sie sind von Suphan angemerkt worden in der Schrift S. 28 und Band 18, 545. Hervorzuheben ist, dass in den Humanitäts- briefen unter Nr. 12 Herder die Frage abzudrucken gewagt hat: Haben Sie neulich einen Eingriff in die rechtmässigen (sie) Rechte des Volks bemerkt? Englisch: Have you lately observed any en- croachment on the just liberties of the people? In der alten Uebersetzung fehlt die Frage. Wie Herder durch Franklins Mund sein politisches und mensch- liches Glaubensbekenntnis s an den Tag zu legen bestrebt war, so geschieht es in den folgenden Briefen durch Auszüge aus den Schrif- ten der grössten Männer des 18. Jh. wie der beiden vorhergehenden Jahrhunderte. Was in der Vorrede des Schriftchens darüber ge- äussert wird, macht Band 18 deutlicher. „Funken aus der Asche eines Todten" — diese Worte, die vor den Auszügen aus Lessings Schriften und Briefen stehen, sind bezeichnend für die Absicht Her- ders. In den Zeitgenossen wollte er die Liebe zu einer vernunft- gemässen Freiheit wecken: in Lessings Leben sollte sich das Ge- schick des deutschen Volkes spiegeln, seine Kämpfe, seine Leiden, seine Belbstbewusste Kraft. Berlin, im Februar 1884. Daniel Jacoby. ■ Anzeigen aus der Goethe -Litteratur. 1. GoethesBriefe Uebersichtlich nach den Empfängern geordnet Bearbeitet von Fr. Strehlke. 21. Lieferung. Berlin 1883. Verlag von G. Hempel. (Bernstein & Frank.) — 22. bis 27. Lieferung. Berlin 1884 u. s. w. Innerhalb der 22. Lieferung schliesst das Werk, welches auf dem Titel der Liefeningen angekündigt ist, und es beginnt ein an- fänglich nicht vorgesehener dritter Theil, enthaltend das chrono- logische Briefverzeichniss. Mit der 27. Lieferung ist das Werk nun- mehr beendigt. Mehrseitig kundgegebene Ansichten erklärten dieses Verzeichniss als noch grösseres Bedürfnis« als das nach den Em- pfängern geordnete, imd nachdem nunmehr den entsprechenden Wünschen Rechnung getragen ist, stellt sich dieses Werk als ein für die Goethe-Forschung unentbehrliches und dieselbe ungemein förderndes dar. Der in der 21. Lieferung enthaltene Schluss der Briefe an un- bekannte bietet zu weiteren Bemerkungen keinen Anlass, wol aber der folgende Abschnitt „Nachträge, Berichtigungen und Ergänzungen". Der Herausgeber wehrt sich gegen mehrere meiner Ausstellungen in den Anzeigen der einzelnen Lieferungen im „Archiv" — z. Th. unglücklich. Da aber meine Erwiderungen nichts mehr helfen können, verzichte ich darauf, das letzte Wort zu behalten, und beschränke mich auf einige zu thatsächlicher Berichtigung dienende Hinweise. Mit meinen Ausstellungen Uurecht gehabt zu haben, bekenne ich hinsichtlich der Zuweisung des an Karl Freiherrn von Dal- berg gerichteten Briefs vom 21. Juli 1779 an dessen Bruder in Mannheim, eines an Fürst Pückler gerichteten Briefs an Förster und eines an Luden gerichteten an Heeren. Dagegen hatte ich unbestreitbar Recht, das Vorhandensein des angeführten Briefs an Dannecker zu leugneu. Es ist nicht „schwer zu entscheiden", wie Strehlke glaubt, ob Diezel, dem er seine Angabe entnommen, sich geirrt habe; er hat sich geirrt, und wenn Strehlke die von mir im Arch. f. Litt. -Gesch. XI, 309 darüber angeführten Thatsacheu für erlogen hält, so mag er sich gefälligst zu mir bemühen, um den von Diezel nach jedesfalls nur oberflächlicher Einsicht citierten Katalog selbst nachzulesen. Der Brief an Genast von Anfang Juui 1814 beginnt: „Zu- vörderst danke ich Ihnen". Uebrigens ist das Citat dieses Briefs im Digitized by Google y, Biedermann, Anzeigen aus der Goethe-Litteratur. 279 Archiv XI, 426 nicht genau; es muss heissen: Theaterlocomotive 1845 Nr. 5 III. — Strehlke berichtigt nach meiner Ausstellung über die Adresse des Briefs vom 28. August 1807, den er an Joseph von Hammer-Purgstall gerichtet sein Hess, dass der Adressat „Graf Hanimer-Purgstall" sei. Das habe ich nicht gesagt und nicht sagen können, weil es keine Grafen Hammer-Purgstall gibt: der Adressat war Graf Purgstall. Strehlke wünscht Bezeichnung der deutschen Zeitschriften, in denen der Brief an Karadschitsch bereits abgedruckt war; wenig- stens eine habe ich angemerkt und zwar: „Die Heimath. Hlu6trirtes Famiiienblatt. III. Jahrg. II. Bd. Nr. 49. 1878." Dieses Blatt war auch in meinen Nachträgen zu Hirzeis Verzeichniss einer Goethe- Bibliothek zu finden. Die Echtheit des Briefs an Klingemann über die Faust- Auf- führung wird bezweifelt. Die Quittung für den Edlen v. Lämmel, die in Nr. 45 der „Heimath" von 1882 stehen soll, habe ich weder in dieser Nummer, noch überhaupt in dieser Zeitschrift gefunden. Strehlke sagt, ein Brief an die Herzogin von Montebello solle gedruckt sein in den M6langes posthumes d' Adam Mickiewicz; sein Gewährsmann dürfte sich geirrt haben. Es ist ein Abschreibefehler, wenn in der „Wissenschaftl. Beil. d. Leipz. Zeitung" 1880 Nr. 76 im Brief an Weller vom 12. August 1829 „Verehrtester" steht; es muss „Werthester" heissen. Unter den Nachträgen finden sich zum ersten Male gedruckt oder doch erwähnt Briefe an Gläser (II, 496 f.), Geh. Kammerrath v. Göchbausen (497), Haydon (499 f.), De Kirckhoff (505 f.), v. Otto (513), Peters und v. Quandt (514), Karl August (515) und Voss (523). Nach dem Briefverzeichnisse stellt der Herausgeber die Adres- saten gruppenweise zusammen und überblickt dann die „Gesammt- resultate" — wie er einen Excurs über Goethes Briefe nennt — , indem er insbesondere den Werth dieser Briefe in Bezug auf die Kenntniss der Eigenschaften, Beschäftigungen und des Lebensganges des Dichters und seiner Stellung zu Zeitgenossen sowie auf das Ver- ständniss seiner Werke, ingleichen die Bedeutung eines Theils der Briefe wegen ihres selbständigen tiefen Gehalts und ihres Einflusses auf die deutsche Sprache andeutet i 2. Goethe- Jahrbuch. Herausgegeben von Ludwig Geiger. Fünfter Band. Frankfurt a. M. Literarische Anstalt Kütten und Loening 1884. Unter vorstehender Firma erhalten wir nun schon zum fünften Male eine erkleckliche Bereicherung des Goethe -Schriften-Schatzes Digitized by Google 280 v. Biedermann, Anzeigen aus der Goethe-Litteratur. und fortlaufende Sammlung alles auf Goethe bezüglichen in unserem Schriftthum. Die Einrichtung dieses Bandes ist im wesentlichen die frühere, nur dass die „Neuen Mittheilungen" wie billig an die Spitze gestellt, sowie ferner „Abhandlungen und Forschungen", da sie schwer unterschieden werden können, in Einen Abschnitt zusamraen- gefasst sind. Die „Neuen Mittheilungen" eröffnen 20 Briefe Goethep, von denen jedoch zwei schon gedruckt sind, und zwar der 2. — der aber nicht an Iffland gerichtet ist, sondern an A. W. Schlegel (im VII. Bande des Shakespeare-Jahrbuchs), und der 5., den der Herausgeber nur deshalb wieder abdrucken läs&t, weil er bisher unter falscher Adresse — Iffland statt Kirms — gieng. Die übrigen 18 bisher ungedruckten Briefe sind gerichtet an Herzog Ernst II. von Gotha, Herzog Karl August, Amalie Wolff, Frau v. Heygendorff, v. Schreibers, v. Voigt (der Heraus- geber kennt den Adressaten dieses 8. Briefes nicht), H. Meyer (5), Hofrath (nämlich Friedrich Sigismund) Voigt, Varnhagen v. Ense (3), Hirt, Ottilie v. Goethe und Baron Reutern. In den „Nachträgen zu Goethe-Correspondenzen. Tm Auftrage der von Goetheschen Familie aus Goethes handschriftlichem Nach- lass herausgegeben von F. Th. Bratranek" — befinden sich noch Briefe Goethes an Johann Heinrich Voss (2), Heinrich Voss und an Frau von Stael (2). In dem folgenden „Briefwechsel zwischen Goethe und Ernst Meyer. Herausgegeben von L. Geiger" stehen 6 Briefe Goethes. Nehmen wir voraus, dass in den „Abhandlungen und Forschungen" (S. 299 bis 308) sowie unter den „Miscellen" (S. 349 f.) noch 18 Briefe oder Stellen aus Briefen an H. Meyer vorkommen, so haben wir in diesem Band im ganzen 47 Briefe und Briefstellen von Goethe. Darauf beschränken sich aber auch hier die neuen Mittheilungen von Schriftstücken Goethes. Die ersten 20 Briefe sind mit Erläuterungen versehen, die zu einigen Bemerkungen Anlass geben. Der in Brief 9 erwähnte Müller ist nicht, wie S. 18 gesagt wird, der in meiner Ausgabe der „Tag- und Jahreshefte" Abs. 1021 (nicht Abs. 121) genannte Heinrich Müller, sondern dessen Vater Johann Christian Ernst Müller. — Im 15. Briefe S. 26 Z. 19 ist Millinger verschrieben, verlesen oder verdruckt für Millingen (James). — Im 16. Briefe ist „das Augusteum" nicht erklärt; es ist Beckers Kupferwerk über die Dresdener Antikensammlung gemeint. Die „Nachträge zu Goethe-Correspondenzen" beginnen mit Gaben aus dem Briefwechsel mit der Familie Voss. Die Briefe von Heinrich Voss, deren 15 abgedruckt sind, haben grösstentheils für die Goethe-Kunde keine Bedeutung; ihr Abdruck ist nur gerecht- fertigt, sofern bei späterem bekanntwerden aller Briefe Goethes an Digitized by Google v. Biedermann, Anzeigen aas der Goethe- Littemtnr. 28 t Voss die Beziehungen der letzteren ihre Grundlage finden. Ueber die Zahl dieser Briefe Goethes ist nicht recht ins klare zu kommen. Voss schreibt in seinem ersten Briefe aus Heidelberg v. 7. December 1806 (S. 53), dass er einen Brief, den ihm Goethe vor dritthalb Jahren geschrieben habe, wie ein Heiligthum bewahre. Nun kennen wir aber zwei Briefe Goethes an Voss aus dieser Zeit, und zwar einen ungedruckten vom 21. Marz 1804, der in „Goethes Briefen an Eichstädt44 (Berlin, G. Hempel. 1872) S. 70 angekündigt ist, und einen vom 10. October dess. J., den Voss in einem Briefe an Solger von diesem Tage erwähnt ( Arch. f. Litt.-G. XI, 1 1 5). Am 7. December 1806 hat derselbe noch keinen Brief von Goethe nach Heidelberg erhalten (S. 53), also ist der etwa Mitte Januar 1807 geschriebene, den er im Briefe vom 31. Januar 1807 beantwortet (S. 56), der erste, den Goethe nach Heidelberg hat an ihn abgehen lassen. Bis Mitte März hat Voss noch keinen zweiten (S. 61), sodass als dieser der vom 17. Marz anzusehen ist, der in „Mittheilungen über Goethe und Schiller in Briefen von H. Voss" S. 105 f. veröffentlicht wurde. Für das nächste halbe Jahr haben wir keine Spur eines Goethischen Briefes an Voss, trotzdem schreibt dieser am 30. Juli 1807 an Solger, dass er schon 5 Briefe von Goethe habe (Arch. f. Litt-Gesch. XI, 134), und zwar lässt sich dem Zusammenhange nach nur annehmen, dass er bloss von in Heidelberg empfangenen Briefen spreche. Sollte 5 verlesen sein für 3? Gewissheit eines Briefs von Goethe erlangen wir erst wieder durch Vossens Brief vom 30. September 1807 (S. 68); Voss beantwortet damit denselben Brief, dessen er im Brief an Frau v. Schiller vom 17. October d. J. gedenkt (Charl. v. Schiller u. ihre Freunde III, 231). Die nächste sichre Kunde von einem Briefe Goethes an Voss wird uns erst wieder durch des letzteren Antwort vom 28. Juli 1820 (S. 83 ff.), und endlich folgt der letzte bekannte Brief vom 22. Juli 1821, der S. 87 f. abgedruckt ist — Demnach kennen wir zuverlässig nur 7 Briefe aus den Jahren von 1804 bis 1821, von denen nur 2 gedruckt sind. Unter den 21 Briefen der Frau v. Stael kommen wieder nur 2 von Goethe vor, deren Datum leicht bestimmt werden kann: Brief 112 ist nämlich vom 16. December 1803 uud Brief 114 vom 19. dess. Mon., was sich aus Goethes Briefen an Frau v. Schiller von diesen Tagen ergibt. Bedeutender als diese Veröffentlichungen aus Goethes Archiv ist der vom Herausgeber bearbeitete „Briefwechsel zwischen Goethe und Ernst Meyer"; dass ersterem selbst an die.sem Briefwechsel gelegen war, geht schon daraus hervor, dass die kleine Hälfte der von 1822 bis 1831 zwischen Goethe und Meyer gewechselten 19 Briefe von Goethe herrührt. Im Goethe- Jahrbuch sind zwar nur 6 von Goethe und 5 von Meyer abgedruckt, die übrigen stehen aber in „Goethes naturwissenschaftlicher Correspondenz" von Bra- Digitized by Google 282 v. Biedermann, Anzeigen ans der Goethe-Litteratur. tranek. Geiger gibt einen sorgfältigen fortlaufenden Commentar zu den Briefen; besonders hervorzuheben ist der Nachweis S. 173 ff., wie die „Geschichtlichen Nachträge" zu der Ausgabe von 1831 des „Versuchs Über die Metamorphose der Pflanzen" aus Meyers Briefen hervorgegangen sind. „Bodmer über Goethe, 1773—82. (Aus dem ungedruckten Nachlass Bodmers auf der Zürcher Stadtbibliothek.) Mitgetheilt von Johannes Crüger" gibt Auszüge von Briefen Bodmers an Scbinz, Sulzer und Meister, sowie von Sulzer, Schinz und Gemmingen an Bodmer. Im allgemeinen ist schon bekannt, wie diese Männer über Goethes dichterische Leistungen dachten und sie verkannten, und wir erfahren nichts wesentlich neues, so dass in- soweit diese Briefe hauptsächlich zu Beurtheilung Bodmers dienen. Doch findet sich manches thatsächliche darin: die Nachricht, dass der Vers, der auf dem Titelblatt zur 2. Ausgabe der „Leiden des jungen Werther" steht (hier: „Jeder Jüngling wünschet so zu lieben" u. s. w.), schon 1774 von Goethe in das Lavateru ge- schenkte Exemplar des Romans geschrieben worden ist (S. 188), sodann Mittheilungen über Goethes Aufenthalt in Zürich 1775 und 1779 (S. 192 ff. u. 208 ff.), ingleichen über die Zusammenkunft Goethes mit Sulz er in Frankfurt (S. 198). Einzelheiten, die Goethe in „Dichtung und Wahrheit" Über seinen Besuch bei Bodmer erzählt, erhalten hier Bestätigung. Den II. Abschnitt „Abhandlungen und Forschungen" eröffnet: „Horatio S. White, Goethe in Amerika. Uebersetzt von C. P." Wer in diesem Aufsatze etwas ähnliches sucht, wie „Goethe und Dänemark" von Brandes im II. Bande des Goethe- Jahrbuchs bot, wird sich sehr enttäuscht sehen; es ist eine trockne Bibliographie. Der Uebersetzer konnte dcmungeachtet besseres leisten; er hat wol gethan, sich uicht zu nennen. Hieran schliesst sich W. Scherer mit Fortsetzung „Ueber die Anordnung Goethischer Schriften", aber nicht bloss mit Nr. III, wie im Register steht, sondern mit den Nrn. III, IV, V, VI, VII und VIII, in welchen einzelnen Aufsätzen er die Anordnung in den verschie- denen Ausgaben der Gedichte bis zu der letzter Hand bespricht. Die künstlerische Gruppierung in der ersten Göschenschen Ausgabe musste bei der Verschiedenartigkeit des Vorraths später aufgegeben werden. Bei Musterung des neuen Zuflusses macht Scherer mit werthvollen Ergebnissen seiner Forschungen bekannt. So weist er das anklingen des Liedes „An Miguon" an das Lied „Jesu, mein Erbarmer, höre" von Tersteegen nach; er vermuthet, dass „Nach- geftihl" sich auf den „liebevollen Genius" bezieht, von dem er im XII. Buche von „Dichtung und Wahrheit" erzählt — eine Frau, die ihn, wie er erst nach ihrem Tode erfahren, innigst geliebt hatte; er macht wahrscheinlich, dass das Lied „An Lina" an Lili gerichtet Digitized by Google v. Biedermann, Anzeigen ans der Goethe- Litteratur. 283 war, und macht auf die Beziehungen des Gedichtes „Abschied" zu der sechsten Novelle in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewan- derten" aufmerksam. Für Neuausgaben von Goethes Gedichten stellt Scherer den Grundsatz auf: es müsse davon ausgegangen werden, dass Goethe die Sammlung von 1815 als abgeschlossen betrachtete, im übrigen aber neue Sammlungen begann; daher sollen neue Ausgaben, welche wissenschaftlichen Forderungen gerecht werden wollen, die Ausgabe letzter Hand unangetastet lassen, die von Goethe nicht gesammelten Gedichte aber unter Wiederholung der von ihm angenommenen Rubriken gesondert nachbringen. — Ueber diese Aufstellungen lässt sich jedoch wol noch rechten. Zwar hinsichtlich derjenigen Sammlungen, welche Goethe als solche gedichtet hat, wie namentlich den „West-Östlichen Diwan", hat man ohne weiteres beizupflichten, allein in Betreff der einzeln entstandenen Gedichte, wie Lieder, Balladen, Sprüche u. s. w., wobei die Aufnahme vieler dahin gehöriger Stücke nur aus der zufälligen Ursache unterblieb, weil Goethe keine Abschrift davon behalten und ihm bis zur Ausgabe letzter Hand keine wieder zugegangen war, darf man anderer Ansicht sein. Dieses Zufalls wegen eine nicht zu verachtende Zahl von Gedichten an der Stelle, welche ihnen gebührt, zu übergehen, würde nicht gerechtfertigt sein. Indessen lassen sich anderseits jene nachträglich aufgefundenen Gedichte allerdings nicht immer in der von Goethe in der Ausgabe letzter Hand gewählten Anordnung einfügen; es bleibt demnach nichts übrig als selbständig nach anderen Grundsätzen eine neue An- ordnung zu treffen. Welche? das festzustellen würde über die Grenzen einer Recension hinausgehen; das erfordert eine eigne Untersuchung. — Wir können jedoch lebhaft mit Scherer fühlen, wenn er seine Aufsätze mit den Worten schliesst: „Mir selbst aber war es ein grossei* Genuss, diese Goethischen Gedanken nach- zudenken und als ein ' weitersinnender ' Verehrer seiner Poesie in die geheimeren Gänge dieses unergründlichen Weltgartens immer tiefer einzudringen." Der folgende Aufsatz „Zu Goethes gereimten Sprüchen von G. v. Loeper" führt uns in die Werkstätte, in welcher der scharf umherspäbende und mühsam zusammentragende Verfasser den Commentar für den Band der Gedichte in der zweiten Hempel- sehen Ausgabe von Goethes Werken vorbereitet. Er bespricht namentlich eine neue Quelle, die er für die Herkunftsermittelung der Spruchreime eröffnet hat, und zwar: die Ausgabebücher der Weimarer Bibliothek. Die Spruchsammlungen, die sieh hiernach als von Goethe entliehen ergeben, hat er durchforscht. Wir dürfen wol hoffen, recht bald Gelegenheit zu ausführlicher Anzeige der Früchte seines Fleisses zu erhalten? Wir wollen übrigens hierbei nicht unterlassen, dem Digitized by Google 284 v. Biedermann, Anzeigen aus der Goethe- Litte ratur. Wunsche v. Loepers, dass die erwähnten Ausgabebücher, soweit sie sich auf Entlehnungen Goethes beziehen, gedruckt werden möchten, aufs angelegentlichste zur Beachtung zu empfehlen. In dem ferneren „Zu", nämlich: „Zu Goethes Aufsätzen Uber Kunst von L. Geiger" werden ungedruckte Briefe Goethes an Heinrich Meyer ausgebeutet, um die Verfasserschaft Goethes be- züglich einiger Aufsätze in „Kunst und Alterthum", sowie in den „Propylaeen" nachzuweisen. Der Nachweis kann bezüglich der Auf- sätze in „K. u. A." II. Bd. 2. Hft. S. 78 bis 80 als gelungen an- gesehen werden. Wenn er aber im 3. Hefte desselben Bandes einige Aufsätze als von Goethe herrührend erkennen will (S. 303 f.), so kann ich zwar nicht entschieden widersprechen, mache aber doch darauf aufmerksam, dass Goethe die Verfasserschaft aller Aufsätze des Abschnittes „Kunstgegenstände" mittelbar ablehnt, indem er sich nur als Verfasser des Schlussaufsatzes durch dessen Unterschrift nennt. — Aus dem Briefe vom 5. Mai 1821 möchte ich auch nicht mit Geiger folgern, dass der Aufsatz über Wrights Stich von Dawes Goethe -Bildniss von Goethe geschrieben sei (S. 304), sondern lediglich die üeberschrift; den Text sollte Meyer liefern — wie ich den Brief verstehe. Geiger nennt mich S. 306 als Heransgeber des 28. Theiles von Hempels Goethe-Ausgabe und schiebt mir demnach die Aufnahme der Aufsätze mit „Nachträglichem zu Philostrats Gemälden" in diesem, die Aufsätze zur Kunst enthaltenden Bande in die Schuhe. Dagegen muss ich mich aber entschieden verwahren: ich habe mit Heraus- gabe dieses Bandes schlechterdings nichts zu schaffen gehabt; sonst würde ich namentlich nicht zugelassen haben, dass so viele nach- weislich nicht von Goethe verfasste Aufsätze in demselben Platz gefunden haben. Hierbei sei erwähnt, dass auch in der Frankfurter Zeitung vom 2. März 1884 aus einem bisher nicht veröffentlichten Briefe Goethes an Meyer von Karl Kuhn geschlossen wird, dass Goethe den Aufsatz „Steindruck" im V. Bande (3. Heft) von „Kunst und Alterthum" verfasst habe; nach Goethes Brief an Boisseree vom 27. Juni 1826 bat derselbe jedoch diese Arbeit nur „ajustiert". Auf den III. Abschnitt des Jahrbuchs, „Miscellen, Chronik, Bibliographie", näher einzugehen, liegt an sich keine Veranlassung vor, doch habe ich Ursache, zwei Artikel, weil sie mich persönlich berühren, nicht mit Stillschweigen zu tibergehen. Der eine, S. 333 bi6 342, ist von Düntzer und betrifft Goethes Mittwochskränzchen im Winter von 1801 auf 1802. Er bezieht sich auf einen Aufsatz von mir, der in der „Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung" vom 21. December 1882 S. 621 bis 625 abgedruckt ist unter der Üeberschrift „Goethes Cour d'amour und Stiftungslied". Ueber den Gegenstand sind nunmehr der Worte genug gewechselt; beide Theile Digitized by Google v. Biedermann, Anzeigen aus der Goethe-Litteratur. 285 haben genügendes Material geliefert, aus welchem jedermann sich seibat ein Urtbeil bilden kann. Indessen kann ich nicht umhin, zweierlei aus diesem Aufsatze Düntzers hervorzuheben, woraus man ersehen mag, dass es mir unmöglich ist, mit genanntem Herrn in Einverständniss zu leben. Es bandelt sich in diesem Falle hauptsächlich um zwei Fragen, in denen Düntzers Ansichten von den meinigen abweichen: zunächst um den Tag, an welchem das Mittwochskränzeben das erste Mal zusammentrat, und sodann um die Personen, auf welche in dem für dieses Kränzchen von Goethe gedichteten „Stiftungslied" augespielt wird. In Betreff des Beginns der geselligen Abende habe ich aus- einandergesetzt, dass derselbe früher eingetreten sein dürfte als am 11. November, wie Düntzer angenommen hatte, und bestimmte dabei als den frühesten möglichen Tag den 7. October, wobei ich wörtlich sagte (a. a. 0. S. 623): „Aus allen diesen Umständen halte ich dafür, dass der 11. November als Beginn des Kränzchens aus- geschlossen ist, und vermuthe, dass es wahrscheinlich schon am 7. October zum ersten Mal zusammentrat." — Nun hat aber Düntzer ermittelt, dass nach einem Briefe der Hofdame von Goechhausen die Herzogin-Mutter — mit deren Hofhaltung in Weimar das Kränzchen zusammenhängt — am 7. October noch in Tiefurt verweilte. Wenn dies Düntzer einfach mittheilte, so war meine Vermuthung ab- gethan; das passte dem schreibseligen Herrn aber nicht in den Kram. Zunächst beginnt er: „Biedermann .... bringt dabei die irrige Behauptung vor, Goethes Mittwochskränzchen habe nicht, wie man aus guten Gründen annimmt, am 11. November, sondern schon am 7. October begonnen.'1 Man erkennt, wie ganz unstatthaft diese Kampfweise ist: ich vermuthe — Düntzer sagt: Biedermann behauptet. Natürlich! hätte er meinen bescheideneren Ausdruck wiederholt, so könnte er nicht auf sechs enggedruckten Seiten da- gegen losziehen. Ausser der schlagenden und daher eigentlich ge- nügenden Abwesenheit des Hofstaats der Herzogin Amalie weist er noch weitläufig nach, dass auch Wolzogens am 7. October nicht in Weimar waren, was ganz einflusslos ist, da es für deren Erwähnung im Stiftungsliede genügte, wenn sie nur als Mitglieder des Kränzchens in Aussicht genommen waren, gleichviel ob sie am ersten Abende sich anwesend befanden. — Was Düntzer weiter für den 11. November als Anfangstag vorbringt, ist nicht von Belang, die Frage, an welchem früheren Tage das Kränzchen sich zusammenfand, demnach noch ungelöst. In Bezug auf die zweite streitige Frage, ob im „Stiftungsliede" bestimmte Personen angedeutet sind, gibt sich aber ein tiefgehender Unterschied zwischen Düntzers und meiner Behandlungsweise kund. Ich nehme, wenn es sich um das verstehen von Aeusseruugeu Goethes handelt, von- vorn herein an, dass Goethe die Wahrheit Digitized by Google 286 Biedermann, Anzeigen aus der Goethe-Litteratur. sage, bemühe mich, wenn ich auf Umstände stosse, die mit seinen Aeusserungen nicht ganz in Einklang zu stehen scheinen, den Zwie- spalt zu lösen, und zwar zunächst im Sinne jener Aeusserungen, und erkenne nur einen Irrthum Goethes an, wenn ich ihn nach- weisen kann. Dieses Verfahren steht nicht nur mit allgemeinen Grundsätzen der Hermeneutik in Einklang, sondern rechtfertigt sich auch ex post durch viele Beispiele von späterem rechtbefinden Goethischer, anfänglich für irrig gehaltener Berichte. Düntzer da- gegen tritt an jedes Wort Goethes mit einem Zweifel; er späht zu finden, was Goethe als unzuverlässig darstellen kann; jeder unbe- deutende Umstand wird aufgebauscht, um ihn gegen Goethe aus- nutzen zu können; er wendet Goethes Worte, bis sie zu dem Gegenbe- weise passen; er schwelgt förmlich im berichtigen von Mittheilungen Goethes, wie ich dies früher in diesem „Archiv" an Beispielen dargelegt habe. Der Zweifel an sich hat ja seine Berechtigung, er führt zur Wahrheit; allein wenn er Oberhand gewinnt, vernichtet er alles positive und führt zur Nullität. Um aber auf den vorliegenden Fall zurückzukommen, so sagt Goethe klar und unzweideutig: „im Stiftungsliede konnten sich die Glieder der Gesellschaft als unter leichte Masken verhüllt, gar wol erkennen". Es entspricht auch ganz Goethes Weise, dass er in sei- nen Gedichten an thatsächliche Verhältnisse anknüpfte; in einem Gelegenheitsgedichte ist das geradezu geboten. Da die persönlichen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder uns nicht so gegenwärtig sind, um alle Anspielungen Goethes leicht verstehen zu können, konnte mein Versuch, die einzelnen Personen im Stiftungsliede zu ent- decken, sich zum Theil allerdings nur an schwache Fäden halten, das habe ich nicht verschwiegen; aber deshalb, weil nicht alle An- spielungen plan zu Tage liegen, Goethes ausdrückliche Versicherung für Schwindel zu erklären, ist doch ein starkes Stück. Und wie verfahrt Düntzer wieder bei Widerlegung meines Versuchs! Ich deutete z. B. das durch Käthselspiele sich auszeichnende Mitglied auf Schiller mit Bezug auf seine „Turandot"; das verwirft Düntzer, da Schiller am 7. October die „Turandot" noch nicht erfunden ge- habt habe. Das sagt derselbe Düntzer, der vorher schlagend nach- gewiesen hat, dass an diesem Tage das Kränzchen noch nicht er- öffnet worden war, dieser Tag also gegen „Tnrandots" Erwähnung nichts beweist. Ungern habe ich mich wieder bei einer Arbeit Düntzers so lang aufgehalten, allein sich kurz zu fassen, gestattet er nun einmal nicht. Der zweite mich angehende Artikel hat meinen Aufsatz in Nr. 102, 103 und 104 der „Wissenschaft!. Beil. d. Leipz. Ztg. von 1883": „Goethe und das Volkslied'4 zum Gegenstande, und hier sei es mir erlaubt, ein wenig Reclame für mich zu machen, da Digitized by Google v. Biedermann, Anzeigen aus der Goethe- Litterator. 287 der 8. 394 f. gegebene Auszug den Kern meines Aufsatzes nicht trifft. In letzterem sind allerdings die in Volksliedern zu suchenden Quellen, wie der Auszug hervorhebt, nachgewiesen, allein dies ist insofern nicht die Hauptsache, als diese Quellen grossentheils schon bekannt und nur eiri par Streitfragen zu erörtern waren. Wichtiger war mir, bei Zusammenstellung aller aus Volksliedern hervorgegan- genen Gedichte Goethes darzuthun , wie derselbe dabei verfuhr. Das war meines Wissens vorher noch nicht versucht worden. Um die Besprechung des Jahrbuchs mit Rückgriff auf den An- fang zu schliessen, gedenke ich noch des Titelbildes. Es ist nach einer Photographie gefertigt, welche von dem im Weimarer Museum befindlichen Oelgemälde der Gräfin Julie Egloffstein entnom- men ist. Das Gemälde stellt Goethe in halber Figur dar; in der linken Hand hält er den 1819 zu seinem Geburtstage von Frank- furter Freunden empfangenen goldenen Lorbeerkranz. Die Photo- graphie hat Gräfin Egloffstein selbst nachgebessert. 3. Salomon Hirzeis Verzeichniss einer Goethe-Biblio- thek mit Nachtragen und Fortsetzung herausge- geben von Ludwig Hirzel. Leipzig, Verlag von S. Hirzel. 1884. Dieses Verzeichniss ist ein längst gefühltes Bedürfniss der Goethe-Forschung und daher mit Freude zu begrtlssen. Abgesehen davon, dass das zu Grunde liegende ,,Neueste Verzeichniss einer Goethe-Bibliothek41 von S. Hirzel (1874) im Buchhandel nicht zu erlangen war, so hatte dasselbe doch seit zehn Jahren nicht bloss Fortsetzungen, sondern auch so viele Nachträge aus früheren Jahren erhalten, dass man alle Uebersicht über diese Bibliographie verloren hatte. Persönlich möchte ich der Befriedigung über vorliegende Veröffentlichung dadurch gerecht werden, dass ich das gebotene ohne alle Mäkelei hinnähme, aber die Bedeutung derselben für die Forschung macht es mir der Sache wegen zur Pflicht, auf dasjenige hinzuweisen, was ich, der ich mich seit zehn Jahren unablässig mit diesem Verzeichniss beschäftigt habe, in der neuen Ausgabe anders ausgeführt gewünscht hätte. Salomon Hirzel hatte bekanntlich den Grundsatz aufgestellt, nur ein Verzeichniss seiner Bibliothek zu geben, und in wie hohem Grade sich auch dieselbe der Vollständigkeit näherte, so musste jener Grundsatz denn doch für die Bibliographie im allgemeinen zu manchen Lücken führen. Dieser Umstand war die nächste Ursache, welche die Nachträge zu dem „Neuesten Verzeichnisse" im gegen- wärtigen Archive veranlassten, in welchem wir sogar auch Drucke anzeigten, von denen wir nur, ohne sie selbst gesehen zu haben, Nachricht erhalten hatten. — Ferner bewog uns zu deren Zusammen- Digitized by Google 288 v. Biedermann, Anzeigen aus der Goethe-Litterator. Stellung der Wunscb &trengerer Durchführung der von S. Hirzel ausgesprochenen Absicht, durch seine Sammlung die Herstellung einer kritischen Ausgabe von Goethes Schriften zu fördern. Wir gaben deshalb in unseren Nachträgen sämmtliche Drucke von Schrift- stücken Goethes, hinsichtlich deren anzunehmen war, dass sie un- abhängig von früheren Drucken auf Goethes Handschrift oder Dictat, beziehentlich eine an deren Stelle tretende Abschrift zurückzuführen seien, da jeder solcher Neu- — nicht bloss Nach- — druck für die Textkritik wichtig sein kann. Aus diesem Grunde war es auch noth wendig, alle wiederholten Ausgaben einer Schrift aufzunehmen, da bei ihnen Prüfung nach der Handschrift vorauszusetzen ist. Da es endlich für den Forscher von Werth sein muss, ein Werk unter jedem Titel , unter dem etwa darauf Bezug genommen war, im Verzeichnisse zu finden , so führten wir die mehreren Titel, unter denen eine Schrift erschienen war, in unseren Nachträgen an, wie übrigens auch mitunter schon von S. Hirzel geschehen war. Der jetzige Herausgeber ist zwar im wesentlichen dem ersten Verfasser des Verzeichnisses einer Goethe-Bibliothek gefolgt, hat sich nur der Natur der Sache nach nicht auf die in Hirzeis, mit dessen Tode abgeschlossener Bibliothek befindlichen Schriften beschränken können, legt sich aber doch das Gesetz auf, in sein Verzeichniss nur diejenigen Bücher, Blätter u.^. w. aufzunehmen, die er selbst einge- sehen hat Damit schneidet er uns allerdings die Möglichkeit ab, zu sagen, dass er über dritthalbhundert Aufführungen unserer Nachträge Ubersehen habe, allein der Vorwurf dürfte ihm nicht zu ersparen sein, dass er sich die Einsicht eines guten Theils der über- gangenen Schriften zu Gunsten der Vollständigkeit seines Verzeich- nisses unschwer hätte verschaffen können. Jedesfalls ist für die Bibliographie der Goethe Litteratur die Kenntniss unserer Nachträge — die übrigens auch der Ueberarbeitung bedürfen — leider nicht überflüssig geworden. Bei der gedachten vorsichtigen Selbstbeschränkung des Heraus- gebers überrascht es anderseits, mehrere Schriften in dem Verzeich- nisse aufgeführt zu finden, die seinem Zweck nach nicht hineingehöreu. Lässt man sich auch allenfalls die Aufnahme der Himburgschen Sammlung von Goethes Schriften gefallen, nachdem sie Bernays dazu diente, die Incorrectheit echter Ausgaben von Dichtungen Goethes festzustellen, so wird sich doch kaum die Aufnahme ganz werthloser Nachdrucke rechtfertigen lassen, wie namentlich von: „Zwo wichtige .... biblische Fragen" S il; „Brief des Pastors u. s. w." S. 14; „Rheinischer Most" S. 15; Epigrammatische Blu- menlese4' S. 18; „Des Herrn Jacobi Allerlei" S. 19; „Ausbund flüchtiger Poesieen" S. 21; „Auswahl der besten zerstreuten Auf- sätze" S. 22; „Philanthropistenlieder" ebenda; ,,Sammlung verschie- dener Lieder" S. 23; „Der Blumenkorb" S. 28; „Dramaturgisches Digitized by Google v. Biedermann, Anzeigen ans der Goethe-Litteratur. 280 Journal" 8. 53; „Orient Nr. 169'* S. 73; „Goethes Beurtheilung des Lustspiels in Strassburger Mundart" 8. 88; „Abendzeitung" S. 97; „Goethes Philosophie" S. 98; „Goethes ältestes Liederbuch" 8. 132. — S. 12 ist sogar „Auszug und Inhalt der Auftritte des Schauspiels Götz v. Berlichingen" und S. 66 „Zeitung für Einsiedler" aufgeführt, welche letztere nur so lang einen Werth für den Goethischen Schrif- tenschatz hatte, als die Originalien der darin aus der Erinnerung mitgetheilten „Parabeln" des Königs Salomo nicht bekannt waren. Ferner möchte das „Journal von Tiefurt" 8. 24 ff. iu eiuem Verzeichnisse von Handschriften Goethischer Schriften mehr am Platze sein, als hier im Verzeichnisse von Drucken. Es steht ganz vereinzelt darin. Nicht gleich geblieben ist sich auch der Verfasser des Ver- zeichnisses in Beziehung auf die Einreihnng der Schriften unter eine Jahreszahl, indem er sie manchmal in dem Jahre nennt, in welchem sie ausgegeben wurden, obschon sie auf dem Titel ein späteres Jahr aufweisen, — z. B. „Götz v. Berlichingen" S. 201, „Briefe an die Gräfin A. zu Stolberg" S. 207, „Faust" S. 208 — während dies bezüglich anderer Schriften , wennschon von deren früherer Veraus« gabnng der Verfasser ebenfalls unterrichtet war, " nicht geschehen ist — z. B. „Bibliothek des GRR. A. Hagen" S. 210, „Verzelchniss von Autographen Nr. XIV von 0. A. Schulze" S. 211. Der „Masken- zng" von 1818 steht auch mit der diese Jahreszahl tragenden und in diesem Jahre erschienenen Ausgabe 8. 86 unter 1819. Das richtige ist unstreitig die Einreihung unter dem Jahre am Fusse des Titels, da man Druckschriften nur unter diesem Jahre zu suchen Ursache hat. Eine andere Ungleichheit ist uns aufgefallen, sofern bei man- chen Schriften, z. B. beim I. Bande des Goethe-Jahrbuchs, die darin befindlichen zum ersten Mal gedruckten Goethe-Schriften ausführlich angegeben sind, in anderen, z. B. in den späteren Bänden des Jahr- buchs, aber gar nicht. Endlich ist es eine unerklärte Ungleichheit, dass von der Hempelschen Goethe- Ausgabe einige Sonderausgaben einzelner Werke aufgenommen sind, — und zwar „Faust", „Sprüche in Prosa", „des Epimenides Erwachen", „Pandora", „Diwan", ,,Reineke Fuchs" — die Mehrzahl aber nicht. S. 38 ist über Goethes Betheiligung an der „Vierten Nachricht von dem Fort gange des neuen Bergbaues zu Ilmenau" ein Citat hinzugefügt, dann durfte ein ähnlicher Nachweis über die von Goethe für die „Fünfte Nachricht" geschriebenen Abschnitte nicht fehlen. — S. 63 f. ist es nicht genau gesagt, dass die Recension der Rede v. Müllers über Friedrich II. von Goethe verfasst scheine, da dies durch Goethes Brief an Eichstädt vom 21. Februar 1807 fest- steht. — 8. 71 sind die „Antographa", wie schon mehrseitig gegen Archiv f. Litt.-Gmcu. XIII. 19 Digitized by Google 290 Boxberger, Anz. von Minor, di? Schicksala-Tragödie die früheren „Verzeichnisse einer Goethe-Bibliothek" ausgestellt worden ist, kein Desideratenverzeichniss. — S. 84 war bei dem Aufsätze in den „Wöchentlichen Nachrichten" und S. 90 bei dem im „Archiv der Gesellschaft für ältere Deutsche Geschichtskunde" III. Bd. 3.Hft. hinzuzufügen, dass die bezüglichen Aufsätze nicht von Goethe, sondern von Jarick und beziehentlich Compter verfasst sind. — S. 90 „Ridels u. s. w. Todtenfeier" ist von Anfang bis einschliess- lich S. 16 ganz von Goethe (Werke, Ausg. Hempel XXVII, u, 14 f.). — S. 95 wären bei „Weimars Jubelfest'1 noch die Beiträge Goethes S. 37 — 40 zu nennen gewesen (Goethe-Jahrbuch I, 346). — S. 184 ist der Zweifel au der Echtheit der in den „Beiträgen zur Goethe- Litteratur" mitgetheilten Briefnachschrift vollständig aus der Luft gegriffen, wie ich schon wiederholt erklärt habe. Einiges auch in unseren Nachträgen übersehenes haben wir gern bemerkt, und zwar S. 48 „Nachricht", S. 87 „Mainzer Zeitung'1, S. 111 „Jahrbücher der Stadt St. Gallen", S. 151 „Das Inland", S. 187 „Im neuen Reich" Nr. 12 und „Greizer Zeitung" Nr. 259, S. 192 „Kreisausschreiben des Grossmeisters der Grossen National- Mutterloge'1. Abgesehen von diesen Bereicherungen müssen wir aber beken- nen, dass das allerneuste Verzeichniss einer Goethe-Bibliothek kaum als selbständige Arbeit anzusehen sein wird und den Eindruck der flüchtigen Absolvierung eines Pensums macht. Dass Herr Professor Hirzel der Mann ist, etwas vollkommneres liefern zu können, ist zweifellos. Woldemar Freiherr v. Biedermann. Die Schicksals-Tragödie in ihren Hauptvertretern. Von Jacob Minor, Privatdocent [nunmehr ausserordentlicher Professor] an der Universität Prag. Frankfurt a. M. Litterarische Anstalt. 1883. Besprochen von Robert Boxberger. Nachgerade qualificiert sich die deutsche Litteratur auch des 19. Jahrhunderts immer mehr dazu, auch in einzelnen Gruppen monographisch behandelt zu werden. Der deutsch-französische Krieg von 1870 hat die verschiedenen Bewegungen in derselben zu einem vorläufigen Abschluss gebracht, und wir können von da ans rück- wärts wie auf eine abgeschlossene Vergangenheit blicken. So sind die schwäbische Dichterschule, das junge Deutschland abgeschlossene Gruppen, die noch einer monographischen Schilderung harren. Mit dem vorliegenden interessanten Buche wird der Anfang zu einer solchen gemacht, und der schon rühmlioh bekannte Verfasser hat Digitized by Google Box berger, Ana. von Minor, die ScbicksaU-Tragßdie. 291 sich geschiokt eine Aufgabe gestellt, die auch den Laien reizen muss, sich mit dem Inhalt des Buches bekannt zu machen. Seit Z. Werners „2. Februar" unter Goethes Auspicien 1810 in Weimar gegeben worden war, Grillparzers Gespenst der „Ahnfrau" mit Erfolg über die Bretter gieng, Hessen die Lorbeern dieser Dichter eine Reihe befähigter Dramatiker nicht rohen, und das Publicum freute sich, im Theater das „gruseln" zu lernen. Wie die matt- herzige Zeit diesen Schauerstücken günstig war, darüber spricht sich Minor kurz, aber treffend in der Einleitung ans: „Erst als das Un- glück des Jahres 1806 die Herzen völlig entmuthigte und eine dumpfe Schwüle Uber ganz Deutschland herrschte — — : erst in dieser Zeit wusste auch das völlig entmuthigte und niedergeschlagene Volk keine andere Zuflucht als bei den fatalistischen Ideen. Jetzt fand die Schicksalstragödie, sobald der Besuch des Theaters ihm wieder ermöglicht war, im Herzen des Volkes einen günstigen Boden und erreichte bis dahin unerhörte Bühnenerfolge. In runder Zahl werden wir die Jahre 1815 und 1825 als die Grenzpuncte für entstehen und verschwinden dieser bald abgelebten Gattung ansehen dürfen, wenn auch einzelne Erzeugnisse den Verfall der- selben überlebten. Nachdem langsam und durch reactionäre Zeit- strömungen verzögert die Segnungen des Friedens wieder fühlbar geworden waren, stieg auch die Hoffnung des Volkes kühner empor, und die nach und nach eingeführten Geschworenengerichte liessen das walten der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden bald in einem anderen Lichte erscheinen als die Schicksalstragödie." Unter den Hauptvertretern dieser Richtung versteht Minor Z. Werner, A. Müllner und E. v. Houwald. Dass Grillparzer mit seiner „Ahnfrau4' aueh in diese Reihe gehört, ist ihm sehr wol lewusst; ich stimme ganz mit ihm darin Uberein, dass trotz dem mehrfach gemachten Versuche, das fatalistische in diesem Stücke auf Scbreyvogels Rechnung zu setzen, die „Ahnfrau" eine Schick- salstragoedie bleibt; aber einerseits hat sich Grillparzer seit seinem ersten Stück dieser Richtung entfremdet, anderseits sind über ihn schon so viele Monographien geschrieben worden, dass er hier füg- lich fehlen durfte. Ich wüsste au dem gut und fesselnd geschriebenen Buche nichts auszusetzen; höchstens möchte ich zu der Bemerkung (S. 113), Müllner habe Surinam nach Indien verlegt, hinzufügen, dass Müllner sich deshalb in der Vorrede (Neueste Auflage, Wien 8. a. II, S. 63) zu rechtfertigen sucht. Aber ich habe vor einiger Zeit Gelegenheit genommen, mit dem Studium des auf der Herzog- lich Gothaischen Bibliothek befindlichen Mülluerschen Nach- lasses zu beginnen, und dies gibt mir Veranlassung einige, wie ich hoffe, nicht unwillkommene Zusätze zu dem Buche zu machen. Wie in Schillers „Feindlichen Brüdern", die nun einmal der ganzen Richtung zum Deckmantel dienen müssen, ist bekanntlich 19* Digitized by Google 292 Boxberger, Anz. von Minor, die Schicksale -Tragödie, das Motiv in den meisten MüTlnerschen Schicksalsdramen, auch noch in seiner letzten, criminalistiachen Erzählung „der Caliber", der Brudermord, und Goedeke (Grundriss III, S. 363) motiviert dies aus Müllners Leben glücklich damit, „dass er ein schönes junges Mädchen in Weissenfeis, Amalie von Lochau, die seinem ältern Stief- bruder zugedacht war, ebenso leidenschaftlich liebte, wie er seineu Stiefbruder, der ihm schon in Schulpforta in den Weg getreten war, gründlich hasste. Dies unglückliche Verhältniss wurde darch deu frühen Tod jenes Stiefbruders beendet, und Müllner heiratete 1802, in seinem 28. Jahre, seine Amalie, gegen die er bald erkaltete, so dass nach einer kurzen, wenigstens nicht unglücklichen Ehe eine fast völlige Entfremdung eintrat und bis zu seinem Ende wahrte". Wie Müllner nun stets nach solchen Stoffen suchte, das beweist folgende Stelle aus einem Briefe der Elise von Hohenhausen au ihn, Berlin, den 1. Octoher 1823: „Ich habe mich vielfach bemüht, Ihrem früher geäusserten Wunsch zu Folge etwas näheres über fles deux Savinies' der Frau von Gen Iis zu erfahren. Auf der hiesigen Bibliothek fragte ich umsonst nach ihren Werken. Neulich fiel mir in einer Bibliothek ein Buch in die Hände: 'Die beiden Sabiner, nach dem Französischen der Frau von Genlis'. Es war jene etwas veränderte Novelle. Ausser dieser Dame hat auch der fromme Geliert einen ähnlichen Stoff in 6einen morali- schen Erzählungen behandelt. — Zwei Negersklaven, Brüder, ver- lieben sich in eine schöne Negersklavin mit afrikanischer Glnth, — sie will nicht wählen, und keiner von ihnen will entsagen. — In einer Laube sitzen sie einst vereint, der Liebe Höllenqual im Busen, plötzlich wechseln sie wilde Blicke Und jeder stöset den Dolch in der Geliebten Brust. ') Vertilgen wollen sie das, was — sie quält, da es keiner besitzen kann. Das ist doch echt afrikanische Liebe und lässt sich doch wol durch die rohe, wild lodernde Natur der Neger erklären?44 Ueber sein Stück „Der Fremde" spricht sich Houwald in zwei Briefen an Mtillner ausführlich aus, und ich setze die betreffenden Stellen ganz hieher, da es immer von Bedeutung ist, eiuen Autor 6ich über sein eigenes Werk äussern zu hören. Nachdem er es den 26. Februar 1824 im Manuscript an Müllner geschickt, schreibt er diesem den 25. März 1824: „Zuförderst den aufrichtigsten und herz- lichsten Dank für Ihren zweiten mir sehr schätzbaren Brief, der mir soeben meine 'Feinde* zurückgeführt hat. Die Privat-Kritik, welche Sie mir bisher gewährt, hat Ihnen doch wol noch keine bittere Frucht getragen, denn immer hab ich sie mit Dank empfangen, fast allent- 1) Gelierte Werke, Leipz. 1784, I, S. 247 (nach 8pectator III, Nr. 216): „Die beiden Schwarzen". Digitized by Google Boxberger, Anz. von Minor, die Schicksals-Tragödie. 293 halben Ihr treffendes Urtheil erkannt und oft schon meine Arbeiten danach verbessert. Sie verfehlt also bei mir nicht ihren Zweck und schon deshalb setze ich mich immer wieder Uber jedes Bedenken hinweg, Sie aufs neue darum zu bitten. — Auch diesmal bat sie mi*. über manche Schwäche meines Dramas und besonders über den 2. Act die Augen geöffnet. Erlauben Sie, dass ich näher auf Ihren Tadel eingehen und Ihnen nur mit wenig Worten sagen darf, was mich bewogen bat, manches hinzustellen, was Sie nicht billigen. Der intrigante Katmin gefallt Ihnen nicht, und Sie hätten an seiner Stelle lieber einen wolgesiunten , jedoch misstranischen und für das Schicksal seines Herrn ängstlich besorgten Diener handeln sehen? — Ich bin eigentlich zu diesem Charakter gekommen, theils weil ich ihn mir als eine neue Aufgabe vorgelegt hatte, theils weil ich der Meinung war, er werde ein passendes G egenstück zu dem offenen, edlen Charakter des Prinzen Donald sein, diesem zur Folie dienen und die Verwandlung des ganzen begünstigen, indem er durch sein geheimnissvolles Treiben die Gefahr der Gegenpartei auf die höchste Spitze stellt, dann aber an dem reinen, festen Sinn seines Prinzen untergeht. Einen eigentlichen Bösewicht habe ich nicht aufstellen wollen, sondern nur einen feinen Diplomaten, der seines Herrn Auftrag treu und klug ausführen, sich selbst aber auch nicht vergessen will, die Gelegenheit benützt und dabei kein Mittel verschmäht, nm sein Ziel zu erreichen. Ein weniger heim- licher, ränkevoller Charakter würde die dem ganzen vortheilhafte Spannung wol auch weniger herbeiführen. Die Liebe des Donald und der Alona ist allerdings nur ernst und ruhig gehalten, sie wird nicht zur eigentlichen, offenbaren Trieb- feder der Handlung des Stückes, und ihr Erwachen zeigt sich bei- nahe nur in dem gegenseitigen höchsten Vertrauen. — Aber ich wollte dieser Liebe auch keinen weiteren Raum zugestehen, und zwar deshalb, weil ein weit höheres Gefühl als sie, jetzt des Prinzen Seelo erfüllen, ihm zu dieser Liebe noch nicht Zeit lassen und ihn für jetzt noch Uber sie erheben soll. Fehlen durfte sie aber auch wieder nicht, weil sie unter den Motiven, die den Donald antreiben, seine Feinde in Schutz zu nehmen, als das rein menschliche im Hintergrunde steht, uud weil er ohne dies Motiv als ein gar zu gewaltiger Tugendheld erscheinen würde. Aber der 3. Act muss eine andere Gestalt erhalten. Fort mit der ersten Scene zwischen Katmin und Gervas! — Sie haben mit Recht diese Scene verworfen, und ich erkenne, dass sie, durch einige Ergänzungen iu anderen Scenen, völlig entbehrt werden kann. Das ganze gewinnt dadurch jedenfalls an Kürze und selbst die Einheit des Ortes bleibt unverletzt. Obgleich ich auf letzteres einen zu grossen Werth nicht lege. Nur den König Malcolm am Ende selbSt auftreten und die Katastrophe herbeiführen zu lassen, scheint mir Digitized by Google 294 Seuffert, Anz. von Hettners kleinen Schriften. eine kaum zu lösende Aufgabe. Leben bleiben kann er uicht, denn vor ihm würde Edgar sich nie beugen mögen. Wie also soll er enden? — wer soll ihn fallen V — was soll der Sohn beim Er- scheinen des Vaters beginnen? soll er für oder wider ihn sein? — soll er dem Mörder des Vaters auf der Stelle verzeihen, und an der Leiche ruhig seine Thronfolge im Auge halten? — Zu lösen sind diese Fragen gewiss, und vielleicht zum Vortheil des Drama, allein, ich gestehe es Ihnen offen, ich vermag es nicht, zumal sich mir die Handlung nicht gleich Anfangs auf diese Weise vor Augen ge- stellt hat. — Ich wünsche, verehrter Mann, Ihnen durch diese offenen Be- kenntnisse gezeigt zu haben, wie hoch ich Ihre Kritik achte, und wie ich sie mir nur erbeten habe, um Nutzen und Belehrung aus ihr zu ziehen. Nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten Dank dafür. Uebrigens sollen Sie das Kind: Tragödie getauft haben." An denselben, den 27. April 1824: „Seit ich Ihnen meinen letzten Brief schrieb, hat der dritte Akt meiner Feinde eine grosse Umgestaltung erhalten. Ich fieng mit Abschneidung der ersten un- nöthigen Waldscene an, kam immer tiefer hinein, und so endlich zu einem Schlüsse, der kräftiger endet und einen sicheren Frieden schliesst; ich Hess den leidenschaftlichen Edgar, nachdem er der moralischen Grösse gewichen ist und ihm die Krone abgetreten bat, durch eigne Hand und freiwillig sterben. Sie sind eigentlich an diesem Morde schuld, aber ich danke Ihnen dafür!41 Hermann Hettner, Kleine Schriften. Nach dessen Tode herausgegeben. Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1884. VIII und 563 SS. gr. 8. Hettners Wittwe legt in stattlichem Bande eine vortreffliche Auslese von Biographien, von Aufsätzen zur Philosophie, Kunst und Litteratur, und von Gelegenheitsreden ihres todten Gatten vor. Das beste dessen, was in vielen Zeitschriften zerstreut oder in kleineu Einzeldrucken vcrflogeu war, zusammenzustellen, war ein sehr ver- dienstliches und dankenswerthes Unternehmen; denn der durch- dachte Gehalt und die kunstvolle Form sichern dauernden Werth und Genuss. Und besonders anziehend ist die Sammlung auch darum, weil, wie die Vorrednerin mit Recht sagt, sie einen Ueber- blick über den gesaramten Bildungsgang Hettners ermöglicht. Für die Loslösung Hettners von Hegels Philosophie ist der stark polemische Aufsatz Zur Beurtheilung Ludwig Feuerbachs (S. 146 ff.) ein deutliches Zengniss. Den Uebergang zur Aesthetik d6cumentiert die Abhandlung Gegen die speculative Aesthetik (S. 164 ff.). Im gleichen Jahre beginnt die Schriftstellerei über Digitized by Google Seoffert, Anz. von Hettners kleinen Schriften. 295 alte und neue Kunst, die zu seiner Vorschule der bildenden Kunst hinleitet. Wenn Hettner sich über die moderne Plastik (S. 228 ff.), die neuere Historienmalerei (S. 274 ff.), die gegenwärtige Landschaft- malerei (S. 28? ff.) äussert, so liegt*darin dasselbe Bedürfniss, auf die künstlerische Richtung der nächsten Zukunft einzuwirken, das in dem Buche Das moderne Drama hervortritt. Auch die social- politische Richtung dieser Schrift und des Büchleins Uber die roman- tische Schule hat in den Kleinen Schrifteu eine Parallele an dem gleichzeitigen Aufsatze: Goethe und der Socialismus (8. 433 ff.). Im Anschluss und in Widerspruch zu Gregorovius' Untersuchung der socialistischen Elemente des Wilhelm Meister und zu Karl Grüns Buch 'Goethe vom menschlichen Standpunkt' entstanden, bildet diese Darstellung sachlich und zum Theil sogar wörtlich eine Vorarbeit zu den Abschnitten der Literaturgeschichte, die von Meisters Lehr- und Wanderjahren handeln. Vom Jahre 1850 an mehren sich die litterargeschichtlichen Aufsätze. Das Interesse für die Romantiker ist noch 1853 wach, wie der Artikel über Ludwig Tieck als Kritiker (S. 513 ff.) beweist; er nimmt Partei für den „wirklich grossen Dichter, der ein ebenso grosser Kritiker'' sei, und schliesst mit einer allgemeinen Erörterung über die Aufgabe der Kritik. Zu der Rettung der altfranzösischen Tragoedie (S. 397 ff.) gesellt sich eine psychologische Skizze Uber Hamlet (S. 413 ff.). Sieben Jahre spiiter kommt Hettner noch einmal auf Shakespeare zu sprechen bei Gelegenheit der 1861er Dresdner Aufführung des Wintermärchens nach Dingelstedts Bearbeitung (S. 423 ff.). Inzwischen war die Ansiedelung Hettners in der sächsischen Residenz vollzogen. Die Kleinen Schriften bringen gleich aus dem ersten Jahre dieses Aufenthaltes eine Studie localer Beziehung: die äusserst anschauliche Beschreibung des neuen Museums in Dresden (S. 322 ff.). Ebenso glanzvoll ist die spätere Schilderung des Zwingers (S. 362 ff.). In dieselbe Reihe gehört die Betrachtung der Gruppen an der Brühischen Terrasse (3. 356 ff.); die Erklärung Hettners gegen die Gothik als modernen Baustil und für Renaissance, abgegeben bei der Erbauung der Dresdner Kreuzschule (S. 350 ff.); dann die Reden zur Saecularfeier der k. Kunstakademie (S. 523 ff.) und zur Enthüllung des Winckelmann- Denkmals in Dresden (S. 642 ff.), beide voll kunstgeschichtlicher Auslegungen, die in den ent- sprechenden Capiteln der Literaturgeschichte widerklingen. Ebenso wird der Freund der Litteraturgeschichte manches bekannte Wort finden in der Pestrede zur Eröffnung des Denkmals für Karl Maria von Weber (S. 533 ff.). Einem andern Dresdner Künstler der Musik, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, „einem der gewaltigsten Sänger", ist ein warmer Nachruf gewidmet (S 111 ff.). Auch Ernst Rietschel (S. 20 ff.), Digitized by Google 296 Souffert, Anz. von Hettners kleinen Schriften. Gottfried Semper (S. 89 ff.), Julius Schnorr von Carolsfeld (S 549 ff.), Wolf Graf Baudiosin (8. 121 ff.), denen Hettner ausgeführte Nekro- loge widmet oder ein herzliches Wort ins offene Grab nachruft, ge- hören Dresden an. Mit den meTsten dieser grossen Zeitgenossen war der Biograph persönlich bekannt; das gibt den Darstellungen eigenen Keiz und erhönten Werth. Den gleichen Vorzug habeu die Nekro- loge auf den Maler Rethel (8. 3 ff.), den Diplomaten Baron 8tockmar (8. 131 ff.) und Moritz von Schwind (8. 67 ff.), mit denen Hettner durch enge verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen verbunden war. In all diesen bald mehr persönlich, bald mehr geschichtlich gehaltenen biographischen Darstellungen bewahrt sich die Kunst, Einzelbilder zu entwerfen und auszumalen, welche Hettners Literatur- geschichte schmückt. Im Zusammenhange mit diesem Hauptwerke steht der übrige Inhalt der Kleinen Schriften. Hettner berichtet über das Bild des Knaben Leasing (S. 429 ff.), das er bei einer Wall- fahrt nach Cameuz gesehen. Er charakterisiert Geliert bei der Enthüllung des Denkmals in Hainichen (S. 537 ff.), so wie er ihn dann in der Literaturgeschichte zeichnet. Die Aufsätze über Goethes Iphigenie (S. 452 ff.) und Goethes Stellung zur bildenden Kunst (S. 475 ff.) können ebenso als Vorläufer zu verschiedeneu Abschnitten der zwei letzten Bände des grossen Werkes angesehen werden; was dort in kurzer Zusammenfassung dargethan ist, kehrt hier erweitert wieder. Darum bedarf es keines näheren Hinweises auf den Inhalt. Es drängt sich dabei die Beobachtung auf, wie eng bei Hettner das darstellende Wort mit der dargestellten Person oder Sache verwachsen ist: den einmal gefundenen charakteristischen Ausdruck wahrt er, auch wo er in ausführlicherer Betrachtung neue Sätze in die Darlegung einschiebt. Die kurze Uebersicht allein schon zeigt die Reichhaltigkeit des Sammelbandes. Aufs neue bewundert man die vielseitigen Kenntnisse Hettners. Ein Blick in das angehängte Verzeichniss sämmtücher Schriften Hettners (S. 565 ff.) lässt seine umfangreiche schriftstelle- rische Tbätigkeit in chronologischer Ordnung übersehen. Ich ver- misse darin die Gelegenheitsreden, die doch nach dem Vorworte auch früher schon gedruckt sein sollen, ferner die Mittheilungen Aus Heinßes Nachlass, in diesem Archive 1881, Bd. X, 8. 39 — 73 und 373—384 (zusammen mit Franz Schnorr von Carolsfeld) veröffent- licht Endlich wäre neben den Anzeigen in der Deutschen Litteratur- zeitung auch Hettners Mitarbeiterschaft an der Jenaer Litteratur- zeitung zu verzeichnen, für die ich wenigstens einen Beleg (1879 Nr. 149) beibringen kann. Bernhard Seuffert. Digitized by Google Melchior Acontius. Von Franz Schnorr von Carolsfelü. Was deutsche Dichter der Neuzeit in der Pflege lateini- scher Poesie geleistet haben, ist ein Gebiet litte rarhistorischer Forschung, zu dessen Bearbeitung nicht viel weniger als alles noch zu thun ist. Denn noch ist die Aufforderung Goethes1), dass „ein junger geistreicher Gelehrter das wahrhaft poetische Verdienst zu würdigen unternehmen möchte, welches deutsche Dichter in der lateinischen Sprache seit drei Jahrhunderten an den Tag gegeben", ungehört geblieben; noch gleicht die Stätte der Wirksamkeit unsrer deutschen Neulateiner einem vernachlässigten Grabfelde, auf welchem wucherndes Gestrüpp die Spuren der Vergangenheit zum grossen Theile überdeckt hat und nur vereinzelt sich dem Auge ein wolerhaltenes Denk- mal darbietet. Es soll nicht behauptet werden, dass vor anderen gerade der Dichter, dessen Name sich an der Spitze gegenwärtiger Mittheilung befindet, darauf Anspruch hätte, aus dem Dunkel hervorgezogen zu werden. So sehr ihn einige seiner Zeit- genossen rühmen, die Dichtungen, welche ich von ihm nach- zuweisen im Stande bin, sind an Zahl und Umfang gering, und ein bemerkenswerthes poetisches Verdienst kann ihnen nach meiner Meinung nicht zugesprochen werden. Dennoch wird es nicht als eine überflüssige Bemühung angesehen wer- den dürfen, wenn ich zur Ergänzung und Berichtigung dessen, 1) Kunst und Altertbuni I, 3 S. 46 — Werke Hempelsche Ausg. Th. 29 S. 249. AJlOHtT *\ LtTT.-ÖMCH XIU. 20 Digitized by Google 298 Schnorr, Melchior Acontiua. was bis jetzt über ihn bekannt geworden ist1), aus unbenutzten Quellen einige neue Nachrichten beibringe: schon deshalb nicht, weil das Quellenmaterial, welchem ich meine Nachrichten ent- nehme, einen Ober die Bedeutung des Dichters hinausgehenden Werth, insofern besitzt, als es uns diesen in Verbindung mit Männern wie Melanchthon und Valentin Trotzendorf vorfiihrt und drei interessante Originalbriefe aus den Jahren 1548 und 1549 in sich fasst, welche mit Lebhaftigkeit schildern, wie sich Melanchthon benahm, als der Schreiber dieser drei Briefe in Folge eines ihm aus Frankfurt am Main ertheilten Auf- trages in der Angelegenheit des Interims mündlich mit dem- selben zu verhandeln hatte. Melchior Acontius Ursellanus wurde wahrscheinlich um das Jahr 1515 zu Ursel unweit Homburg geboren; irr- thümlich haben einige Moreris grand dictionaire2) nachge- schrieben, dass er ein Schweizer, gebürtig aus dem Urseren- thale gewesen sei. Zur annähernden Bestimmung seines Geburtsjahres dient die Zeitangabe, dass er im Winter von 1534 auf 1535 zu Wittenberg als Student immatriculiert wurde. Wenn man auf Grund dessen die Zeit seiner Geburt so an- nimmt, wie von mir soeben geschehen, so würde sich für ihn ein ungefähr gleiches Alter mit seinen Freunden Christoph Paunonius, der 1515, Hartmann Beyer, der 1516, und Georg Aemylius, der 1517 geboren wurde, ergeben, was als eine Be- stätigung der Richtigkeit dieser Annahme angesehen werden könnte. Das Album der Universität Wittenberg verzeichnet ihn mit seinem deutschen Familiennamen als „Melchior folstius"; aber in einem Zusätze von M elanchthons Hand bietet dasselbe daneben bereits den übersetzten Namen Acontius. Nur in den von Aemylius herausgegebenen Gedichten auf den Tod 1) Vfrl. Mohnike bei Ersch und Gruber, Allgemeine Encyclop&die Th. 1 1818 S. 385. A. Nebe in den Annalen des Vereins für Naasauische AlU-rthumakunde Bd. 10 1870 S. 116. Zais in der Allgem. Deutschen Biographie Bd. 1 1875 S. 41. 2) Moreri, grand dictionaire historique T. 1. Amaterd. 1740. S. 88. Vgl. Hans Jac. Leu, Helvetisches Lexicon Th. 1 1747 S. S4 Jocher, Gelehrten-Lexicon Th. 1 1750 Sp. 67. Digitized by Google Schnorr, Melchior Acontius. 299 der Gattin des Wittenberger Buchdruckers Georg Rhau ist er als Verfasser eines darin aufgenommenen Beitrags noch „Melchior Pholzius" genannt; von da an verschwindet sein deutscher Familienname völlig aus dem Gebrauche. Aber un- gewiss bleibt dabei, welchen Wortsinn oder Wortanklang man in diesem Namen fand und durch die Uebersetzung Acontius wiedergeben wollte, ob schon folgende Verse in des Aemylius „Propempticon": Mollia cui darum tribuerunt spicula nomen, Blanda quibuß iuuenum pectora figit Amor darauf hinzudeuten scheinen, dass an das deutsche Wort „Bolzen" gedacht worden sei. Allein auf eine andere Spur lenkt eine von Jacob Micyllus verfasste Grabschrift1), welche einem Balthasar Acanthius, aller Wahrscheinlichkeit nach einem jüngeren Bruder Melchiors, gewidmet ist uud dessen Familiennamen mit den Worten umschreibt: Dorica cui patrium nomen Acantha dedit. Das Epigramm, mit welchem Melchior Acontius in Ger. FauBts (d. i. Georg Fabricius) Poetae Germani et exteri cha- rakterisiert ist, hebt hervor, wie derselbe schon in ganz jugend- lichem Alter, kaum noch den Knabenjahren entwachsen, die Dichtkunst ausgeübt habe. Es lautet2): Pene puer cum sis Musarum voce locutus, Euterpen niatrem crediraus esse tibi. Ich kann darin nur eine Bezugnahme auf die Gedichte er- blicken, welche Acontius verfasst hat, während er in Witten- berg studierte, da mir Gedichte von ihm aus noch früherer Zeit nicht bekannt geworden sind. Wie lang sein Witten- berger Aufenthalt, der, wie bemerkt, im Winter von 1534 auf 1535 begann, gewährt hat, wissen wir nicht; doch muss der- selbe mindestens bis in das Jahr 1537 fortgedauert haben. Der erste der nachstehend abgedruckten Briefe ist zwar aus der Heimat, aber so laug nach letztgenanntem Jahre von 1) Micyllus, »ylvarura libri quinque. Ex officina Petri Brubacchij, 1664. 8°. S. 367. 2) Bl. 7 der zu Görlitz 1573 erschienenen Ausgabe. 20* Digitized by Google 300 Schnorr, Melchior Acontius. ihm geschrieben, dass er zur genaueren Bestimmung des Zeit- punctes, wann die Rückkehr erfolgte, nicht viel beiträgt. Das erste von Acontius veröffentlichte Gedicht finde ich in einer Druckschrift, deren Herausgeber, und in einem Exemplar dieser Druckschrift, dessen erster Besitzer Männer waren, welche ihr Leben hindurch mit ihm in naher Freundschaft verbunden blieben. Von den „Epitaphia honestissimae atque optimae feminae Annae coniugis d. Georgij Rhau, Typographi Vuitenbergensis", welche Georg Aemylius im October 1535, auffällig lange Zeit nach dem am 23. März des Jahres 1534 erfolgten Tode der betrauerten, herausgegeben hat, ist nämlich in der Stadtbibliothek zu Frankfurt am Main ein mit folgender* handschriftlicher Widmung versehenes Exemplar vor- handen: „Adolefcenti optimo, Hartinanno Bauaro amico fuo optimo Georgius JEmyl: dono dedit Anno MDXXXV, Menfe Octobrj". Der aus Mansfeld gebürtige Aemylius (oder Oeinler), einer der wenigen neulateinischen Dichter, welche auch noch heute der Vergessenheit nicht ganz anheimgefallen sind, nicht unbekannt auch als ein verwandter Luthers und als ein Sohn des Mannes, der den jungen Luther manchmal auf den Armen zur Schule getragen hat, wurde im Winter von 1532 auf 1533, zur selben Zeit wie Georg Sabinus, in Wittenberg inscribiert und starb als Doctor der Theologie und Superintendent zu Stolberg, einen Monat früher als Acon- tius; derselbe Geistliche, der ihn bestattete, hielt auch über diesen die Leichenpredigt. Hartmann Bavarus (oder Beyer), der Adressat der sämmtlichcn nachstehend mitgetheilten Briefe, war geboren zu Frankfurt am Main und studierte vom Sommer 1534 au in Wittenberg. Er wirkte dann hier als Privatlehrer der Mathematik, verheiratete sich daselbst am 30. April 1543 und verliess die Universitätsstadt erst 1546, nachdem er als Praedicant nach Frankfurt berufen worden war. Kurz nach Antritt dieses Amtes machte er sich während der durch das Interim veranlassten Streitigkeiten in so hervorragender Weise um die Verteidigung des evangelischen Glaubens verdient, dass er noch in neuester Zeit1) als „einer der muthigsten, 1) Von G. L. Kriegk in Heiner Geschichte von Frankfurt am Main. Fkf. a. M. 1871. 8. 883 f. * Digitized by Google Schnorr, Melchior Acontius. 301 durch Ueberzeugungstreue und Charakterfestigkeit ausgezeich- netsten Männer der Frankfurter Geschichte" bezeichnet worden ist. In der Zeit, zu welcher die Gedichte auf den Tod der Gattin Rhaus, sowie zwei andere Druckschriften: die „Epita- phia Helmerici" und das „Propempticon", von denen sogleich die Rede sein wird, veröffentlicht wurden, hielten sich, wie ihr Herausgeber Aemylius, auch Acontius und Bavarus in Wittenberg auf. Eines der Epitaphien auf Rhaus Gattin ist überschrieben „Aliud Melchior i 8 Pholzii". Dass das so bezeichnete Gedicht von dem später nur noch mit seinem graecisierten Namen vor- kommenden Acontius herrührt, kann nicht bezweifelt werden. Wahrscheinlicher Weise ist dann aber auch das in der Sammlung unmittelbar folgende, ein Zwiegespräch zwischen dem Tode und der verstorbenen, von ihm verfasst. Denn die Ueberschrift des letzteren Gedichtes lautet zwar nur „Aliud" und lässt den Namen eines Verfassers vermissen; die Weglassung eines Ver- fassernamens sollte aber vermutlich für den Leser bedeuten, dass aus der Ueberschrift des vorausgehenden Gedichts der Name des Pholzius zu ergänzen sei. Die bekannt gewordenen grösseren Dichtungen von Acon- tius sind Gelegenheitsgedichte, welche veranlasst wurden durch zwei Ereignisse des Jahres 1536: den Tod des Erasmus Roterodamus, der am 12. Juli, und die Vermählung des Georg Sabinus mit Melanchthons Tochter Anna, welche am 6. November erfolgte. Die Verdienste des Erasmus verherrlicht Acontius in einem „Epicedion" (in Distichen) und einer „Apotheosis" (in Hexametern), zwei Gedichten, welche, soweit bis jetzt be- kannt, zuerst in der 1541 zu Strassburg erschienenen Quart- ausgabe von Melanchthons „Liber selectarum declamationum" (S. 317 — 335), eingeleitet durch ein von Melanchthon ver- fasstes Epigramm, gedruckt wurden*, die Jahrzahl 1538, welche das Corpus Reformatorum Vol. X Sp. 553 Melanchthons Epi- gramm zutheilt, ist ohne Gewähr und wahrscheinlich nur eine auf dem Wege blosser Vermuthung gefundene Verbesserung für die — allerdings zu Zweifeln Veranlassung gebende — Jahrzahl 1558, mit der dasselbe in den älteren Gesammt- 302 Schnorr, Melchior Acontius. ausgaben der Melanchthonschen Epigramme erscheint.1) Von Acontius selbst gehen den beiden Gedichten auf Erasmus in dem von mir angeführten Drucke Widmungsverse an den G rafen Ludwig zu Königstein und Stolberg voraus, worin der Verfasser Melanchthon seinen Lehrer in der Dichtkunst nennt und das, was er jetzt dem Grafen zueigne, als erste poetische Versuche bezeichnet, denen dereinst nach seiner Rückkehr in die geliebte Urseler Heimat Dichtungen nachfolgen würden, die mehr der Thaten und des Namens seines Gönners würdig sein sollten. Erasmus wird in den sein Andenken feiernden beiden Gedichten selbst als der Wiederhersteller der Wissenschaften gepriesen, der den Studien ihren Glanz zurückgegeben, aus der Nacht der Unwissenheit leuchtende Tageshelle geschaffen und die Barbarei aus Deutschlands Grenzen vertrieben habe. Den kirchliehen Streitigkeiten gegenüber, welche das Zeitalter be- wegten, wird seiner Friedensliebe und Mässigung Lob ohne Einschränkung erthcilt und nur bedauert, dass es ihm nicht vergönnt gewesen sei, die Berufung eines allgemeinen Concils zu erleben, das seinen Rathschlägen vielleicht verstattet haben würde „neu zu befestigen, was den Einsturz drohte, und zahl- reiche Uebel hinwegzuräumen". Cumque tot extiterint de relligione tumultus, Secula quot constat nulla tulisse prius, Sic ae perpetuo moderatum gessit, ut author Nullius aut rixae dissidijue foret. Ponite saeuitiam, dicebat, ponite Reges Bella, quid iuuito sumitis ainia Deo? Praelia discordes quid lauta paratis utrinque? Non ita res debet relligionis agi . . . Sed fatis utiuam protracta uoleotibus esset Vita recessuro nuper ad astra seni, Donec prineipibus toto semel orbe coactis, Concilio fieret consilioque locus. Forsän ibi potuisset res fuleire ruentes, Tollere consilijs et mala multa suis. 1) Melantbonia epigrammata ed. studio Vincentij. Witeb. 1563. 8". Bl. F 4'. Melauthonis epigramui. libri sex recogn. a loh. Maiore. Witeb. 1575. 8°. Bl. G. Das Corp. Ref. verweist auf „Vincent, p. 69" und gibt falschlich au, dass tich hier die Jahrzabl 1638 fände. Digitized by Google Schnorr, Melchior Acontius. 303 Die beiden Gedichte auf die Hochzeit des Georg Sabi- nus, von denen gleichfalls das eine in Distichen, das andere in Hexametern geschrieben ist, scheinen so wenig als die Ge- dichte auf Erasmus in einem Sonderdrucke zu existieren, den der Verfasser selbst unmittelbar vor oder nach dem besungeneu Ereignisse veranstaltet hätte; filr uns sind sie nur zu linden in dem „Liber carmiuum adoptivus", welcher den Ausgaben der „Poemata Georgii Sabini" beigefügt ist, und in den „De- litiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustriuni" (Pars I. Francofurti, M. D(J. XII. 12°. S. 151-1(52). Eines derselben gewährt besonderes Interesse durch die darin ent- haltene, bis in das einzelste genaue Festbeschreibung. Dass ausser den bisher angeführten Acontius „sehr viele andere" Dichtungen verfasst habe, welche zu Fraukfurt a. M. 1612 iu 8° gedruckt worden und von denen einige auch in den Deliciis Poet. Germ. Tom. I aufgenommen seien, ist, da die letzteren nichts von ihm als die zwei Epithalamien ent- halten, eine theils offenbar falsche, theils unglaubwürdige Angabe1), welche wahrscheinlich durch missverständliche Auf- fassung eines uncontrolierten Citats aus den „Delitiae" veran- lasst worden ist. Diese, zwei Gedichte von Acontius enthaltende Sammlung erschien nämlich, wie angeführt, im Jahre 1612 zu Frankfurt (in 12°); dagegen ist von der Existenz einer zur selben Zeit und am selben Orte erschienenen Sonderausgabe von Gedichten desselben nichts bekannt. Im Februar 1537 unternahm Acontius von Wittenberg aus in Begleitung von Christoph Pannonius (dem aus Pressburg gebürtigen und im Söminer 1536 zu Wittenberg immatriculierten Christoph Breiss oder Preiss, der hoch- bejahrt im Jahre 1590 als Professor in Königsberg starb) eine 1) Ch. Hendreich, Pandectae Brandenburgicae. Berol. 1699. fol. S. 33: „Acontius, Melchior, Epicedion Erasroi Koter. Excusum Argent. com Declamat. Phil. Melancht. Epithalam. iu Georg. Sabini et Annae, Fil. Melancht. nuptias, cum Georgii Sabini Poeinatiis excusum. Scripsit et alia qnamplux. carmin. quae impr. Fft. a. M: 1612. 8. Habentur etiani qnaedam T. I. Delit. German. Poet. p. 161." Vgl. Jöcher, Gelehrten- Lexicon Th. I Sp. 67: „Acontius ... hat einige Poemata verfertiget, welche zu Franckfurt 1612 in 12 [!J heraus gekommen, und auch in den Deliciis Poet. Germ. Tom. I anzutreffen bind." Digitized by Google B04 Schnorr, Melchior Acontiua. Reise nach Goldberg, dem Wohnsitze des berühmten Valentin Trotzendorf. Georg Aemylius gab den beiden reisenden ein in Distichen abgefasstes „Propempticon" mit auf den Weg, dessen Inhalt eine Beschreibung der von ihnen zurück- zulegenden Reise mit kurzer Erwähnung ausgezeichneter Per- sönlichkeiten, durch deren Aufenthaltsorte sie kommen sollten, bildet. Eingereiht in den übrigen Inhalt ist ein poetisches Empfehlungsschreiben, welches der Verfasser des „Propempti- con" an den ihm befreundeten, obschon von Person noch nicht bekannt gewordenen Trotzendorf richtet und mit wel- chem Aemylius diesem zugleich auf einen Brief antwortet, der ihm die Meldung von dem Tode des Goldberger Bürgermeisters Georg Helmerich und die Aufforderung gebracht hatte, ein Epitaphium zu Ehren des verstorbenen zu dichten. Wahrscheinlich überbrachten Acontius und Pannonius fertige Exemplare einer Druckschrift, welche Aemylius in Ge- meinschaft mit ihnen verfasst und» veröffentlicht hatte, um Trotzendorfs soeben erwähnter Aufforderung Genüge zu thun. Denn in demselben Monate, in welchem die beiden ihre schle- sische Reise antraten, wurden zu Wittenberg gedruckt Epitaphia Viri Optiini Georg ij Helmerici, Consulis quondam Goltbergensis. Autoribus. Georgia AEuiilio Mans- ieldense, Melchiore Acontio Vrsellano. Christophoro Preyfs Pannonio. (Am Ende: Impressum Vuitebtigae per Iosephum Klug. ANNO. M. D. XXXVII. Mense Februario. morlachischen Geschichten« genommen zu sein, die Herder im ersten Theil seiner Volkslieder mittheilte44. Digitized by Google K. Geiger, Goethes Klaggesang von der Frauen des Asan Aga. 347 tragen war, zuerst anter dem Namen Klaggesang der edlen Frauen Asan Agas bei den Deutschen eingeführt habe". Aber auch diese Angabe ist nicht richtig, da ja Wcrthes, dessen »Schriftchen sie, wie es scheint, nicht kennt, der erste war, der eine deutsche Uebersetzung lieferte. So dürfen wir, wie ich glaube, auf dieses Zeugnis« der Talvj, das offenbar nur die Angabe Goethes wiederholt, kein Gewicht legen. Uebrigens müssten wir, wenn wir der Talvj genauere Kenntniss zuschreiben wollten, das gleiche auch bei Gerhard thun, der in gleichen Beziehungen zu Goethe stand. Er spricht aber (a. a. 0. S. 211) in der Vorbemerkung zu seiner Ueber- setzung von Goethes Gedicht als „einer Uebertragung nach dem italienischen Texte". Von einer franzosischen Vorlage hat er somit nichts gewusst oder er hat an eine solche nicht geglaubt. Doch schauen wir uns nach den französischen Ausgaben von Fortis' Werke um, die Goethe benützt haben konnte. Die französischen Bibliographien wissen nur von einer Uebersetzung von Fortis Reise aus dem Jahre 1778. Noch 1777 gibt der Mercure de France (Fevr. 109 — 1 IG) einen Auszug der Sitten der Morlacken nach dem sehr ausführlichen Berichte, den das Giornale de' letterati von Pisa 1775 (Bd. XX S. 81 ff.) über Fortis' Heise gebracht hatte. Er kennt also bis zum J. 1777 keine französische Uebersetzung. Der Klaggesang wird im Mercure gar nicht erwähnt. Jene französische Uebersetzung von 1778 (Voyage en Dalmatie, trad. de l'italien, Bern 1778) erschien ebenfalls bei der typographischen Gesellschaft in Bern und gleichzeitig eine Separatausgabe des Abschnitts über die Sitten der Morlacken, die sich als blossen Abdruck schon durch die gewahrte Briefform erweist, was bei der Werthes- schen Uebersetzung nicht der Fall ist (Lettre de M. l'Abbe" Fortis — sur les moeurs et usages des Morlaques, appelle's Montenegrins, Berne 1778). Ich kenne nur diesen Separatabdruck. Hier findet sich 8. 79 ff. der serbische Text und eine französische Uebertragung in Prosa, die sich genau an Fortis" Uebersetzung anschliesst. Was von der italienischen Uebersetzung gilt, das gilt daher auch von dieser. Hätte Goethe sie auch erst später kenneu 23* Digitized by Google 348 K. Geiger, Goethes Klnggefang von der Franen des Asan Aga. gelernt und mit der Werthesachen verglichen, so müsste er ihr an verschiedenen Stellen1) den Vorzug vor der letzteren gegeben haben. Von Ein flu 88 ist also diese französische Uebersetzung, wenn sie Goethe je zu Gesicht gekommen ist> nicht gewesen. So müsste Goethe nur eine andere, und zwar frühere benützt haben. Von einer solchen, etwa 1775 erschie- nenen französischen Uebersetzung ist aber nichts bekannt. Die Bücherlexica führen wol noch von Fortis au „Lettres sur les Morlaques", die auch in Bern ohne Angabe des Jahres herausgekommen sein sollen. Aber wenn auch diese Angabe richtig ist und nicht auf einer Verwechselung mit der sonst nicht erwähnten „Lettre etc." beruht, so ist doch wol nicht anzunehmen, dass im gleichen Verlag eine zweite, von der an- geführten verschiedene Uebersetzung erschienen ist. So kommen wir zu dem Schlüsse: die vorhandene französische Uebersetzung hat Goethe wol nicht gekannt, jedesmal 1s nicht benützt. Doch Goethe gibt uns selbst noch weitere Mittel an die Hand die Richtigkeit seiner Angabe zu prüfen. Er spricht in der oben angeführten Stelle von den „Morlackischen Notizen der Gräfin Rosenberg", und nur diese kann Goethe im Sinne haben, wenn er von dem beigefügten Französischen redet Mit diesen „Morlackischen Notizen" hat es aber eine eigene Bewandtni8s. Jm Jahre 1788 erschien in Venedig der Roman „Les Morlaques par J. W. C. D. U. et R." Die Verfasserin, die in einer Ausgabe des Romans unter der Dedication an die Kaiserin Katharina II. ihren vollen Namen nennt, ist Justine 1) Ich führe sur Vergleichung nur die beiden Stellen an: Le Beg ee tait et ne re*pond rien: mais il tire d'uoe bourse de aoye vermeille une feuille de papier, qui permet ä sa soeur de «e couronner pour od uouveau mari, apreB qu'elle sera retournee dans la maison de ses peres und: Arrivee, chemin faisant, devant la maison d'Asan ees deux f illes la voyent d'un balcon, et ses deux f i la courent a sa rencontre, en criant: „cbere mere reute avec nous; prens chez nous des refrai- chisBemene". (!) Que*rard, la France litteraire III, 172 bemerkt nicht mit Unrecht zw dieser Uebersetzung von Fortis' Werke: „ftdition tres-man- vaise d'un ouvrage peu exact". Digitized by Google K. Geiger, Goethes Klaggesang von der Frauen des Asan Aga. 349 (Giustiniana) Wynne, Comiesse des Ursins et de Rosein- berg, die zweite Gemahlin des Grafen Philipp Joseph Rosen - berg-Orsini. (S. Querard X, 542, Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes III, 358 und Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich Theil 27, S. 17 f.)1). Eine deutsche Uebersetzung von Samuel Gottlieb Bürde erschien 1790 in Breslau. (Die Morlaken von J. Wynne, Grähnn von Ursini und Rosenberg. Aus dem Französischen übersetzt von S. G. Bürde. I. II. Breslau 1790. S. auch Jördens, Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten I, 245 unter S. G. Bürde.) Diesen Roman mochte Goethe am Schlüsse seiner italienischen Reise kennen gelernt haben. Die Ver- fasserin desselben bemerkt selbst in der Vorrede (nach der deutschen Uebersetzung, die ich allein kenne): ,,Die besonderen Umstünde eines tragischen Vorfalls, der sich vor etlichen Jahren unter den Morlaken in Venedig er- eignete, lenkten die Aufmerksamkeit auf diese wenig gekannte Nation, und machten sie interessant. Mündliche Nachrichten von denjenigen Morlaken eingezogen, die öffentlicher oder Privatangelegenheiten halber sich hier zu Lande aufhielten; Unterredungen mit Sclavoniern, die aus der Nachbarschaft jener Gegenden waren; das Nachlesen der wenigen alten Bücher, die man über diess Land hat, vorzüglich aber eines vortrefflichen neuern Werks, der Reise des Herrn Fortis durch Dalmatien, sind die Quellen, aus denen bei dieser Schrift ge- schöpft worden ist." Der Erzählung ist eine Anzahl serbischer Volkslieder eingestreut. Der Klaggesang wird aber nur erwähnt (I, 248), wozu Bürde bemerkt: „Fortis hat diese Ballade im 1. Theil, S. 152 ganz eiugerückt Im VIII. Th. von Goethens Werken findet man eine Uebersetzung davon." So beruht also auch Goethes Angabe in Betreff der Gräfin Rosenberg auf einem Irrthum. Wir sind daher, wie ich glaube, berechtigt die ganze 1) Wurzbach gibt als Geburtstag den 31. Jänner 1732, und als Todestag den 21. Aug. 1791 an und spricht dann von einem Alter von 64 Jahren. Die Gräfin ist den 81. Jan. 1737 geboren. Digitized by Google 350 K. (jJeigcr, (Joethe.s Klaggesang von der Frauen des Asan Aga. Angabe hinsichtlich einer französischen Vorlage als eine irr- thümliche zu bezeichnen. Wir können vielleicht auch erklären, wie Goethe zu seiner Bemerkung gekommen ist. Fortis „Reisen" citiert er offenbar nur nach Herders Vorgang. Das Werk selbst (italienisch, französisch oder deutsch) hat er wol nicht in der Hand gehabt. Dagegen erinnert er sich, dass er nach dem bei „Herder in zweiter Stelle genannten Werke übersetzt hat. Statt des deutschen Büchleins „Sitten der Murlacken" schiebt ihm aber die irrende Erinnerung das viel spatere französische Werk der Gräfin Kosenberg unter, und so glaubt er nach einer französischen Vorlage übersetzt zu haben. In der That aber sind die ,,Sitteu der Morlaeken" mit dem serbischen Original und der deutschen Uebersetzung von Werthes die einzige Quelle von Goethes Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga. Digitized by Google Ein Brief von „Mutter Voss" an Walburga von Holzing bei ihrer Vermählung mit dem Kaufmann Justus Tiedemann. Ein herzlich gemeintes Wort an die liebe Wally bey'm Begin ihrer neueu Laufbahn durchs Leben. Die alte Mutter ist Wortarm geworden, und kann im Gespräch nicht mehr geben, was ihr Herz gern geben möchte! sie hoft aber bis an ihr Ende reich zu bleiben an herzlichen Gefühlen gegen alle, die ihr Herz liebt, und kann die geliebte Schwester ihres Herzens Kindes nicht ohne einen ausgesprochen Segen in die Welt ziehn lassen. Sie muss ihr zurufen: sey ge- trost, indem Du Deine Heimaht und Deine Freundschaft verlässt und einem brafen Mann in sein Vaterland folgst. Fürchte Dich nicht, denn Gott ist mit Dir, wenn Du ernst und red- lich strebst, mit Treue und Liebe Deine Pflichten zu erfüllen. Schon Salomo hat gesagt: Wer eine Ehefrau findet, der findet was Gutes und kann guter Dinge seyn im Herrn! Mit dem festen Vorsaz, der Segen ihres Gewählten zu werden, soll jedes Mädchen in den wichtigen Stand der Ehe treten; dann wird ihr wenigstens gelingen, zu erreichen, was bey Mensch- licher Schwachheit zu erreichen möglich ist. Sie soll mit Achtung auf ihn schauen, und ihr höchstes Streben soll sein, ihm zu gefallen! Ihr höchster Stolz soll sein, seine Achtung zu verdienen, sich sein Vertrauen, im Grossen wie im Kleinen, zu erwerben. Au der Hand eines brafen Mannes, steht ein Weib fest, und geht sicher! Der Mann ist des Weibes Haubt! Darin liegt, dass unser Wille dem seinen untergeordnet ist. Er ist unser Versorger! unser Schuz! unser Trost! Unbe- dingten Gehorsam fodert kein vernünftiger Ehemann; das Weib darf mit Sanft muht ihren Willen aussprechen, wo sie es für Recht erkennt, und findet dadurch oft Füg- Digitized by Google 352 Schwarte, ein Brief von „Mutter Voss". samkeit, wo sie es zu wünschen Ursache hat. Ein Weib kann stets guter Dinge und fröhlich sein und bleibeu, wenu sie sich den Umfang ihrer Pflichten weder zu leicht, noch zu schwer denkt! Du, raeine geliebte Wally, hast bis jezt im Leben vieles entbehrt, was Sicherheit und Leichtigkeit giebt, die Pflichten des Weibes treu zu erfüllen. Dir fehlte dass Beyspiel und die Leitung einer liebenden Mutter, Dir fehlte, bis auf die lezten Jahre, ruhige häusliche Umgebung, und Uebung in häuslicher Thätigkeit, die eigentlich des Weibes Beruf ist und in der sie Ersaz findet, für alles, was dass Ge- räusch der Welt nicht geben kann. Das Vorbild Deiner Schwester bleibe Deinem Herzen tief eingeprägt! Mit wahrer Demuht im Herzen trage die Schwächen anderer; so kannst Du sicher sein, dass auch Deine Schwächen mit Schonung getragen werden. Diese innere Demuht, die eine der schönsten Zierden unsrer Seele ist, leitet uns bey allem, was wir zu üben haben, zur ernsten Prüfung unser selbst, sie sehttzt uns vor Launen, die man keinem Ehemann zu tragen auflegen muss, vor Aufwallungen zur Heftigkeit, wenn sich irgend etwas nicht nach unserem Sinne fügt. Je weniger ein Weib an sich selbst denkt, je weniger trübe Stunden stehn ihr im Leben bevor. Suche es Dir zur Gewohnheit zu machen, mit ernsten Vorsätzen jeden Tag zu beginnen, mit ernster Prüfung dessen, was Du geleistet, ihn zu beschliessen. Jedes ernste Stieben nach iunrer Vollkommenheit segnet Gott mit Gelingen. Ge- lingt uns etwas Gutes, so soll es uns nicht stolz machen, nur dankbar! und wachsam auf dass, was uns noch fehlt Dass Streben nach innrer Reinheit giebt einen fröhlichen Muht! Ordnung im Innern hat Ordnung im Aeussern zum Geleite, und beyde sind die Seele des Hauswesens. Wir müssen, um daurend glücklich zu sein, weder im Innern, noch im Aeussern nach Prunk streben, nichts thun, um den Beyfall anderer zu erreichen, dürfen uns nur im Stillen freuen, wenn er uns zu Theil wird. Geräuschlos, und mit Leichtigkeit unsre Geschäfte zu treiben, muss stets unser Streben sein; je mehr man sich gewöhnt, alles zur bestimmten Zeit zu thun, je mehr erleichtert sich selbst jedes Geschäft; je geräuschloser ein Weib wirkt, je behaglicher fühlen sich die mit ihr leben. Vernünftige Digitized by Google Schwartz, ein Brief von „Mutter Voss". Sparsamkeit gehört zu unsern ersten Pflichten, selbst dann, wenn uns von Gott alles reichlich bescheert ist. Die Haus- frau niuss stets dafür sorgen, dass nichts in ihrem Hause umkomme. Dass scharfe Auge der Hausfrau vermindert nie die Liebe der Dienenden, wenn es nicht in Strenge ausartet. Sich die Achtung der Dienenden zu erwerben, muss man nie vernachlässigen. Diese erwirbt man sich am leichtesten, wenn man ihnen Zutrauen zeigt, und ihnen dass Gefühl giebt, dass man alles, was mau von ihnen fodert, selbst zu leisten im Stande sey; man muss sich nicht scheuen, selbst in allen Ecken flink und fröhlich mit anzugreifen. Im Tadeln der Fehler muss man freundlich sein, nie zu viel von ihnen fodern, und nicht sparsam sein, ein ermunterndes Wort auszusprechen, wenn sie etwas recht gemacht haben. Auch mit ihrer Zeit muss die Hausfrau sparsam umgehen. So wenig Zeit als möglich verwende sie auf den Puz, zu geselligen Unter- haltungen, die bloss Zeitvertreib geben. Gesellige Unterhal- tung soll nur Würze des Lebens sein, nie der Zweck unsers Strebeus. Den Plan des Lebens muss der Mann bestimmen; er weiss am besten, wo Erholung von Berufsgeschäften ihm wohl thut und welche Art der Erheitrung auf ihn am wohl- thätigsten wirkt. Diesen Plan alsdann ausbilden und ver- schönern ist das Geschäft der Frau; je einfacher sie ihn ver- eint ausbilden, je glücklicher werden beyde sein. Prunk befriedigt kein Herz wahrhaft! zu viel Getümmel lässt nie einen erfreulichen Eindruck zurück. Sollte ich Dir die Frage beantworten: ob ich selbst in meinem langen Leben immer die Treue geübt, die ich Dir empfehle, so könnte ich wohl kein freudiges Ja sprechen! Aber das kann ich Dir nach der Warheit versichern, dass ich da stets mich am glücklichsten gefühlt, wo es mir ge- lungen ist, meinen guten Vorsätzen getreu zu handeln, und dass mir stets Heiterkeit zum Lohn geworden ist, wenn ich irgend etwas Nichtgutes in mir mit Anstrengung bekämpft. Heitere und trübe Stunden stehn auch Dir bevor. Erkenne mit Dauk, dass Du nicht weisst, welches Maass von beiden der Vater im Himmel zu Deinem Besten bestimmt. Was er sendet, muss uns zum Segen werden, wenn wir ohne Digitized by Google 354 Schwarte, ein Brief von „Mutter Vobb". Uebermuht das Gute mit Dank nehmen, und das was uns uicht gut scheint, mit ruhiger Ergebung tragen. Zu bey- dem schenkt er uns Kraft, wenn wir sie mit festem Vertrauen bey ihm suchen. Die Liebe aller, die mit Dir lebten, folgt Dir in die Fremde; die herzlichsten Wünsche för Dein Wohl geleiten Dich. Alles wird Bich freuen, wenn es Dir wohl geht, und es wird Dir wohl gehn in der Liebe, und unter dem Schuz eines brafen Mannes, der das Gute liebt, und das Gute zu schätzen und aufzumuntern versteht. An fremde Menschen und Sitten wirst Du Dich leicht gewöhnen. Die Norddeut- schen sind braf, und zuverlässig. Die Hausmütter stehn gerne mit Raht und That bey. Gottes Segen mit Dir, und ein fröhlicher Muht! Deine treue Mütterliche Freundin Ernestiene Voss. Der vorstehende Brief ist nur einmal gedruckt worden, und zwar in der kleinen Schrift: „Hinterlasseue Schriften von Mutter Voss", unter der Ueberschrift: „Brief an W. v. H." Diese Schrift ist, wie es scheint, nur für die Familie gedruckt worden und nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen (selbst in Heidelberg war sie nicht mehr aufzutreiben), und da der Brief gegenwärtig ausser den nächsten angehörigen der Adressatin niemandem bekannt sein dürfte, so hoffe ich, dass ein Abdruck desselben den Lesern dieser Zeitschrift willkommen sein werde. Die Schreiberin des schönen Briefes ist den Litteratur- freunden so bekannt, dass ich mich über sie auf wenige Be- merkungen beschränken zu dürfen glaube, bei welchen die von H. Schröder in Itzehoe verfassten Lebensnachrichten im „Neuen Nekrolog der Deutschen" Jahrg. 12 (1834), Tbl. I, S. 225 u. 226, benutzt worden sind. Ernestine Voss, geb. Boie (geb. am 31. Januar 1756), war die jüngste Schwester des als Herausgeber des Göttingi- schen Musenalmanachs und des deutschen Museums rühmlichst bekannten Heinrich Christian Boie (gest. 1806). Ihr Vater, Johann Friedrich Boie, war Kirchenpropst und Hauptprediger zu St. Nicolai in Flensburg. Der später als Gelehrter, Dichter Digitized by Schwarte ein Brief von „Mutter Voss". 355 und Uebersetzer berühmt gewordene Johann Heinrich Voss, der durch den Musenalmanach mit Boie in Verbindung ge- kommen war, lernte durch ihn dessen geistreiche jüngste Schwester Ernestine kennen und wechselte bereits von Güttingen aus Briefe mit ihr, ehe er sie noch gesehen hatte. Bald nach- her begleitete er den Freund nach Flensburg und gewann Ernestine so lieb, dass er sich mit ihr verlobte. Einige Zeit darauf Hess er sich in Wandsbeck als Privatgelehrter nieder und gründete einen eigenen Musenalmanach, von dessen Er- trage er leben zu können hoffte. Ernestinens Vater war unterdessen gestorben; die Mutter aber wollte in die Ver- bindung mit Voss nicht einwilligen, weil von beiden Seiten die zur Begründung eines Hausstandes erforderlichen Mittel fehlten, und erst am 15. Juli 1777 kam die Heirat zu Stande. Bekaunt ist, dass die Ehe eine äusserst glückliche wurde und dass Ernestine ihrem Gatten in allen Leiden und Widerwärtig- keiten des Lebens treu zur Seite gestanden und ihre Kinder vortrefflich erzogen hat. Sie verlor ihren geliebten Lebens- gefährten, der im J. 1805 als Professor mit dem Hofrathstitel nach Heidelberg berufen worden war, nach neunundvierzig- jähriger Ehe am 29. März 1826; ihren ältesten Sohn Heinrich, der ebenfalls Professor in Heidelberg war, hatte sie schon vier Jahre vorher zu Grabe gebracht Bis in ihr hohes Alter rüstig und geistesfrisch, überlebte sie ihren Gatten um fast acht Jahre und schied wie dieser im März aus dem Leben (10. März 1834), welches sie auf reichlich achtundsiebzig Jahre gebracht hatte. Eigentliche Schriften hat sie nicht herausgegeben; Briefe von ihr findet man in F. H. Jacobis Briefwechsel, auch in den von ihrem Sohne Abraham herausgegebenen Briefen ihres Gatten, wo auch einige das Leben des letzteren erläuternde Aufsätze von ihr Aufnahme gefunden haben; Bruchstücke aus Briefen von ihr enthalten auch die Aufsätze ihres Gatten gegen den Grafen Friedr. Leop. zu Stolberg. Die oben erwähnten LebenB- nachrichten über sie im „Neuen Nekrolog'* schliessen mit den Worten: „Ihr Andenken wird nicht bloss den nächsten Ange- hörigen, sondern jedem Verehrer deutscher Literatur stets theuer bleiben. Schleswig- Holstein kann stolz darauf sein, dass aus ihm diese edle Frau hervorgegangen ist." Die Digitized by Google 356 Schwarte, ein Brit f von „Mutter Voss44. „Mutter Voss" schrieb, im Alter von siebenundsechzig Jahren, den vorstellenden Brief an ihre junge Freundin Walburga Francisca Therese von Holzing, als dieselbe sich in Heidel- berg am 11. Mai 1823 mit dem Kaufmann Justus Tiede- mann aus Bremen verheiratete. Diese durch Schönheit, Geistesbildung und Herzensgute ausgezeichnete junge Dame war die Tochter des vormaligen Obervogts in Rastatt, nach- herigen Hof- und Regierungsraths in Carlsruhe Johann Baptist von Holzing und wurde am 7. Januar 1799 zu Carlsruhe geboren. Sie verlor früh ihre Eltern, ihren Vater am 20. März 1803 und in demselben Jahre auch ihre Mutter Therese geb. von Fabert, welche am 25. März zu Rastatt starb, wurde zu ihrer Ausbildung einem Institut in Mannheim übergeben und lebte, als diese vollendet war, in dem Hause ihres Bru- ders, des Obersten Leopold von Holzing1) in Carlsruhe, dann in dem ihres Schwagers, des Professors der Anatomie und Physiologie Dr. Friedrich Tiedemann*) in Heidelberg, der sich am 30. März 1807 mit ihrer älteren Schwester, Jenny Rosa von Holzing, verheiratet hatte, einer schönen, hochgebildeten Dame, die allen geistigen Bestrebungen ein lebhaftes Interesse widmete. Sie schenkte ihrem Geraahl sieben Kinder (vier Söhne und drei Töchter) und erfreute sich in den gebildeten Familienkreisen Heidelbergs der grössten Hoch- achtung. Ihre an äusseren und inneren Vorzügen ihr voll- kommen ebenbürtige Schwester Walburga verheiratete sich, wie oben bemerkt, mit dem Bruder des Professors, nachherigen 1) Ueber diesen ausgezeichneten Mann Tgl. Friedrich Weechs „Badische Biographien44 Thl. I S. 393. Er wnrde am 31. October 1784 in Rastatt geboren, machte sich in den Feldzügen in Spanien (1805- 1811) und in den späteren Kriegen rühmlichst bekannt und starb als Oberst und Ib'gimentscommandeur in Mannheim am 19. Mai 1831. 2) Vgl. über den berühmten Physiologen den von Theodor v. Bi- schoff verfaasten ausführlichen Artikel in F. v. Weechs „Bad. Biogra- phien44, Thl. II S. 362-358. Er wurde am 23. August 1781 au Cassel, wo sein Vater Dietrich Tiedemann Professor der Philosophie am Collegium Carolinum war, geboren, wurde 1816 von Landshut nach Heidelberg berufen, schied 1849 aus seiner erfolgreichen akademischen Wirksamkeit und starb am 22. Januar 1861 zu München. Er hatte am 30. März 1867 seine goldene Hochzeit gefeiert. d by Google Schwartz, rin Brief von „Mutter Vosh". 357 Geheiinrathes Tiedemann, dein Kaufmann, nachherigen Aelter- mann Justus Tiedemann in Bremen. Sie gebar ihm sieben, zum Theil noch lebende Kinder und starb, vierunddreissig Jahre alt, am 12. Juni 1833 in Bremen; ihr Gatte, der 1835 in eine zweite Ehe getreten war, starb daselbst, vierundsiebzig Jahre alt, am 22. November 1858. Durch die Güte der Ge- mahlin des Herrn Geheimrath Dr. Kopp, Professors der Chemie an der Universität Heidelberg, einer Tochter der Frau Wal- burga Tiedemann, wurde mir Einsicht in den von den Kindern der verewigten als theures Andenken aufbewahrten Original- brief gewährt, von welchem ich seither nur eine Abschrift besessen hatte; die oben mitgetheilten Lebensnachrichten ver- danke ich der ältesten Tochter der verewigten, Fräulein Therese Tiedemann in Bremen. Wiesbaden, 8. August 1884. Karl Schwartz. Digitized by Google Ungedrackte Dichtungen Hölderlins. Mitgetheilt von ÄUGU8T Sauer. L Jugendgediohte. Im „Morgenblatte für gebildete Leser" 18(53 Nr. 34 und 35 hat Professor Christoph Theodor Schwab, der verdienst- volle Herausgeber von Hölderlins Werken, eine Reihe von , Jugendgedichten desselben veröffentlicht. Ein Theil der damals von Schwab benützten Papiere ist gegenwärtig im Besitze des Herrn Wilhelm Künzel in Leipzig, der sie mir mit ge- wohnter Liebenswürdigkeit zur Benützung überliess. Es ist ein Quartheft mit GO Seiten, von Hölderlins Hand reinlieh und sorgfältig beschrieben, 1 1 Gedichte enthaltend, von denen Schwab nur vier Strophen des ersten, ferner das dritte und siebente — jedoch ohne die Aenderungen und Verbesserungen des Dich- ters — mittheilte. Ich lasse sie mit allen orthographischen Eigenthümlichkeiten des Originals folgen. Die Gedicht- und Verszahlen rühren von mir her. S. 3. [1.] Die Meinige. 1780. Herr der Welten! der du deinen Menschen Leuchten läßst so liebevoll dein Angesicht, Lächle, Herr der Welten! auch des Betters KrdenwUnschen, O du weist es! sündich sind eie nicht. Ich will betten für die lieben Meinen 5 Wie dein großer Sohn für seine Jünger bat — 0 auch Er, er konte Menschentränen weinen, Wann er bettend für die Menscheu vor dich trat — Ja! iu seinem Nahmen will ich betten, Und du zürnst des Betters Erdcnwünschen nicht, 10 Ja! mit freiem, ofuem Herzen will ich vor dich tretten, Sprechen will ich, wie dein Luther spricht. — Digitized by Google Sauer, ungedruckle Dichtungen Hölderlins. 35<) Bin ich gleich vor dir ein Wurm, ein Sünder — Floß ja auch für mich das Blut von Golgatha — 0! ich glaube! Guter! Vater deiner Kinder! 15 Glaubend, glaubend trett' ich deinem Trone nah. S. 4. Meine Mutter! — o mit Freudentränen Dank ich großer Geber, Heber Vater! Dir, Mir o mir dem glttklichsten von tausend andern Söhnen Ach die beste Mutter gabst du mir. 20 Gott! ich falle nieder mit Entzüken, Welches ewig keine Menschenlippe spricht Tränend kan ich aus dem Staube zu dir büken — Nimm' es an das Opfer! mehr vermag ich nicht! — Ach als einst in unsre stille Hütte Furchtbarer! herab dein Todesengel kam, Und den jammernden, den flehenden aus ihrer Mitte Ewigteurer Vater! dich uns nahm; Als am schröklich stillen Sterbebette Meine Mutter sinnlos in dem Staube lag — Wehe! noch erblik ich sie, die Jammerstätte, Ewig schwebt vor mir der schwarze Sterbetag — S. 5. Ach! da warf ich mich zur Mutter nieder, Ueischerschluchzend blikte ich an ihr hinauf, Plözlich bebt' ein heiiger Schauer durch des Knaben Glieder, 35 Kinfllich sprach ich — Lasten legt er auf Aber o! er hilft ja auch, der gute — Hilft ja auch der gute, liebevolle Gott — — Amen! amen! noch erkenn ichs! deine Küthe Schlaget väterlich! Du hilfst in aller Noth! 40 Nun! so hilf, so hilf in trüben Tagen, Guter, wie du bisher noch geholfen hast, Vater! liebevoller Vater! hilf, o hilf ihr tragen Meiner Mutter — jede Lebenslast. Daß allein sie sorgt die Elternsorgen! 45 Einsam jede Schritte ihres Sohnes wägt! Für die Kinder jeden Abend , jeden Morgen — Ach! und oft ein Tränenopfer vor dich legt! S. 6. Daß sie in so manchen trüben Stunden üeber Witwenquäler in der Stille weint! öu Und dann wieder aufgerißen bluten alle Wunden, Jede Trau'rerinnrung sich vereint! 18 Daok ich lieber, Heber Vater! dir, zuerst. 25 30 Digitized by Google 9 360 Sauer, ungedrut-kte Dichtungen Hölderlins. Daß sie aus den schwarzen Leichenzügen Oft so, schmerzlich sie nach seinem Grabe sieht! Da zu sein wünscht, wo die Tränen alF versiegen, 65 Wo uns jede Sorge, jede Klage flieht. O so hilf, so hilf in trüben Tagen, Guter! wie du bisher noch geholfen hast! Vater! liebevoller Vater! hilf, o hilf ihr tragen, Sieh! sie weinet! — jede Lebenslast. 60 Lohn' ihr einst am großen Weltenmorgen All die Sanftmutb, all die treue Sorglichkeit, All die KUmmerniße, all die Muttersorgen, All die Tränenopfer ihrer Einsamkeit. S. 7. Lohn1 ihr noch in diesem Erdenleben 66 Alles, alles, was die Teure für uns that. O! ich weiß es froh, du kanst du wirst es geben Wirst dereinst erfüllen, was ich bat. Laß sie einst mit himmlisch hellem Blike Wann um sie die Tochter — Söhne — Enkel stehn — 70 Himmelauf die Hände faltend, groß zurüke Auf der Jahre schöne Stralenreise sehn. Wann sie dann entflammt im Dankgebette Mit uns in den Silberioken vor dir kniet, Und ein Engelschor herunter auf die beil'ge Stätte 75 Mit Entzüken in dem Auge sieht; * Gott! wie soll dich dann mein Lied erheben! Hallelnja! Halleluja! jauchz1 ich dann; Stürm aus meiner Harfe jubelnd Leben ; Heil dem grosen Geber! ruf ich himmelan. 80 S. 8. Auch für meine Schwester laß mich flehen, Gott! du weist es, wie sie meine Seele liebt, Gott! du weist es, kennest ja die Herzen, hast geseheu, Wie bei ihren Leiden sich mein Blik getrübt. — Unter Rosen, wie in Dorneugängen , 85 Leite jeden ihrer Tritte himmelan. Laß die Leiden sie zur frommen Ruhe bringen, Laß sie weise gehn auf heitrer Lebensbahn. Laß sie früh das beste Theil erwählen Schreib ihrs tief in ihren unbefangnen Sinn, 90 Tief wie schön — die Himmelsblume blüht iu jungen Seelen Christuslieb' und Gottesfurcht wie schön! 67 ich weiß] ich glaub zuerst. Digitized by Google Sauer, angedruckte Dichtungen Hölderlins. 361 Zeig ihr deiner Weisheit reinre Wonne, Wie sie hehrer deiner Wetter Schauernacht Heller deinen Himmel, schöner deine Sonne, 96 Näher deinem Trone die Gestirne macht. S. 9. Wie sie in das Herz des Kämpfers Frieden Tränen in des bangen Dulders Auge giebt — Wie dann keine Stürme mehr das stille Herz ermüden, Keine Klage mehr die Seele trübt. 100 Wie sie frei einhergeht im Getümmel, Ihr vor keinem Spötter, keinem Haßer graut, Wie ihr Auge, helleschimmernd, wie dein Himmel, Schrökend dem Verführer in das Auge schaut. Aber Gott! Daß unter Frühlingskränzen 105 Oft das feine Laster seinen Stachel birgt — Daß so oft die Schlange unter heitern Jugendtänzen Wirbelt, und so schnell die Unschuld würgt — ! Schwester! Schwester! reine gute Seele! Gottes Engel walte immer über dir! 110 Häng dich nicht an diese Schlangenhöhle, Unsers Bleibens ist — Gott seis gedankt! nicht hier. S. 10. Und mein Carl — — o! Himmelsangenblike! — 0 du Stunde stiller, frommer Seeligkeit! — Wohl ist mir! ich denke mich in jene Zeit zurüke - — 116 Gott! es war doch meine schönste Zeit. (Ö daß wiederkehrten diese Tage! Ü daß noch so unbewölkt des Jünglings Herz, Noch so harmlos wäre, noch so frei von Klage, Noch so ungetrübt von ungestümem Schmer/!) 120 Guter Carl! — in jenen schönen Tagen Saß ich einst mit dir am Nekkarstrand , Fröhlich sahen wir die Welle an das Ufer schlagen, Leiteten uns Bächlein durch den Sand. Endlich sah ich auf. Im Abendschimmer 126 Stand der Strom. Ein heiliges Gedicht Bebte mir durchs Herz; und plözlich scherzt' ich nimmer, Plözlich stand ich ernster auf vom Knabenspiel. S. 11. Bebend lispelt' ich: wir wollen betten! Schüchtern knieten wir in dem Gebüsche hin. 130 Einfalt, Unschuld wars, was unsre Knabenherzen redten — Lieber Gott! die Stunde war so schön. Wie der leise Laut dich Abba! nannte! Wie die Knaben sich umarmten! himmelwärts Archiv r. Litt.-Guch. XUI. 24 Digitized by Google 2 Saner-, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. Ihre Hände strekten! wie es brandte — 135 Im Gelübde, oft zu betten — Heeder Herz! Nun, mein Vater! höre, was ich bitte; Ruf ihm oft ins Herz, vor deinen Tron zu gehn: Wann der Sturm einst droht, die Wooge rauscht um seine Tritte, 0 so mahne ihn, zu dir zu flehn. 140 Wann im Kampf ihm einst die Arme sinken, Bang nach Rettung seine Blike um sich sehu, Die Vernunft verirrte Wünsche lenken; 0 so mahne ihn dein Geist, zu dir zu flehn. 12. Wenn er einst mit unverdorbner Seele 146 Unter Menschen irret, wo Verderber spähn, Und ihm süßlich scheint der Pesthanch dieser Schlangenböhle, O! so mahne ihn, zu dir zu flehn. Gott! wir gehn auf schwerem, steilem Pfade, Tausend fallen, wo noch zehen aufrecht stehn, — 160 Gott! so leite ihn mit deiner Gnade, Mahn ihn oft durch deinen Geist, zu dir zu flehn. 0! und sie im frommen Silberhaare, Der so heiß der Kinder FreudentrHne rinnt Die so groß zurükblikt auf so viele schöne Jahre, 166 Die so gut, so liebevoll mich Enkel nennt, Die, o lieber Vater! deine Gnade Führte durch so manches muhe Distelnfeld, Durch so manche dunkle Dornenpfade — Die jezt froh die Palme hoft, die sie erhält — 160 13. Laß, o laß sie lange noch genießen Ihrer Jahre lohnende Erinnerung Laß uns alle jeden Augenblik ihr süßen , Streben, so wie sie, nach Heiligung. Ohne diese wird dich niemand sehen, 105 Ohne diese trift uns kein Gericht; Heiige mich! sonst muß' ich draußen stehen, Wann die Meinen schaun dein heilig' Angesicht. Ja! uns alle laß einander finden, Wo mit Freuden erudten, die mit Tränen säen, 170 Wo wir mit Eloah unser Jubellied verbinden, Ewig, ewig seelig vor dir stehn. 0! so ende bald, du Bahn der Leiden! 161 leite] salbe zuerst. 159 dunkle] trübe zuerst. Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. Rinne eilig, rinne eilig, Pilgerzeit! Himmel! schon empfind' ich sie, die Freuden — Deine — Wiedersehen froher Ewigkeit! S. 15. [2.] Die Demuth. 1788. Hört, größre, edlere der Schwabensöhne! Die ihr vor keinem Doniiniksgesicht Euch krümmet, welchen keine Dirnentrane Das winzige, geschwächte Herzchen bricht Hört, größre, edlere der Schwabensöhne! In welchen noch das Kleinod Freiheit pocht, Die ihr euch keines reichen Ahnherrn Miene, Und keiner Fürstenlaune unterjocht. Geschlecht von oben! Vaterlandeskronen ! Nur euch bewahre Gott vor Uebermuth! 0! Brüder! der Gedanke soll nns lohneu, In Hermann braußte kein Despotenblut. S. 16. Beweinenswürdig ist des Stolzen Ende — Wann er die Grube seiner Größe gräbt, Doch fürchterlich sind seine Heukershände, Wanu er sich glüklich über andre hebt. Drum größre, edlere der Schwabensöhne Laßt Demiith, Demuth euer erstes sein, Wie sehr das Herz nach Außenglanz sich sehne Laßt Demuth, Demuth euer erstes seiu. Viel sind und schön des stillen Mannes Freuden Und stürmten auch auf ihn der Leiden viel, Er bükt gen Himmel unter seinen Leiden, Beneidet nie des Lachens Possenspiel. Sein feurigster, sein erster Wunsch auf Erden Ist allen, allen Menschen nüzlich sein Und wann sie froh durch seine Thaten werden, Dann will der edle ihres Danks sich freun. S. 17. 0! Demuth, Demuth! Laß uns all dich lieben, Du bists, die uns zu einem Bund vereint, In welchem gute Herzen nie sich trüben, In welchem nie bedrängte Unschuld weint. 11 uns] euch zuerst. 364 Sauer, uogedruckte Dichtungen Hölderlins. Vor allen, welchen Gott ein Herz gegeben Das groß und königlich, und feurig ist Die in Gefahren nur vor Freude beben, Für Tugend selbst auf einem Blutgerüst Vor allen , allen , solche Schwabensöhne 0 solche, Detnuth, solche führe du Aus jeder bäu'rischstolzen Narrenbuhne Den stillen Reihen jenes Bundes zu. S. 18. [3.] Die Stille. 1788. Die du schon mein Koabenherz entzüktest, Welcher schori die Knabenträne floß, Die du früh dem Lärm der Thören mich entrüktest, Besser mich zu bilden, nahmst in Mutterschoos, Dein, du Sanfte! Freundin aller Lieben! Dein, du Immertreue! sei raein Lied! Treu bist du in Sturm und Sonnenschein geblieben, Bleibst mir treu, wenn einst mich alles, alles flieht Jene Ruhe — jene Himmels wonne — O ich wußte nicht, wie mir geschah, Wann so oft in stiller Pracht die Abendsonne, Durch den dunklen Wald zu mir heruntersah — Du, o du nur hattest ausgegoßen Jene Ruhe in des Knaben Sinn, Jene Himmelswonne ist aus dir gefloßen, Hehre Stille! holde Freudengeberin ! S. 19. Dein war sie, die Träne, die im Haine Auf den abgepflükten Erdbeerstrauß Mir entfiel — mit dir ging ich im Mondenscheine Dann zurück ins liebe elterliche Haus. Fernher sah ich schon die Kerzen schimmern, Schon wars Suppenzeit — ich eilte nicht! Spähte stillen Lächelns nach des Kirchhofs Wimmern, Nach dem dreigefüßteu Roß am Hochgericht. 18 abgepfükten Manuscript. 21-24 JauUn zuerst: Ferne sah ich seine Kerze flimmern, Hörte läuten — doch ich eilte nicht; Dachte nicht die Sappe, nicht des Kirchhofs Wimmern Nicht das dreigefdßte Roß am Hochgericht Ssuier, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. 36f> War ich endlich staubigt angekommen, 25 Theilt" ich erst den welken Erdbeerstraus, Rühmend, mit wie saurer Müh' ich ihn bekommen, Unter meine dankende Geschwister aus; Nahm dann eilig, was vom Abendessen An Kartoffeln mir noch übrig war, 30 Schlich mich in der Stille, wenn ich satt gegessen, Weg von meinem lustigen Geschwisterpaar. S. 20. 0! in meines kleinen Stubchens Stille War mir dann so über alles wohl, . Wie im Tempel, war mirs iu der Nächte Hülle 36 Wann so einsam von dem Thurm die Glocke scholl. Alles schwieg und schlief, ich wacht' alleiue; Endlich wiegte mich die Stille ein, Und von meinem dunklen Erdbeerhaine Träumt' ich, und vom Gang im stillen Mondenschein. 40 Als ich weggerißen von den Meinen Aus dem lieben elterlichen Haus Unter Fremden irrte, wo ich nimmer weinen Durfte: in das bunte Weltgewirr hinaus; 0 wie pflegtest du den armen Jungen, 46 Teure, so mit Mutterzärtlichkeit, Wann er sich im Weltgewirre müdgerungen, In der lieben, wehmuths vollen Einsamkeit. S. 21. Als mir nach dem wärmern, vollem Herzen Feuriger izt stürzte Junglingsblut; 60 0! wie Schweigtest du oft ungestüme Schmerzen, Stärktest du den Schwachen oft mit neuen Muth. Jezt belausch' ich oft in deiner Hütte Meinen Schlachtenstürmer Ossian, Schwebe oft in schimmernder Seraphen Mitte 55 Mit dem Säuger Gottes, Klopstok, himmelan. Gott! und wann durch stille Schattenheken Mir mein Mädchen in die Arme fliegt, Und die Hasel, ihre Liebenden zu dekeu, Siorglich ihre grüne Zweige um uns schmiegt — 60 30 NB. Erdbeer am Bande. Nach Vers 60 folgt die eingeklammerte Strophe: Wann durchs dichte, einsame Gesträuche Kein verdächtger, falscher Fußtritt rauscht, In den Weiden an dem waldumkränzten Teiche Kein verhaßter loser Lacher uns belauscht — Digitized by Google 366 Sauer, ungedrncktc Dichtungen Hölderlins. S. 22. Waun im ganzen seegensvollen Thale Alles dann so stille, stille ist, Und die Freudenträne, hell im Abend strale, Schweigend mir mein Mädchen von der Wange wischt — Oder wann in friedlichen Gefilden 65 Mir mein Herzensfreund zur Soite geht, Und mich ganz dem edlen Jüngling nachzubilden Einzig vor der Seele der Gedanke steht — Und wir bei den kleinen Kümmernißen Uns so sorglich in* die Augen sehn , 70 Wann so sparsam öfters, und so abgerißcu Uns die Worte von der ernsten Lippe gchn. Schön, o schön sind sie! die stille Freuden, Die der Thoren wilder Lärm nicht kennt, Schöner noch die stille, gottergebne Leiden 75 Waun die fromme Träne von dem Auge rinnt! S. 23. Drum, wenn Stürme einst den Mann umgeben, Nimmer ihn der Jugendsinn belebt, Schwarze Unglückswolken drohend ihn umschweben, Ihm die Sorge Furchen in die Stirne gräbt; 80 0 so reiße ihn aus dem Getümmel, Hülle ihn in deine Schatten ein! 0! in deinen Schatten, Theure! wohnt der Himmel, Ruhig wirds bei ihnen unter Stürmen sein. Und wann einst nach tausend trüben 8tunden 85 Sich mein graues Haupt zur Erde neigt, Und das Herz sich matt gekämpft an tausend Wunden Und des Lebens Last den schwachen Nacken beugt: O so leite mich mit deinem Stabe — Harren will ich auf ihn hingebeugt 00 Biß in dem willkommnen, ruhevollon Grabe Aller Sturm und aller Lärm der Thoren schweigt. 69 72 lauten zuerst: Und so sparsam mir bei ihm die Worte Abgebrochen von der Lippe gehn Und wir lehnend uns an unsers Kloßters Pforte Uns verstehend — heitrer in die Augen sehn - — 87 Mattgekämpft das Herz sich hat an tausend Wunden zuerst. Digitized by Google Sauer, ungedrnckte Dichtungen Hölderlins. 367 8. 24. [4.J Schwärmerei. 1788. Freunde! Freunde! wenn er heute käme Heute mich aus unserm Bunde nähme Jener lezte große Augenblik — Wann der frohe Puls so plözlich stünde Und verworren Freundesstimme tonte, 5 Und, ein Nebel, mich umschwebte, Erdeuglük. Ua! so plözlich Lebewohl zu sagen All den lieben schöndurchlebten Tagen — Doch — ich glaube — nein! ich bebte nicht! „Freunde! spräch' ich, dort auf jenen Höhen lo „Werden wir uns alle wiedersehen, „Freunde! wo ein schöurer Tag die Wolken bricht S. 25. „Aber Stella! fem ist deine Hütte, „Nahe rauschen schon des Würgers Tritte — „Stella! meine Stella! weine nicht! 15 „Nur noch einmal möcht' ich sie umarmen, „Sterben dann in meiner Stella Armen, „Eile, Stella! eile, eh' das Auge bricht - „Aber ferne, ferne deine Hütte „Nahe rauschen schon des Würgers Tritte — 20 „Freunde! bringet meine Lieder ihr. „Lieber Gott! ein großer Mann zu werden „War so oft mein Wunsch, mein Traum auf Erden „Aber — Brüder — größre Rollen winken mir. „Traurt ihr, Brüder! daß so weggeschwunden 25 „AU' der Zukunft scböngeträumte Stunden „Alle, alle meine llofnungen! „Daß die Erde meinen Leichnam deket „Eh' ich mir ein Denkmal aufgesteket „Und der Enkel nimmer denkt des Schlummernden. 30 S. 26. „Daß er kalt an meinem Leichensteine „Stehet, und des modernden Gebeine „Keines Jüuglings stiller Seegen grüßt, „Daß auf meines Grabes Rosenheken „Auf den Liljen, die den Moder deken „Keines Mädchens herzergoßne Träne fließt „Daß von Männern, die vorüberwallen, „Nicht dio Worte in die Gruft erschallen, „Jüngling! Du entschlummertest zu früh! „Daß den Kleinen keine Silbergreise 35 40 Digitized by Google 368 Sauer, nnged rockte Dichtungen Hölderlins. „Sagen au dem Ziel der Lebensreise, „Kinder! mein und jenes Grab vergeßet nie! „Daß sie mir so grausam weggeschwunden, „All der Zukunft langersehnte Stunden „AU der frohen Hofnung Seeligkeit * 46 „Daß die schönste Träume dieser Erden „Hin sind, ewig niemals wahr zu werden, „Hin die Träume von Unsterblichkeit. S. 27. „Aber weg! in diesem todten Honen „Bluten meiner armen Stella Schmerzen, 50 „Folge! folge mir, Verlaßene! „Wie du starr an meinem Grabe stehest „Und um Tod, um Tod zum Himmel flehest! „Stella! komm! es harret dein der Schlummernde. „0 an deiner Seite! 0 so ende, 65 „Jammerstand! vieleicht, daß unsre Hände „Die Verwesung in einander legt! „Da wo keine schwane Neider spähen „Da wo keine Splitterrichter schmähen „Träumen wir vieleicht, bis die Posaun' uns wekt. 60 „Sprechen wird an unserm Leichensteine .„Dann der JQngling — schlummernde Gebeine! „Liebe Todte! schön war euer Loos! „Hand in Hand entfloht ihr eurem Kummer, „Heilig ist der langverfolgten Schlummer 65 „In der kühlen Erde mütterlichen Schoos. S. 28. „Und mit Liljen und mit Rosenheken „Wird das Mädchen unsern Hügel deken, „Ahndungsvoll an unsern Gräbern stehn, „Zu den Schlummernden hinab sich denken, 70 „Mit gefaltnen Händen niedersinken, „Und um dieser Todten Loos zum Himmel flehn. „Und von Vätern, die vorüber walleu „Wird der Seegen über uns erschallen — „Ruhet wohl! ihr seid der Ruhe werth! 75 „Gott! wie nmgs im Tod den Vätern bangen, „Die ein Kiud in Quälerhäude zwangen, „Ruhet wohl! ihr hubt uns Zärtlichkeit gelehrt. 44 langersehnte] ethöngeträumte zuerst. Digitized by Googl Sauer, tingedruckte Dichtungen Hölderlins. 369 8. 36. [5.J An meine Freundinnen. 1787. *) Mädchen! die ihr mein Herz, die ihr mein Schiksaal kennt, Und das Auge, das oft Tränen im Thale weint In den Stunden des Elends — Diß mein tranrendes Auge saht! In der Stille der Nacht denket an euch mein Lied, 5 Wo mein ewiger Gram jeglichen Stundenschlag Welcher näher mich bringt dem Trauten Grabe, mit Dank begrüßt. Aber daß ich mein Herz redlich und treu, und rein Im Gewirre der Welt, unter den Lästerern 10 Treu und rein es behielt, ist Himmelswonne dem Leidenden. S. 36. Mädchen! bleibet auch ihr redlich und rein und treu! Gute Seelen! Vielleicht wartet auf euch [ein] Loos, Das dem meinigen gleicht. Dann lö Stärkt im Leiden auch euch mein Trost. [G.J Mein Vorsaz. 1787. *) 0 Freunde! Freunde! die ihr so treu mich liebt, Was trübet meine einsame Blike so? Was zwingt mein armes Herz in diese Wolkenumnacbtete TodtenatilleV Ich fliehe euren zärtlichen Händedruk, 6 Den seelenvollen seeligen Bruderkuß. 0 zürnt mir nicht, daß ich ihn fliehe! Schaut niir ins Innerste! prüft und richtet! — S. 37. Ists heißer Durst nach Männervollkommenheit? Ists leises Geizen um Hekatombenlohn? 10 Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? ists Kämpfendes Streben nach Klopstoksgröße? Ach Freunde! welcher Winkel der Erde kan Mich deken, daß ich ewig in Nacht gehült Dort weine? — Ich erreich ihn nie den 15 Weltenumeilenden Flug der Großen. 1) 1787 ist aus 1786 gebessert. 2) A: Eine Reinschrift mit Hölderlins Unterschrift. B: Das oben beschriebene Heß. b : die in B durchstricliencn Lesarten. 3 Was zwingt mir bo die Seel' in diese b 4 Senfzende, tinaterc b 8 Aber! [zuerst: Brüder!] ich kan nicht! ich kan nicht! Brüder! b 10 l«t B um] nach b 11 Ist B 16 Weltenumwogenden b [früher: Schönen er- habenen zuerst: Sonnenbenacbbarten]. Digitized by Google 870 Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlin*. Doch nein! hinan den herrlichen Ehrenpfad! Hinan! hinan! im glühenden kühnen Traum, Sie zu erreichen! Muß ich einst auch Sterbend noch stammeln — vergeßt mich, Kinder! 20 8. 38. [7.J An meinen B[ilfinger]. 1786. Freund! wo über das Thal schauerlich Wald und Fels HerhUngt, wo das Gefild leise die ErmB durchschleicht, Und das Reh des Gebürges Stolz an ihrem Gestade geht. Wo im Knabengelok heiter und unschuldsvoll 5 Wen'ge Stunden mir einst l&chelnd vorüberflohn — Dort sind Hütten des Seegens, Freund! du kennest die Hütten auch; S. 39. Dort am schattichten Hain wandelt Amalia Seegne, seegne mein Lied, kränze die Harfe mir 10 Denn sie nannte den Nahmen • Den, du weists, des Getümmels Ohr Nicht zu kennen verdient. Stille, der Tugend nur Und der Freundschaft bekannt, wandelt die Gute dort. Liebes Mädchen, es trübe 15 Nie dein himmlisches Auge sich. S. 40. [8.] Hero. 1788. Lange schlummern ruhig all' die Meinen Stille atmet durch die Mitternacht; Auf den! Hero! auf und laß das Weinen! Dank euch Götter! Heros Muth erwacht. Fort ans Meer! ans Meer! es schäume die Welle, 5 Brause der Sturm mir immer ins Angesicht! Fort ans Meer! ohn' ihn ist Alles Hölle — Liebe ängstigt mich arme — Sturm und Welle nicht. |7.] 3 Und] Wo zuerst. 4 Ungestört in der Kühle liegt [später: schläft] zuerst. Nach Vers 5 folgt die eingeklammerte Strophe: Wo vom moosigten Fels stille Erhabenheit Auf die friedliche Flur, wo nu der Väter Zeit Helme klangen, und Schilde, Ernst und düster her unter bükt. U Dort am schattichten Haiu, unter dem ernsten FeU zuerst. 10 Wan- delt Lotte im Thal. [Später: Wandelt Amalia] Seegne die Saite mir, zuerst. 13 f. der Tugend bekannt, Und der sanfteren Lust, wandelt zuerst. [8.J 7 Alles] überall zuerst. Digitized by Google Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlin». 371 Ruhig will ich da hinüberlauschen Wo sein Hütgen über Felsen hängt 10 Rufen will ichs in der Wooge Rauschen Wie sein Zaudern seine Hero kränkt. Ha! da wird er sich mutig von seinem Gestade Stürzen, Poseidons Kraft ihm Liebe verleihn, Lieb' ihn leiten des Meeres furchtbare Pfade. 15 Götter! wie wird — wie wird uns wieder seinV S. 41. (sie komt ans Meer) Aber Himmel! — wie hoch die Woogen schäumen! So hätt' ich den Sturm mir nicht gedacht. Weh! wie sie dräuend gegen mein Ufer sich bäumen! Stärkt mich, Götter, in dieser ernsten Nacht! — Nein! mir banget nicht um Tod und Leben — Todt und Leben, wie das SchikBaal will! Liebe besieget die Schreken, die um mich schweben Schlangengezisch, und Skorpionen, uud LöwengebrülL Jüngling! sieben solche Schrekennächte Harr' ich deiner, zager Jüngling, schon, Wenn mein Jüngling meiner Angst gedächte, 0! er sprach' Orkanen und Woogen Hohn. Oder hätt' er den furchtbaren Eid gebrochen, Spottet er meiner im Arm der Bulerinn — Ha! so bin ich so leicht, so schön gerochen, Leicht und schön gerochen — ich sterbe um ihn. S. 42. Aber weg von mir! Du Donnergedanke! Weg, da« flüsterte mir die Hölle zu, Daß mein Jüngling, mein Leander wanke, 36 Nein! Geliebter! Bleibe, bleibe du! Wann ich dich in diesen Woogen dächte , Deinen Pfad so schröklich ungewiß, Nein! ich will einsam durchirren die Schrekennächte, Dein zu harren, Geliebter, ist ja schon so süß. 40 Aber horch! — o Himmel! — diese Töne — Warlich! es waren des Sturmes Töne nicht — Bist dus? — oder spielt die Narrenscene Täuschend mit mir ein grausames Traumgesicht V Götter! Da ruft es ja wieder Hero! herüber, 4f> Flüstert ja wieder die Stimme der Liebe mir her — Auf! zu ihm, zu ihm in die Woogen hinüber, Wenn er ermattete — auf dem Geliebten entgegen ins Meer. 10 Wo vom Ufer seine Lampe blinkt zuerst. 20 25 30 Digitized by Google 372 Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderline. S. 43. Sieh! wie im Tanze, stürz ich zu dir vom Gestade, Liebe soll mir Poseidons Kraft verleihn, 50 Liebe mich leiten des Meeres furchtbare Pfade — Götter! Götter! wie wird uns wieder sein! Kämpfend über den Woogen will ich ihn drüken, Drüken au Brust und Lippe mit Todesgefahr, Ha! und sink ich, so träumet mein Entzüken 55 Noch im Abgrund fort, wie schön die Stunde war. Aber Götter! was seh' ich? meinem Gestade Schon so nahe? — Gesiegt! mein Held hat gesiegt! Siehe! er schwebet verachtend die furchtbare Pfade Mutig einher vom Meere gefällig gewiegt. 60 (freudig) Ha! er soll mich suchen — da will ich lauschen Hinter diesem Felsen — (leise) Götter! wie schön! Wie die weise Arme durch die Welle rauschen Ach! so sehnend, so strebend nach Heros Ufer hin. S. 44. Aber Grauen des Orkus! Sterbegewimmer! 65 Grauen des Orkus! Dort dem Felsen zu! Wie? — so kenn ich diese Todentrümmer! . Wehe! wehe also siegtest du? — Aber weg! ihr höllische Schrekengesichte! Täuschende Furien! weg! er ist es nicht! 70 So zerschmettern nicht der Götter Gerichte — (sie hält ihre Leuchte über den Todten hin) Aber dieses Lächeln auf dem Todengesicht — Kenst dus? Hero! kenst dus? — Nimmer, nimmer Spricht das Tode Lächeln Liebe dir — (sie weint heftig) Engelsauge! so iet erloschen dein Schimmer — 75 ßliktest einst so heiße Liebe mir. Jüngling! erweken dich nicht der Geliebten Tränen? m Nicht die blutige Umarmungen? .Jüngling! Jüngling! diese Todesmienen — Wehe! sie töden mich! wehe! diese Zukungen. 80 S. 45. Und er dacht in seiner Todesstunde, In der Kämpfe furchtbarstem noch dein — Hero! stammelt' er noch mit sterbeudem Munde — Und so schröklich muß sein Ende sein? Ha! und diese Liebe Uberleben — 85 Ohne diesen Toden in der Welt — Weg! vor dem wird Hero nicht erbeben, Der zu diesem Toden die Einsame geselt. Wenig kurze schrökende Sekunden — Und du sinkst an deines Jünglings Brust, 90 Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. 373 Und du hast ihn auf ewig wiedergefunden Ewig umlächelt von hoher Elisiumslust — — (Pause) Ha! ich habe gesiegt! an des Orkus Pforte Anzuklopfen — nein! ich bin nicht zu schwach! Hero! Hero! rief er, Götterworte! 95 Stärkt mich! stärkt durchs dunkle mich! ich folge nach. S. 46. [9.] Auf einer Haide geschrieben. 1787. Wohl mir! daß ich den Schwann der Thoren nimmer erblike, Daß jezt unumwolkter der Blick zu den Lüften emporschaut Freier atmet die Brust, denn in den Mauren des Elends, Und den Winkelu des Trugs. O! schöne, seelige Stunde! Wie getrennte Geliebte nach lang entbehrter Umarmung 5 In die Arme sich stürzen, so eilt' ich herauf auf die Haide, Mir ein Fest zu bereiten auf meiner einsamen Haide. Und ich habe sie wieder gefunden, die stille Freuden Alle wieder gefunden, und meine schattigten Eichen Stehn noch eben so königlich da, umdämmern die Haide io Noch in alten statüchen Reih'n die schattigten Eichen Jedesmal wandelt an meinen tausendjährigen Eichen Mit entblößtem Haupt der Jäger vorUber, denu also Heischet die ländliche Sage, denn unter den statüchen Reihen Schlummern schon lange, gefallene Helden der eisernen Vorzeit Aber horch! was rauschet herauf im schwarzen Gebüsche? 16 Bleibe ferne! Störer des Sängers! — aber siehe, Siehe! — wie herrlich! wie groß! ein bochgeweihetes Hirschheer S. 47. Wandelt langsam vorüber— hinab nach der Quelle des Thaies — 0 ! jezt kenn ich mich wieder, der menschenhaßende Trübsinn 20 Ist so ganz, so ganz aus meinem Herzen verschwunden. Wär' ich doch ewig ferne von diesen Mauren des Elends, Diesen Mauren des Trugs! — Es blinken der Riesenpalläste Schimmernde Dächer herauf, unddieSpizen der alternden Türme Wo so einzeln stehn die Buchen und Eichen; Es tönet 26 Dumpf vom Tale herauf das höfische Waagengoraßel Und der Huf der prangenden Roße Höflinge! bleibet, Bleibet immerhin in eurem Waagengeraßel , Bükt euch tief auf den Narrenbühnen der Riesenpalläste, Bleibet immerhin! — Und ihr, ihr edlere, kommet! 30 Edle Greise und Männer, und edle Jünglinge, kommet! Laßt uns Hütten baun — des ächten germanischen Mannsins Und der Freundschaft Hütteu auf meiner einsamen Haide. Digitized by Google 374 Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. S. 48. [10.] Die Tek. 1788. Ach! so hab' ich noch die Traubeuhügel erstiegen Ehe der leuchtende Stral an der güldenen Ferne hinabsinkt. Und wie wohl ist mir! Ich strok' im stolzen Gefühle — Als umschlänge mein Arm das Unendliche — auf zu den Wolken Meine gefaltete Hände, zu danken im edlen Gefühle — 6 Daß er ein Herz mir gab, dem SchafFer der edlen Gefühle Mich mit den Frohen zu freuen, zu schauen den herbstlichen Jubel, Wie sie die köstliche Traube mit heiterstaunendem Blike Ueber sich halten , und lange noch zaudern, die glänzende Beere In des Kelterers Hände zu geben — wie der gerührte 10 Silberlokigte Greis an der abgeerndteten Rebe K (iniglich froh zum herbstlichen Mahlesich seztmitden Kleinen 0! und zn ihnen spricht aus der Fülle des dankenden Herzens Kinder! am Seegen des Herrn ist alles, alles gelegen — — Mich mit den Frohen zu freuen zu schauen den herbstlichen Jubel 15 War ich herauf von den Hütten der gastlichen Freundschaft gegangen. Aber siehe! allmächtig reißen mich hin in ernste Bewundrung Gegenüber die waldigte Riesengebirge. -- Laß mich vergeßen Laß mich deine Lust, du faltigte Rebe, vergeßen, Daß ich mit voller Seele sie schaue die Riesengebirge! . 20 S. 49. Ha! wie jenes so königlich über die Brüder emporragt! Tek ist sein Nähme. Da klangen einst Harnische, Schwerder ertönten Eisern waren und groß und bieder seine Bewohner. Mit dem kommenden Tag stand über den moosigten Mauren In der ehernen Rüstung der Fürst, sein Gebirge zu schauen 25 Mein diß Riesengebirge — so stolz — so königlich herrlich — ? Sprach er mit ernsterer Stirne, mit hohem, denkendein Auge — Mein die trozende Felsen? Die tausendjährige Eichen? Ha! und ich? — und ich? — Bald wäre mein Harnisch gerostet O! der Schande! mein Harnisch gerostet in diesem Gebirge. 80 Aber ich schwör' — ich schwör', ich meide mein Riesengebirge, Fliehe mein Weib, verlaße das blaue redliche Auge, Biß ich dreimal gesiegt im Kampfe des Bluts und der Ehre. Trage mich mein Roß zu deutscher statlicher Fehde Oder wider der Christenfeinde wütende Säbel — 35 Biß ich dreimal gesiegt, verlaß' ich das stolze Gebirge. Unerträglich! stärker als ich, die trozende Felsen, 1 Ach so hab ich noch das Rebengebirge erstiegen früher; Ach! ich habe die herrliche Rebenberge erstiegen zuerst. 28 trozende] ewige zuerst. Digitized by Google Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderliu*. 375 Ewiger, als mein Nähme, die tausendjährige Eichen! Biß ich dreimal gesiegt, verlaß' ich das stolze Gebirge. Und er gieng und schlug, der feurige Fürst des Gebirges. 40 S. 50. Ja! so erheben die Seele, so reißen sie sie in Bewundrung Diese felsigte Mitternachtswälder, so allerschotternd Ist sie, die Stunde, da ganz es fühlen, dem Herzen vergönnt ist. — Bringet ihn her, den frechen Spötter der heilsamen Wahrheit, 0! und kommet die Stunde, wie wird er staunen, und sprechen: 45 Warlich! ein Gott, ein Gott bat dieses Gebirge geschaffen. Bringet sie her, des Auslands häßlich gekünstelte Affen Bringet sie her, die hirnlos hüpfende Puppen, zu schauen Dieses Riesengebirge so einfach schön, so erhaben; 0 und kommet die Stunde, wie werden die Knaben erröten, 60 Daß sie Gottes herrlichstes Werk so elend verzerren. — Bringet sie her der deutschen Biedersitte Verächter, Uebernachtet mit ihnen, wo Moder und Disteln die graue Trümmer der fürstlichen Mauern der stolzen Pforten bedeken. Wo der Eule Geheul, und des Uhus Todtengewimmer 55 Ihnen eutgegenruft aus schwarzen, sumpfig ton Höhlen. Wehe! wehe! so flüstern im Sturme die Geister der Vorzeit Ausgetilget aus Suevia redliche biedere Sitte! Ritterwort, und Rittergrus, und traulicher Handschlag! — Laßt euch mahnen, Suevias Söhne! die Trümmer der Vorzeit! 60 Laßt sie euch mahnen! Einst standen sie hoch die gefallene Trümmer, S 51. Aber ausgetilget ward der trauliche Handschlag, Ausgetilget das eiserne Wort, da sanken sie gerne, Gerne hin in den Staub, zu beweinen Suevias Söhne. Laßt sie euch mahnen, Suevias Söhne! die Trümmer der Vorzeit! 65 Beben werden sie dann der Biedersitte Verächter, Und noch lange sie seufzen — die fallverkündende Worte — Ausgetilget aus Suevia redliche biedere Sitte! Aber nein! nicht ausgetilget ist biedere Sitte Nicht ganz ausgetilget aus Suevias friedlichen Landen 70 0 mein Thal! mein Tekbenach hartes Thal! — ich verlaße Mein Gebirge, zu schauen im Tale die Hütten der Freundschaft, Wie sie von Linden umkränzt bescheiden die rauchende Dächer Aus den Fluren erheben, die Hütten der biederen Freuudschaft. 0 ihr, die ihr fem und nahe mich liebet, Geliebte! 75 Wärt ihr um mich, ich drükte so warm euch die Hände, Geliebte! Jezt, o! jezt über all' den Lieblichkeiten des Abends. Schellend kehren zurük von schattigten Triften die Heerden, 66 Beben] Staunen zuerst. Digitized by Google 376 Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. Und fürs dritte Gras der Wiesen im Herbste noch fruchtbar, Schneidend geklopfet ertönt des Mähers blinkende Sense. 80 Traulich summen benachbarte Abendglocken zusammen, S. 62. Und es spielet der fröliche Junge dem lauschenden Madchen Zwischen den Lippen mit Birnbaumblättern ein scherzendes Liedchen Hütten der Freundschaft der Seegen des Herrn sei über euch allen Aber indeßen hat mein hehres Riesengebirge 85 Sein gepriesenes Haupt in nächtliche Nebel verhüllet, Und ich kehre zurük in die Hütten der biederen Freundschaft. [11.] Am Tage der Freundschaftsfeier. 1788. Ihr Freunde! mein Wunsch ist Helden zu singen, Meiner Harfe erster Laut, Glaubt es, ihr Freunde! Durchschleich' ich schon so stille mein Tal, Flammt schon mein Auge nicht feuriger, 6 Meiner Harfe erster Laut War Kriegergeschrei und Schlachtengetümmel. S. 53. Ich sah, Brüder! ich sah, Im Schlachtengetümmel das Roß Auf röchelnden Leichnamen stolpern, 10 Und zuken am sprudelnden Rumpf Den grausen gespaltenen Schädel, Und blizen und treffen das rauchende Schwerd, Und dampfen und schmettern die Donnergeschüze, Und Reuter hin auf Lanzen gebeugt 15 Mit grimmiger Miene Reuter sich stürzen Und unbeweglich, wie eherne Mauren Mit furchtbarer Stille Und Tod verhöhnender Ruhe Den Reutern entgegen sich streken die Lanzen. 20 Ich sah, Brüder! ich sah Des kriegrischen Suezias eiserne Söhne Geschlagen von Pultawas wütender Schlacht, Kein wehe! sprachen die Krieger Von den blutig gebißnen Lippen 25 Ertönte kein Lebewohl — S. 54. Verstummet standen sie da In wilder Verzweiflung da Und blikten es an das rauchende Schwerd 82 lauschenden] horchenden zuerst. Digitized by Google Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. Und schwangen es höher das rauchende Schwerd, Und zielten — und zielten — Und stießen es sich bitterlächelnd In die wilde braußende Brust. Noch vieles will ich sehen, Ha! vieles noch! vieles noch! Noch sehen Gustavs Schwerdschlag Noch sehen Eugenius Siegerfaust Doch möcht ich, Brüder! zuvor In euren Armen ausruh'n, Dann schweb' ich wieder mutiger aut, Zu sehen Gustavs Schwerdschlag, Zu sehen Eugenius Siegerfaust. Willkommen du! — Und du! — Wilkommen! Wir drei sinds: Nun! so schließet die Halle. S. 55. Ihr staunt, mit Rosen bestreut Die Tische zu sehen, und Weirauch Am Fenster dampfend, Und meine Laren — Den Schatten meiner Stella, Und Klopstoks Bild und Wielands, — Mit Blumen umhängt zu sehen. Ich wolt' in meiner Halle Chöre versammeln Von singenden rosichten Mädchen Und Kränze tragenden blühenden Knaben, Und euch empfangen mit Saitenspiel, Und Flötenklang, und Hörnern, und HoboPn. Doch — schwur ich nicht, ihr Freunde Am Mahle bei unsers Fürsten Fest, Nur Einen Tag mit Saiteuspiel Und Flötenklang, und Hörnern und Hoboln, Mit Chören von singenden rosichten Mädchen, Und kränzetragenden blühenden Knaben Nur Einen Tag zu feiren? S. 56. Den Tag, an dem ein Weiser Und biedere Jünglinge, Und deutsche Mädchen Zu meiner Harfe sprächen, Du tönst uns Harfe lieblich ins Ohr, Und hauchst uns Edelmuth, Und hauchst uns Sanftmath in die Seele. Archiv f. Litt.-Gbscii. XIII. 25 378 Saaer, ungedruckte Dichtungen Hölderlins. Aber heute, Brüder! 0, kommt in meine Arme! Wir feiern das Feßt 76 Der Freundschaft heute. Als jüngst zum erste[n]mal wieder Der Mäher des Morgens die Wiese Entkleidete, und der Heugeruch Jezt wieder zum erstenmal 80 Durchduftete mein Tal. Da war es Brüder! 0 da war es! S. 57. Da schloßen wir unsern Bund, Den schönen, seeligen, ewigen Bund. 85 Ihr hörtet so oft mich sprechen, Wie lang1 es mir werde Bei diesem Geschlechte zu wohnen, Ihr sähet den Lebensmüden In den Stunden seiner Klage so oft. 90 Da stürmt* ich hinaus in den Sturm Da sah' ich aus der vorüberjagenden Wolke Die Helden der eisernen Tage herunterschau'n. Da rief ich den Nahmen der Helden In des hohlen Felsen finsters Geklüft, 95 Und sihe! Der Helden Nahmen Rief ernster mir zurük Des hohlen Felsen finstres Geklüft. Da stolpert' ich hin auf dornigten Trümmern Und drang durchs Schlehengebüsch in den alternden Turm 100 Und lehnte mich hin an die schwärzliche Wände Und sprach mit schwärmendem Auge an ihm hinauf: Si 58. Ihr Reste der Vorzeit. Euch hat ein nervigter Arm gebaut, Sonst hätte der Sturm die Wände gespalten 105 Der Winter den moosigten Wipfel gebeugt; Da solten Greise um sich Die Knaben und Mädchen versammlen Und küßeu die moosigte Schwelle, Und sprechen — seid wie eure Väter! HO Aber an euren steinernen Wänden Rauschet dorrendes Gras herab, In euren Wölbungen hangt Zerrißnes Spinnengewebe — Digitized by Google Saoer, Tingedruckte Dichtungen Hölderlins. 379 Warum, ihr Reste der Vorzeit 116 Den Fäusten des Sturmes trozen, den Zahnen des Winters. 0 Brüder! Brüder! Da weinte der Schwärmer blutige Tränen, Auf die Disteln des Turmes, Daß er vieleicht noch lange 120 Verweilen müße unter diesem Geschlechte, Da sah' er all' die Schande Der weichlichen Teutonsstihne, S. 69. Und fluchte dem verderblichen Ausland, Und fluchte den verdorbnen Affen des Auslands, 126 Und weinte blutige Tränen, Daß er vieleicht noch lange Verweilen müße unter diesem Geschlechte. Doch siehe es kam Der seelige Tag — 130 0 Brüder in meine Arme! — 0 Brüder, da schloßen wir unsern Bund, Den schönen, seeligen, ewigen Bund! Da fand ich Herzen, — Brüder in meine Arme! — 135 Da fand ich eure Herzen. Jezt wohn' ich gerne Unter diesem Geschlechte, Jezt weide der Thoren Immermehr! immermehr! 140 Ich habe eure Herzen. Und nun — ich dachte bei mir An jetiem Tage, S. 60. Wann zum erstenmal wieder Des Schnitters Sichel 146 Durch die goldene Aehren rauscht; So feir' ich ihn, den seeligen Tag. Und nun — es rauschet zum erstenmal wieder Des Schnitters Sichel durch die goldne Saat, Jezt laßt uns feiren, 160 Laßt uns feiren In meiner Halle den seeligen Tag. Es warten jezt in euren Armen Der Freuden so vief auf mich, 0 Brüder! Brüder! 166 Der edlen Freuden so viole. 26* Digitized by Google 380 Sauer, angedruckte Dichtungen Hölderlins. I Und hab' ich dann ausgeruht In euren Armen , 80 6chweb' ich mutiger auf, Zu schauen Gustavs Schwerdschlag 160 Zu schauen Eugenius Siegesfaust 2. Die älteste Fassung des Hyperion. Ebenfalls aus Wilhelm Kttnzels handschriftlichen Schätzen bin ich in der Lage das folgende Fragment zu ver- öffentlichen, das einen interessanten Einblick in die Ent- stehungsgeschichte des Hölderlinischcn Romans gewahrt Da das Manuscript gerade einen Bogen füllt und uns im Flusse des zweiten Capitels verlässt, so ist gegründete Hoffnung vorhanden, dass sich noch weitere Blätter desselben in Auto- graphensammlungen vorfinden worden. S. 1. Hyperions Jugend Erster Theil herausgegeben von Friedrich Hölderliu. 3. Erstes Kapitel. In den Jahren der Mündigkeit, wenn der Mensch vom gltik- • liehen Instincte sich losgerissen hat, und der Geist seine Herrschaft beginnt, ist er gewöhnlich nicht sehr geneigt, den Grazien zu opfern. Ich war ernster und freier geworden in der Schule des Schik- saals und der Weisen, aber streng ohne Maas, in vollem Sinne tyrannisch gegen die Natur, wiewohl ohne die Schuld meiner Schule. Der gänzliche Unglaube, womit ich alles aufnahm, lies keine Liebe in mir gedeihen. Der reine freie Geist, glaubt ich , könne sich nie mit den Sinnen und ihrer Welt versöhnen. Ich kämpfte überall mit dem Vernunftlosen, mehr, um mir das Gefühl der Ueberlegenheit zu erbeuten, als um den regellosen Kräften, die des Menschen Brust bewegen, die schöne Einigkeit mitzutheilen, deren sie föhig sind. Stolz schlug ich die Hülfe aus, womit uns die Natur in jedem Ge- schäfte des Bildens entgegenkömmt, die Bereitwilligkeit, womit der Stoff dem Geiste sich hingiebt; ich wollte zähmen und zwingen. Ich richtete mit Argwohn und Härte mich und andre. Für die stillen Melodien des Lebens, für das Häusliche und Kindliche hatt' ich den Sinn beinahe ganz verloren. 4. Einst hatte Homer mein junges Herz so ganz gewonnen; auch | von ihm und seinen Göttern war ich abgefallen. Ich reiste und wünscht' oft ewig fort zu reisen. Digitized by Google Sauer, ungedruckte Dichtungen Hölderline. 381 Da hört ich einst von einem guten1) Manne, der seit kurzem ein nahes Landhaus bewohne, und ohne sein Bemühn recht wunder- bar sich aller Herzen bemeistert habe, der kleineren, wie der größern, der meisten freilich, weil er fremd8) und freundlich wäre, doch wären auch einige, die seinen Geist verständen3) ahndeten. Ich gieng hinaus, den4) Mann zu sprechen. Ich traf ihn in seinem Pappel walde. Er saß an einer Statue, und ein lieblicher Knabe stand vor ihm. Lächelnd streichelt' er diesem die Loken aus der Stirne, und schien mit Schmerz und Wohlgefallen das holde Wesen zu betrachten, das so ganz frei und traulich dem königlichen Mann' in's Auge sah. Ich stand von fern und ruhte auf meinem Stabe; doch da er sich umwandte, und sich erhub, und mir entgegentrat, da wider- stand5) ich6) dem neuen Zauber, der mich umfieng, mit Mühe, daß ich mir den Geist frei erhielt, doch stärkte mich auch wieder die Ruhe und Freundlichkeit des Mannes. — Und wie ich wohl die Menschen fände auf meinen Wandrungen, fragt' er mich nach einer Weile. Mehr thierisch, als göttlich, versezt' ich hart und strenge, wie ich war! 0 wenn sie nur erst menschlich wären, erwiedert' er mit Ernst und Liebe. Ich bat ihn, sich darüber zu er klären. 5. Es ist wahr, begann er nun, das Maas ist gränzenlos, woran der Geist des Menschen die Dinge mißt, und so soll es seyn! wir sollen es rein und heilig bewahren, das Ideal von allem, was erscheint, der Trieb in uns, das Ungebildete nach dem Göttlichen in uns zu bilden, und die widerstrebende Natur dem Geiste, der in uns herrscht , zu unterwerfen er soll nie auf halbem Wege sich be- gnügen; doch um so ermüdender ist auch der Kampf, um so mehr ist zu furchten, daß nicht der blutige Streiter die Götterwaffen im Unmuth von sich7) werffe dem Schicksaal sich gefangen gebe die Vernunft verläugne, und zum Thiere werde, oder auch, erbittert vom Widerstande, verheere, wo er schonen sollte, das friedliche mit dem feindlichen vertilge, die Natur aus roher Kampflust bekämpfe, nicht um des Friedens willen, seine Menschlichkeit verläugne, jedes schuld- lose Bedürfnis zerstöre, das mit andern Geistern ihn vereinigte, ach! daß die Welt um ihn zu einer Wüste werde, und er zu Grunde gehe in seiner finstern Einsamkeit. Ich war betroffen; auch er schien bewegt. Wir können es nicht verläugnen, fuhr er wieder erheitert fort, 1) zuerst: weisen. 2) und schön gestrichen. 3) und gestr ichen. 4) seltnen gestrichen. 5) wisterdand Manuscript. 6) kaum gestrichen. 7) ferne gestrichen. Digitized by Google 382 Sauer, angedruckte Dichtungen HölderlinB. wir reebnen selbst im Kampfe mit der Natur auf ihre Willigkeit. Wie sollten wir niebt? Begegnet nicht in allem, was da ist, uns rem Geiste ein freundlicher verwandter Geist? und birgt sich nicht, 6. indeß er die Waffen gegen | uns kehrt, ein guter Meister hinter dem Schilde? — Nenn' ihn, wie du willst! Er ist derselbe. — Verborgnen Sinn enthalt das Schöne. Deute sein Lächeln dir! Denn so erscheint vor uns der Geist, der unsern Geist nicht einsam laßt. Im Kleinsten offenbart das Gröste sich. Das hohe Urbild aller Einig- keit, es begegnet uns in den friedlichen Bewegungen des Herzens, es stellt sich hier, im Angesichte dieses Kindes dar. — Hörtest da nie die Melodien des Schiksaals rauschen? — Seine Dissonanzen bedeuten dasselbe. Du denkst wohl, ich spreche jugendlich. Ich weis es ist Be- dürfnis, was uns drängt, der ewigwechselnden Natur Verwandtschaft mit dem Unsterblichen in uns zu geben. Doch dieß Bedürfnis giebt uns auch das Recht. Es ist die Schranke der Endlichkeit, worauf der Glaube sich gründet; deswegen ist er allgemein, in allem, was sich endlich fühlt Ich sagt' ihm, daß es mir sonderbar gienge mit dem, was er gesagt; es sei so fremdartig mit meiner bisherigen Denkart, und doch scheine mir es so natürlich, als wfir es bis jezt mein einziger Gedanke gewesen. So kann ich ja wohl noch mehr wagen, rief er traut und heiter, doch erinnre mich zu rechter Zeit! — Als unser Geist, fuhr er lächelnd fort, sich aus dem freien Fluge der 7. Himmlischen verlor und sich erdwärts neig te vom Aether, als der Ueberfluß mit der Armuth sich gattete, da ward die Liebe. Das geschah am Tage, da Aphrodite geboren ward. Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens. Wären wir einst mangellos und frei von aller Schranke gewesen,1) umsonst hätteu wir doch nicht die Allgenügsamkeit verloren, das Vorrecht reiner Geister. Wir tauschten das Gefühl des Lebens, das liebste Bewußtseyn*) für die leidensfreie Ruhe der Götter ein. Denke, wenn es möglich ist, den reinen Geist! Er befaßt sich mit dem Stoffe nicht; drum lebt auch keine Welt für ihn; für ihn geht keine Sonne auf und unter; er ist alles, und darum ist er nichts für sich. Er entbehrt nicht, weil er nicht wünschen kann; er leidet nicht, denn er lebt nicht. — Verzeih mir den Gedanken! er ist auch nur Ge- danke und nichts mehr. — Nun fühlen wir die Schranken unsers Wesens, und die gehemmte Kraft sträubt sich ungeduldig gegen die Feßeln und der Geist sehnt sich zum ungetrübten Aether zurück. Doch ist in uns auch wieder etwas, das die Fesseln gerne trägt; denn würde der Geist von keinem Widerstande beschränkt, wir fühlten uns und andre nicht Sich aber nicht zu fühlen, ist der Tod. Die Armuth der Endlichkeit ist unzertrennlich in uns vereiniget mit dem 1) so gestrichen. 2) tauschten wir gestrichen. Digitized by Google Sauer, uligedruckte Dichtungen Hölderlins. 383 Ueberfluße der Göttlichkeit. Wir können | den Trieb uns auszu- 8. breiten, zu befreien, nie verläagnen; das wäre thierisch. Doch können wir auch des Triebs beschrankt zu werden, zu empfangen, nicht stolz uns überheben. Denn es wäre nicht menschlich, und wir tödteten uns selbst. Den Widerstreit der Triebe, deren keiner entbehrlich ist, vereiniget die Liebe, die Tochter des Ueberflußes und der Armuth. Dem Höchsten und Besten ringt unendlich die Liebe nach, ihr Blik geht aufwärts und das Vollendete ist ihr Ziel, denn ihr Vater, der Ueberfluß, ist göttlichen Geschlechts. Doch pflükt sie auch die Beere von den Dornen, und sammelt Aehren auf dem Stoppelfelde des Lebens, und wenn ihr ein freundlich Wesen einen Trank am sch wühlen Tage reicht, verschmähet sie nicht den irrdenen Krug, denn ihre Mutter ist die Dürftigkeit. — Groß und rein und unbezwinglich sei der Geist des Menschen in seinen Forderungen, er beuge nie sich der Naturgewalt! Doch acht' er auch der Hülfe, wenn sie schon vom Sinnenlande kömmt, verkenne nie, was edel ist im sterblichen Ge- wände, stimmt hie und da nach ihrer eignen Weise die Natur in seine Töne, so schäm' er sich nicht der freundlichen Gespielin! Wenn deine Pflicht ein feurig Herz begleitet, verschmähe den rüstigen Ge- fährten nicht! Wenn dem Geistigen in dir die Phantasie ein Zeichen erschafft, und goldne Wolken den Aether des Gedankenreichs um- ziehn, bestürme nicht die freudigen Gestalten! Wenn dir als Schön- 9. heit entgegen kömmt, was du als Wahrheit in dir trägst, so nehm' es dankbar auf, denn du bedarfst der Hülfe der Natur. Doch erhalte den Geist dir frei! Verliere nie dich selbst! Für diesen Verlust entschädiget kein Himmel dich. Vergiß dich nicht im Gefühle der Dürftigkeit! Die Liebe, die den Adel ihres Vaters verläugnet, und immer außer sich ist, wie mannigfaltig irrt sie nicht, und doch wie leicht! Wie kann sie den Reichtum, den sie tief im Innersten bewahrt in sich erkennen? So reich sie ist, 60 dürftig dünkt1) sie sich. Sie trügt der Armuth schmerzliches Gefühl, und füllt den Himmel mit ihrem Ueberfluß an. Mit ihrer eignen Herrlichkeit veredelt sie die Vergangenheit; wie ein Gestirn durchwandelt sie die Nacht der Zu- kunft mit ihren Stralen, und ahndet nicht, daß nur von ihr die neilige8) Dämmerung ausgeht, die ihr entgegen kömmt In ihr ist nichts, und außer ihr ist alles. Ihre Männlichkeit ist hin. Sie hoft und glaubt nur; und trauert nur daß sie noch da ist, um ihr nichts zu fühlen, und möchte lieber in das Heilige verwandelt seyn, das ihr vorschwebt. Aber sie fühlt sich so ferne von ihm; die Fülle des Göttlichen ist zu gränzenlos, um von ihrer Dürftigkeit umfaßt zu werden. Wunderbar! vor ihrer eignen Herrlichkeit erschrikt sie. Laß ihr das Unsichtbare sichtbar werden! es erschein' ihr im Ge- 1) zuerst: fühlt. 2) zuerst: holde. Digitized by Google 384 Sauer, angedruckte Dichtungen Hölderlins. wände des Frühlings! es lächl' ihr vom Menschenangesichte zu! 10. Wie | ist sie nun so seelig! Was so fern ihr war ist nahe nun, und ihresgleichen, und die Vollendung, die sie an der Zeiten Ende nur dunkel ahndete, ist da. Ihr ganzes Wesen trachtet das Gött- liche, das ihr so nah ist, sich nun recht innig zu vergegenwärtigen, und seiner, als ihres Eigenthums bewußt zu werden. Sie ahndet nicht, daß es verschwinden wird im Augenblike, da 6ie es umfaßt, daß der unendliche Reichtum zu nichts wird, so wie sie ihn sich zu eigeu machen will. In ihrem Schmerze verläßt sie das Geliebte, hängt sich dann oft ohne Wahl an dieß und das im Leben, immer hoffend und immer getäuscht; oft kehrt sie auch in ihre Ideenwelt zurük; mit bittrer Reue nimmt sie oft den Reichtum zurük, wo- mit sie sonst die Welt verherrlichte, wird stolz, haßt und verachtet nun; oft tödtet sie der Schmerz der ersten Täuschung ganz, dann irrt der Mensch ohne Heimath umher, mtid' und hofnungslos, und scheint ruhig, denn er lebt nicht mehr. Sie sind unendlich die Ver- irrungen der Liebe. Doch überall möcht' ich ihr sagen: verstehe das Gefühl der Dürftigkeit, und denke, daß der Adel deines Wesens im Schmerze nur sich offenbaren kann! Kein Uandelu, kein Ge- danke reicht,